Gulmorod Chalimow, „Kriegsminister“ und die Nummer 2 des „Islamischen Staates“ (IS), ist ein ehemaliger tadschikischer Offizier. Unter den letzten Verteidigern des IS befinden sich zahlreiche Tadschiken. Doch warum schließen sich viele tadschikische Bürger der Terrororganisation an? Das Nachrichtenportal Fergana-News unternimmt einen Erklärungsversuch. Wir übernehmen den Artikel in gekürzter Fassung.
Im Norden Syriens liefen noch vor kurzem die Operationen, um die letzten Enklaven des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) zu zerschlagen. Im Irak wurden die letzten vom IS kontrollierten Gebiete laut offiziellen Angaben bereits im Dezember 2017 befreit. 2014 hatte der Terroristenführer Abu-Bakr Bagdadi in diesen Gebieten die Gründung des Islamischen Staates – des sogenannten Kalifats – ausgerufen und sich selbst zum Kalifen ernannt. Danach strömten massenweise radikale Islamisten aus der ganzen Welt in das vom IS kontrollierte Territorium.
Seit 2016 ließ sich ein verstärkter Zustrom von Tadschiken beobachten. Oberst Gulmorod Chalimow, ehemaliger Kommandeur der Spezialeinheit von Duschanbes Polizei, lief zum IS über und wurde dessen „Kriegsminister“ und somit die Nummer 2 hinter Bagdadi. Unter den Verteidigern des letzten IS-Bollwerk Baghuz in Syrien waren etliche Tadschiken.
Nicht zu fassen oder tot
Die bekanntesten Tadschiken in Reihen des IS sind vor allem zwei Personen: der schon erwähnte „Kriegsminister“ Chalimow sowie Todschiddin Nasarow, der auch unter seinem arabischen Kampfnamen Abu-Osama Noraki bekannt ist. Kürzlich veröffentlichten russische Medien Ermittlungsergebnisse des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) zu geplanten Anschlägen in Moskau und Umgebung in den Jahren 2016 und 2017. Laut diesen Daten planten zwei Terrorzellen, bestehend aus tadschikischen, russischen und armenischen Staatsangehörigen, mehrere Anschläge, unter anderem auf die Moskauer Ringbahn und ein Einkaufszentrum. Das ideologische Mastermind dieser Terroristen war Noraki, der über Messenger-Dienste beide Gruppen aus der Ferne leitete.
Außerdem schreibt sich Noraki die Organisation zweier Terrorakte in Schweden und Tadschikistan zu. Im April 2017 kontaktierte er den in Schweden lebenden usbekischen Staatsabgehörigen Rachmat Akilow und überzeugte ihn, mit einem Lieferwagen in eine Menschenmenge im Zentrum von Stockholm zu fahren. Während der Attacke, bei der er fünf Menschen tötete und 15 weitere schwer verletzte, hielt Akilow Kontakt zu seinem Anstifter und schickte ihm online Videos der Tat. Im Sommer 2018 verurteilte ein schwedisches Gericht den Terroristen zu lebenslanger Haft.
Laut einer Version der Ereignisse war es namentlich Noraki, dem es aus der Ferne gelang eine Gruppe seiner Landsleute im Alter von 18 bis 22 Jahren anzuwerben, welche im Juli letzen Jahres in der Region Dangara in Tadschikistan eine Gruppe ausländischer Radtouristen angriff. Vier TouristInnen aus den USA, den Niederlanden und der Schweiz wurden getötet, drei weitere wurden schwer verletzt. Der IS bekannte sich zu der Tat. Tadschikische Sicherheitsbehörden hingegen beschuldigen die im Land verbotene Partei der islamischen Wiedergeburt (PIWT) hinter der Attacke zu stehen. Wer auch immer hinter dem Anschlag steht: Noraki ist für die Geheimdienste bislang nicht zu fassen.
