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Wie Usbekistan zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs für Juden aus der UdSSR zum gelobten Land wurde

In den USA wurden die Dreharbeiten für den Dokumentarfilm “Der letzte Sommer der Kindheit” beendet, in dem es um die Evakuierung von Juden nach Usbekistan während des Zweiten Weltkriegs geht. Wjatscheslaw Schatochin sammelt das Material für diesen Film schon sein ganzes Leben. Der folgende Artikel erschien im Original auf Center-1. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Wjatscheslaw Schatochin (Foto: Privat)

In den USA wurden die Dreharbeiten für den Dokumentarfilm “Der letzte Sommer der Kindheit” beendet, in dem es um die Evakuierung von Juden nach Usbekistan während des Zweiten Weltkriegs geht. Wjatscheslaw Schatochin sammelt das Material für diesen Film schon sein ganzes Leben. Der folgende Artikel erschien im Original auf Center-1. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Wjatscheslaw Schatochin stammt aus Taschkent: Seine Großmutter und Mutter verließen Poltawa unter deutschen Bombenangriffen. Schatochin und Filmregisseur Nabi Rasakow zeigen die Evakuierung von Juden nach Usbekistan in den Jahren 1941-1943 ohne zu beschönigen. Die Hauptdarsteller des Films sind Kinder, die vor Konzentrationslagern und dem unvermeidlichen Tod während der Besatzung gerettet wurden. Die Usbeken teilten das letzte Stück Brot mit den Flüchtlingen und kein einziges Kind wurde ins Waisenhaus geschickt.

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Das Ziel des 56-jährigen Schatochin ist es, mit den Stimmen von Hunderten noch lebender Zeugen den Usbeken für das gerettete Leben seiner Mutter und Großmutter zu danken. Schatochin absolvierte die Rechtsschule in Taschkent und arbeitete bei der Staatsanwaltschaft. Jetzt ist er Polizist in New York. Außerdem schreibt er zusammen mit Leonid Teruschkin, dem Leiter des Archivs des Moskauer Holocaust-Zentrums Moskau, ein Buch über die Evakuierung seines Volkes während des Krieges.

Was hat Sie dazu veranlasst, das Thema der Evakuierung von Juden nach Usbekistan anzugehen?

Die Geschichte der Familie meiner Mutter,  Sofia Nasarowna Chotimljanska (geb. 1930), die noch als Kind nach Usbekistan gebracht wurde. Fünf Frauen und ein Mann, die Familie meiner Großmutter und ihre Schwestern, flohen aus Poltawa.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass sie zuerst in die Stadt Kamyschlow im Swerdlowsker Gebiet evakuiert wurden. Einheimische bewarfen das Gebäude mit Pflastersteinen. Die Familie beschloss deswegen nach Usbekistan zu gehen. Sie kamen zuerst in Taschkent an, später wurden sie nach Fergana umverteilt. In Usbekistan war die Einstellung gegenüber Flüchtlingen völlig anders: Die Einwohner teilten das letzte, was sie hatten. Das Schicksal meiner Mutter veranlasste mich Augenzeugenberichte zu sammeln.

Aus den Erinnerungen von Wjatscheslaw’s Mutter:

“Meine Mutter, Marija Naumowna Chotimljanskaja, ist wegen der Bombadierungen aus Poltawa mit zwei Kindern geflohen. Alles war verlassen und zerstört. Sie nahm nur zwei Koffer und Handgepäck mit. Nach einem schwierigen Weg kamen sie in Taschkent an. Mein Vater ging zur Miliz und verteidigte Poltawa. Er wurde getötet und in einem Massengrab begraben. Darüber steht eine Denkmal-Stele. Meine Mutter erinnerte sich oft an ihren Heimatort. Sie wurde Witwe mit 41 Jahren und heiratete nie wieder. Sie blieb meinem Vater treu bis zum Ende ihrer Tage. Sie arbeitete hart. Sie brach nie. Sie schaffte es, ihre Töchter großzuziehen und ihnen eine bessere Ausbildung und mehr Chancen im Leben zu ermöglichen“

Schatochin und seine Mutter Sofia

Wie viele Juden wurden insgesamt nach Usbekistan evakuiert?

