Der Status der russischen Sprache führt in Kirgistan regelmäßig zu gesellschaftlichen Debatten. Das sprachliche Erbe Russlands fällt im ganzen Land ins Auge, aber der offizielle Platz der Sprache Puschkins steht immer wieder in Frage.
Kirgistan ist ein mehrsprachiger Staat: Kirgisisch ist die nationale Sprache und Russisch ist als offizielle Sprache zweite Verwaltungssprache. Innerhalb Zentralasiens gilt das auch noch für Kasachstan. Kirgisisch wird in einem mit drei Extrabuchstaben versehenen kyrillischen Alphabet geschrieben.
In Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan hat Russisch nicht mehr den Status einer Amtssprache, bleibt aber die bevorzugte Sprache für die Kommunikation zwischen verschiedenen Volksgruppen. Dies ist in Usbekistan zum Beispiel auch in dem Gesetz über die Regierungssprache festgehalten.
Russisch: Amts- und Kommunikationssprache
Laut den 2011 von der Bischkeker OSZE-Akademie erhobenen Daten sind 76 Prozent der kirgisischen Bürger in erster Linie kirgisischsprachig, 44 Prozent russischsprachig. Eine weitere Besonderheit des jungen mehrsprachigen Landes: für 16 Prozent der Bürger Kirgistans ist Usbekisch die erste Sprache.
Die Frage um den Status des Russischen bleibt aber ein gesellschaftliches Streitthema. Wo manche sich im Falle einer Aberkennung der Rolle als Amtssprache um eine Verschlimmerung der Beziehungen zu Russland sorgen, wollen andere eben dadurch die Unabhängigkeit der jungen zentralasiatischen Republik betonen.
Neben der Frage nach dem Status sorgen auch Vorschläge Kirgisisch statt mit kyrillischem mit lateinischem Alphabet zu schreiben für gegensätzliche Reaktionen. Solche Vorschläge werden meist von Personen aus der Zivilgesellschaft oder einflussreichen öffentlichen Persönlichkeiten eingebracht, bisher jedoch von den verschiedenen Regierungen zurückgewiesen.
Ein unumstrittener Status in der Sowjetunion
Dass heutige Kirgistan war bereits vor der Oktoberrevolution von 1917 Teil des Russischen Reichs und es gab seit 1876 Bestrebungen zur Russifizierung der Bevölkerung. Paradoxerweise hat die Gründung der Sowjetunion erstmals eine relative Entwicklung der kirgisischen Sprache im Land ermöglicht. Im Jahr 1924 sahen die sowjetischen Behörden vor, die Sprache in einem modifizierten arabischen Alphabet zu schreiben. Das Vorhaben wurde aber schnell aufgegeben und nach 1928 wurde kirgisisch in lateinischer Schrift geschrieben und in den jungen lokalen sowjetischen Behörden verbreitet.
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Einen weiteren Umbruch brachte das Jahr 1938, als russisch zur Pflichtsprache in allen sowjetischen Schulen wurde. In dem Jahr wurde auch ein leicht modifiziertes kyrillisches Alphabet für die kirgisische Sprache eingeführt. Dieses Alphabet wird bis heute angewendet.
In der gesamten Sowjetzeit war Russisch aber bei weitem die dominierende Sprache in Medien, Alltag, offiziellen Dokumenten oder etwa Verträgen.
Eine relative Russifizierung
Dennoch ist die Abhängigkeit vom Russischen in der kirgisischen Sowjetrepublik zu relativieren. Die Städte und städtischen Räume in Kirgistan waren zwar so gut wie vollständig russischsprachig, die ländlichen Gebiete wurden aber von Anfang an nicht ganz von der großflächigen Russifizierung geprägt. Dieser bereits zu Sowjetzeiten bestehende sprachliche Graben ist auch heute noch zu bemerken.
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Die Dominanz des Russischen hat auch innerhalb der kirgisischen Bevölkerung zu einem gewissen Desinteresse geführt die eigene Sprache zu lernen. Während eine gute Kenntnis des Russischen zum Symbol für wirtschaftlichen und sozialen Erfolg wurde, verlor die kirgisische Sprache ihren Reiz, zumindest bis zu den Reformen von Michail Gorbatschow ab 1985.
Die Perestroika bot den kirgisischen Behörden mehr Freiräume, um eine Form der nationalen Autonomie zu fordern. Im Jahr 1989 wurde das Kirgisische per Gesetz zur einzigen nationalen Sprache der kirgisischen Sowjetrepublik. Der umstrittene Schritt bewog einige ethnische Russen zur Emigration.