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Mehrmals verbreiteten verschiedene Staaten, die an den Operationen gegen den IS in Syrien und im Irak beteiligt sind, Informationen über den Tod des übergelaufenen Oberst Chalimow. Dennoch gibt es bis heute keine bestätigten Angaben über seine Liquidierung. Chalimow war laut Angaben amerikanischer und irakischer Geheimdienste der Hauptorganisator der Verteidigung von Mossul gegen die Anti-Terror-Koalition. Anfangs rechnete die Koalition damit, Mossul innerhalb weniger Wochen zu befreien. Allerdings zogen sich die Kämpfe schließlich neun Monate hin. Laut irakischen Militärs waren die aus Tadschiken bestehenden Verbände der Terroristen besonders professionell vorbereitet. Die Altstadt von Mossul, die das letzte Rückzugsgebiet der Terroristen in der Stadt war, wurde durch Luftschläge und Artillerie fast komplett zerstört. Anglich kam dabei auch Chalimow ums Leben. Die Aufräumarbeiten in Mossuls Altstadt dauern noch an. Weiterhin werden dort Körper der Gefallenen gefunden.
Laut einer Quelle von Fergana-News hingegen ist Chalimow am Leben und befindet sich möglicherweise auf dem Territorium der afghanischen Provinz Badachschan. Der übergelaufene Oberst soll sich im Kreis Mundschon, etwa 80 Kilometer von der tadschikischen Grenze entfernt aufhalten. Er habe dort ein paar Dutzend Anhänger, von denen einige aus Syrien geflohene Kämpfer seien, zu denen aber auch 15 Angehörige der Gruppe „Alpha“ des Staatlichen Komitees für Nationale Sicherheit Tadschikistans zählen sollen. Letztere sollen 2017 in den Bezirk Ischkoschim abkommandiert worden sein, von wo aus sie die Grenze überquerten und sich Chalimow anschlossen.
„Diese Tatsache wurde nicht breit kommuniziert, sie ist aber real“, sagt die Quelle. Sie merkt an, dass Emissäre Chalimows, getarnt als Händler, schon in die autonome Provinz Berg-Badachschan in Tadschikistan eingedrungen seien, um dort die Situation zu beobachten und den Boden für die Rekrutierung neuer Anhänger zu bereiten.
Hunderte fuhren, Dutzende kehrten zurück
Im November 2018 teilte das Komitee für Nationale Sicherheit Tadschikistans mit, dass in den letzten Jahren ungefähr 1900 tadschikische Staatsangehörige nach Syrien und in den Irak ausgereist seien, um an Kampfhandlungen auf Seiten des IS teilzunehmen. Mehr als 1700 von ihnen sind zur Fahndung ausgeschrieben. Unter ihnen seien auch Frauen, Kinder, Eltern und andere Verwandte der Kämpfer.
Obwohl seit 2016 Russland, die USA, die Türkei, der Iran und einige europäische Staaten sich aktiv an den Kampfhandlungen gegen den IS in Syrien und dem Irak beteiligten, und sich das von den Terroristen kontrollierte Gebiet kontinuierlich verkleinerte, versuchten einige BürgerInnen Tadschikistans – teils mit Erfolg, teils ohne – sich den Terroristen anzuschließen. So wurde Anfang 2018 eine aus 29 Mitgliedern bestehende Familie von der Türkei an Tadschikistan ausgeliefert. Sie versuchte in drei Bussen nach Syrien, auf das von den Terroristen kontrollierte Gebiet zu gelangen. Im Frühling vergangenen Jahres begann der Prozess gegen die Familienmitglieder. Auf der Anklagebank befanden sich eine 70-jährige Frau, ihr 44-jähriger Sohn, ihre Tochter, die Schwiegertochter und der Schwiegersohn.
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Nachdem die tadschikischen Behörden denjenigen, die sich den Terroristen anschlossen, dies aber bereuen und sich zur Rückkehr entschlossen haben, Amnestie gewähren, begannen ehemalige Kämpfer und ihre Familienmitglieder nach Tadschikistan zurückzukehren. Seit Anfang 2018 sind 163 reumütige Mitglieder von Terrorgruppen freiwillig in ihre Heimat zurückgekehrt.
Das Problem liegt aber nicht in der Amnestie ehemaliger Kämpfer, sondern in der fortdauernden Radikalisierung tadschikischer BürgerInnen.