Im Jahr 1941 lebten 4,5 Millionen Menschen in Usbekistan, und während der Kriegsjahre nahm die Republik anderthalb Millionen Evakuierte auf, von denen etwa 250.000 aschkenasische Juden aus der Ukraine, Belarus, Russland, Moldawien und Polen waren.

In der Familie des berühmten Schmieds Schaachmed Schamachmudow, der 14 Waisen adoptierte, wuchsen auch zwei jüdische Kinder auf. Die meisten Kinder wurden von großen usbekischen Familien angenommen und kein Adoptivkind wurde später ins Waisenhaus zurückgebracht. Der Grad der Gastfreundschaft zeigt sich auch daran, dass viele Menschen nach der Evakuierung in Usbekistan blieben, auch die Familie meiner Mutter.

Wie haben Sie Ihre Helden gefunden?

Menschen, die die Evakuierung überlebten, sind auf der ganzen Welt verstreut. Ich hatte es sehr eilig, ihre Zeugnisse noch zu Lebzeiten zu bekommen. Aber unser Film hat ein begrenztes Budget, da er aus persönlichen Ersparnissen finanziert wurde.

Ich gab dem russischen Fernsehen, den Medien in Israel, Deutschland, Österreich und sogar Australien viele Interwiews. Die Helden kamen selbst zu mir, riefen mich an, schickten Erinnerungen und am Ende sammelte ich ein einzigartiges Archiv.

Welche Rolle spielen die Bucharischen Juden bei der Aufnahme der Evakuierten?

Die bucharischen Juden halfen, wie sie konnten. Sie teilten den Patz auf allen ihren Friedhöfen, weil Juden nicht auf muslimischen oder christlichen Friedhöfen beerdigt werden durften.

Aber in der Region gibt es quantitativ viel weniger Juden als Usbeken, die letztendlich auch viel Großzügigkeit und Gnade bewiesen. Es waren genau die Usbeken, die mit den Andersgläubigen das letzte Stück Brot teilten, Räume in Häusern verteilten, versuchten, für sie Arbeit zu finden.

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Der Schriftsteller Kornei Tschukowski, der den Schrecken der Evakuierung genauso erlebte wie zweihundert andere Schriftsteller, Künstler und Regisseure, porträtierte diese Zeit mit Erstaunen. Er arbeitete in der Kommission für die Unterbringung evakuierter Kinder. Er sagte: “Diese großen Taten der Menschheit , wie die Vertreter einer anderen Religion so einfach und ehrlich halfen, sind einzigartig in der Geschichte. Das ist ein Merkmal des usbekischen Volkes.”

Welche Geschichte ist Ihrer Meinung nach die erstaunlichste?

Die von dem bucharischen Juden Sion Chudoidatow, der aus Samarkand stammt. Er kämpfte an den Fronten des Zweiten Weltkriegs, wo er mehrmals verwundet wurde. Nach einer Verletzung wurde Sion in einem Krankenhaus behandelt. Im Gang sah er eine weinende Krankenschwester, die traurig war, da ihre verwaisende Nichte nach Samarkand evakuiert wurde. Die Krankenschwester fragte Chudoidatow, ob er, vorausgesetzt, dass er überlebt, sie finden und ihr helfen könnte.

Er kehrte nach Hause zurück, wo er zusammen mit seinem Bruder das Mädchen fand. Die Nichte der Krankenschwester wurde von einer tadschikiischen Familie angenommen. Sion sah ein Mädchen mit 40 Zöpfen, das außer Russisch und Jiddisch frei Usbekisch und Tadschikisch sprach.

Er brachte das Mädchen zu ihrem Haus und erzog es in der jüdischen Tradition. Es bekam eine Ausbildung und heiratete, aber ihr ganzes Leben lang respektierte es ihre jüdische Eltern genauso wie die tadschikische.

Diese Geschichte ist für mich ein Signal aus dem 20. Jahrhundert für unsere Zeit.

Center-1

Aus dem Russischen von Veronica Snoj

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