Trotz Unabhängigkeitsbestrebungen das Russische wahren
Als Kirgistan durch das Ende der Sowjetunion unabhängig wurde und Askar Akajew zum ersten Präsidenten gewählt wurde, stellte sich die Frage der russischen Sprache erneut. Akajew, zwar ein starker Befürworter der kirgisischen Sprache, machte Russisch im Jahr 2000 wieder zur Amtssprache. Die Reform sei notwendig, um gute Beziehungen zu Russland und den anderen zentralasiatischen Ländern zu wahren, so der damalige Präsident.
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Auch Akajews Nachfolger Kurmanbek Bakijew, der nach der Tulpenrevolution 2005 an die Macht kam, stellte diesen Status nicht in Frage. Unter Bakijew wurde aber ein Gesetzesentwurf zum Streitthema, der vorsah, alle offiziellen Dokumente in beide Sprachen zu übersetzen. Der Präsident war der Ansicht, das Land verfüge nicht über ausreichend Ressourcen, um eine solche systematische Übersetzung zu gewährleisten.
Laut Bakijew sollte jeder kirgisische Bürger Russisch können, denn ohne solche Sprachkenntnisse könnte man nicht in Russland oder Kasachstan arbeiten. Tatsächlich war und ist Kirgistan stark abhängig von den Rücküberweisungen seiner Arbeitsmigranten.
So haben alle vier ersten Präsidenten Kirgistans, von Akajew bis Almasbek Atambajew, trotz ihrer vielen Meinungsverschiedenheiten den Status der russischen Sprache nie wirklich in Frage gestellt. Eher sprachen sie sich allgemein für einen Erhalt des russischen als Amtssprache aus.
So auch 2013, als Abgeordnete einen Gesetzesvorschlag einbrachten, der Geldstrafen für Beamten vorsah, die kein Kirgisisch können. Atambajew, der von 2011 bis 2017 amtierte, weigerte sich, das Gesetz zu unterschreiben. Auch er verwies auf die mangelnden Ressourcen im Land und auf die Notwendigkeit, gute Beziehungen zu Russland zu wahren.
Der Status als Amtssprache in Frage
Dieser Status quo könnte sich bald ändern. In einer Erklärung auf einer Bildungskonferenz der Gemeinschaft Unabhängiger Staten (GUS) am 11. Oktober betonte der aktuelle kirgisische Präsident Sooronbaj Dscheenbekow, alle Bürger Kirgistans sollten kirgisischen können. Eine Reform ist jedoch nicht in Sicht und auch Dscheenbekow sprach sich für die Mehsprachigkeit im Land aus.
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Neben dem Präsidenten sorgen sich auch Personen aus der Zivilgesellschaft um die mangelnde Kenntnis des Kirgisischen in Kirgistan und die ewige Abhängigkeit von Russland. „Der Status des russischen als offizielle Sprache gibt ihm einen Vorteil. Heutzutage werden die meisten Sitzungen im Land auf Russisch gehalten. Russisch dominiert auch weiterhin in den Schulen. Die Lage kann sich nur ändern, wenn Russisch seinen Status verliert“, erklärte die Schriftstellerin und Journalistin Kalen Sydykowa im September 2016.
Auch Sadyk Scher-Nijas, Regisseur und Abgeordneter der Partei Ata-Meken („Vaterland“) fordert die Aberkennung des Status der russischen Sprache: „Unser Volk wird in fünfzig Jahren seine eigene Sprache vergessen haben. Das Kirgisische könnte tatsächlich verschwinden. Was tun wir dagegen? Wir brauchen IT-Programme auf Kirgisisch, öffentliche Sitzungen auf Kirgisisch und zusätzlichen Unterricht in den Schulen!“.
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Es ist zu früh um zu sagen, ob sich die bisherige Sprachenpolitik unter dem im Oktober 2017 gewählten Präsidenten Dscheenbekow ändern wird. Die gesellschaftliche Debatte bleibt jedenfalls weiter aktiv.
Die meisten sind sich einig, dass die Kenntnis des Russischen unentbehrlich ist. Dabei sehen aber manche Bürger und Politiker in der Aberkennung seines offiziellen Status den einzigen Weg, um die Unabhängigkeit des Landes zu garantieren und das Kirgisische vor dem Verschwinden zu bewahren.
Jamil Orozov und Jérémy Lonjon
Novastan.org, Bischkek
Aus dem Französischen von Florian Coppenrath
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