Gründe für die Radikalisierung
Darüber, dass die tadschikische Staatsmacht selbst die Radikalisierung der Bevölkerung und dabei insbesondere der Jugend provoziert, schrieb Fergana-News schon Anfang 2014, als der IS noch nicht von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Zu den Faktoren, die Radikalisierungen herbeiführten, zählt unter anderem auch das „Gesetz über die Religion“ aus dem Jahr 2009. Mit diesem Gesetz wurden äußerst strenge Anforderungen für die Registrierung aller religiösen Gruppen eingeführt. Nichtregistrierte religiöse Betätigung und privater Religionsunterricht wurden als Straftatbestände klassifiziert und die Anzahl und Größe von Moscheen streng begrenzt. Außerdem erlaubt das „Gesetz über die Verantwortung der Eltern“ aus dem Jahr 2011 die Teilnahme von Minderjährigen an jedweder organisierten religiösen Betätigung nur in offiziellen Instituten. Frauen und jungen Leuten unter 18 Jahren ist es momentan untersagt Moscheen zu besuchen. Es ist klar, dass unter den Bedingungen einer permanenten wirtschaftlichen Krise in Tadschikistan der steigende staatliche Druck auf die Jugend und andere unzufriedenen BürgerInnen dazu führt, dass sich diese mit jenen solidarisieren, die am meisten unterdrückt werden. So kommt es dazu, dass sich in der tadschikischen Gesellschaft ein stabiles Anwachsen jener feststellen lässt, die die Lösung ihrer Probleme in übermäßiger Religiosität sehen.
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Eine neue Welle der Radikalisierung folgte nach der Rebellion des stellvertretenden Verteidigungsministers Generalmajor Abduhalim Nasarsoda (bekannt als Chodscha Halim) im Herbst 2015. In der Folge wurde die oppositionelle Partei der Islamischen Wiedergeburt Tadschikistans verboten. Jedoch wurde die Partei nicht bloßverboten, sondern ihre Mitglieder sahen sich staatlicher Repression ausgesetzt.
Die Zentralasienspezialisten Edward Lemon und John Heathershaw meinen, dass die „Verlagerung und Isolierung junger Migranten und der Export von Repression seitens der Herkunftsländer die Antworten liefern, warum Zentralasien „Terrorismus exportiert“. Allerdings ist es wichtig anzumerken, dass über dieses Phänomen wenig bekannt und es eher selten ist. Die in diesem Bereich durchgeführten Forschungen sind unzureichend, viele von ihnen sind veraltet. Das einzige, was wir jetzt sagen können, ist, dass radikale Ideen für diese Leute ein Symptom sind – und nicht der Grund dafür Ihre Sinnsuche mit terroristischer Gewalt zu lösen.“
„Das, was mit diesen Leuten im transnationalen Migrationsraum passiert, ist wichtiger als die Ursachen, die in Zentralasien liegen. Es ist notwendig herauszufinden was genau in ihrem Leben außerhalb Zentralasiens passiert ist, bevor man erklärt, warum diese Region Extremismus exportiert“, schließen Lemon und Heathershaw.
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Ihrer Meinung nach erfolgt die Radikalisierung tadschikischer Migranten auch, weil die Sicherheitsorgane ihres Landes begonnen haben, sogar im Ausland eine aktive Repressionspolitik durchzuführen. „Die Analyse von Datenbanken politischer Opponenten im Ausland bestätigt, dass der staatliche Sicherheitsdienst Tadschikistans […] bei seinen Tätigkeiten im Ausland immer aktiver und grausamer agiert. Dies kann dazu führen, dass isolierte Gruppen junger Männer sich zu extremistischen Organisationen vereinigen, um Wiederstand zu leisten“, zeigen die Forscher.
Es ist bemerkenswert, dass etwa nicht die an Afghanistan grenzenden Regionen Tadschikistans am Stärksten von Radikalisierung betroffen sind, obwohl man meinen könnte, dass sich hierhin die extremistische Ideologie der Taliban am leichtesten exportieren lassen würde. So zeigt Radio Osodi anhand von Daten des Zentrums für Strategische Studien (ZSI), dass es in allen vier Provinzen des Landes „Hotspots“ gibt, in denen sich besonders viele Menschen sich dem IS anschließen.
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Die ExpertInnen des ZSI zeigen außerdem, dass Korruption und Bürokratismus seitens regionaler Beamter die wesentlichen Gründe für Radikalisierung sind. Beide Phänomene grassieren weiterhin. Es gibt also kaum einen Grund zu Optimismus in Bezug auf die Zukunft des Landes.
Aleksandr Rybin für Fergana-News
Aus dem Russischen von Robin Roth
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