Startseite      „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mir eine atomwaffenfreie Welt vorstellen kann“ – ein Interview mit Togjan Qasenova

„Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mir eine atomwaffenfreie Welt vorstellen kann“ – ein Interview mit Togjan Qasenova

Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat Kasachstan mit dem viertgrößten Nuklearwaffenarsenal und wenig Macht über das eigene nukleare Schicksal hinterlassen. In ihrem Buch „Atomic Steppe: How Kazakhstan gave up the bomb“ rekonstruiert Nuklearexpertin Togjan Qasenova die 40-jährige Geschichte von Atomtests in der kasachstanischen Steppe – und erzählt, wie das frisch unabhängige Land atomwaffenfrei wurde.

Togjan Qasenova

Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat Kasachstan mit dem viertgrößten Nuklearwaffenarsenal und wenig Macht über das eigene nukleare Schicksal hinterlassen. In ihrem Buch „Atomic Steppe: How Kazakhstan gave up the bomb“ rekonstruiert Nuklearexpertin Togjan Qasenova die 40-jährige Geschichte von Atomtests in der kasachstanischen Steppe – und erzählt, wie das frisch unabhängige Land atomwaffenfrei wurde.

Novastan hat mit Qasenova über ihr Buch gesprochen, dem schwierigen Erbe der Sowjetunion, Nursultan Nazarbaevs Rolle im Abschalten des Semipalatinsker Polygons und was Russlands Drohung Atomwaffen in der Ukraine zu benutzen für Kasachstan bedeuten könnte.

Novastan: Atomtests und ihre Geschichte sind ein hochsensibles Thema und es ist offensichtlich schwierig Informationen darüber zu finden, da die meisten Archive immer noch geschlossen sind. Wie haben Sie an Ihrem Buch gearbeitet?

Togjan Qasenova: Ich sammelte Informationen durch Archivrecherchen und durch das Befragen von Zeitzeugen (welche die von mir beschriebenen Ereignisse miterlebt hatten). Ich hatte keine Probleme mit Archiven in Kasachstan oder den Vereinigten Staaten. Das Präsidentenarchiv in Almaty war das hilfreichste. Es gibt auch ein wunderbares Archiv in Semeı (ehemals Semepalatinsk) – das Zentrum für die Dokumentation der modernen Geschichte. Diese Archive stehen für Forschende offen, und ich konnte sie problemlos nutzen.

Jedoch stieß ich an Grenzen. Zwar konnte ich alles lesen, was freigegeben und für Forschende zugänglich war, jedoch war erkennbar, dass bestimmte Dokumententeile fehlten. So konnte ich zum Beispiel nichts aus den 1970er-Jahren finden. Ich hatte Dokumente über die 60er-Jahre, einige Dokumente über die 80er-Jahre aber darüber hinaus nichts über die 70er-Jahre.

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In den USA sind die Präsidentenarchive hervorragend, dennoch gibt es auch einige Einschränkungen. Die meisten US-Regierungsdokumente werden nach etwa 25 Jahren verfügbar. Da mich die 90er-Jahre interessierten, war bereits viel verfügbar. Es funktioniert mittels dem ‚declassification-review‘ System – du stellst eine Anfrage (um ‚classified documents‘ einzusehen) und deine Anfrage wird an die relevante Agentur weitergeleitet, welche dann entscheidet, ob das angefragte Dokument freigeben werden kann. Es dauert Jahre, aber es funktioniert.

In Russland hatte ich keine Probleme mit der Arbeit mit regulären Archiven, aber die Archive, die für mich am wichtigsten waren, wie das Atomenergieministerium (MINATOM) oder das Verteidigungsministerium, sind für Forschende nicht zugänglich. Ich habe formelle Anfragen gestellt, aber sie wurden alle abgelehnt. Kurzum, ich habe mit dem gearbeitet, was in den Archiven vorhanden war, aber ich werde die Erste sein, die sagt, dass es viele schwarze Löcher gab.

Ich hoffe, dass wir über die Zeit mehr und mehr herausfinden werden. Ich habe ehemalige politische Entscheidungsträger:innen und Diplomaten in Entscheidungspositionen interviewt, aber für mich war es noch wichtiger, Menschen aus der Gegend von Semeı zu befragen. Das war herausfordernd, aber auf eine andere Art und Weise. Es war emotional und ethisch schwierig, weil es sich um persönliche Familiengeschichten handelte, und es war sehr wichtig, die Menschen nicht nur als Opfer darzustellen. Ich wollte ihre Resilienz und Liebe zur Heimat zeigen.

Beim Lesen Ihres Buches wurde ich das Gefühl nicht los, dass die ersten Versuche in völliger Dunkelheit durchgeführt wurden. Heutzutage ist es schwer zu glauben, dass jemand so rücksichtslos sein konnte. Nach Hiroshima waren bereits einige Jahre vergangen, sodass die Wissenschaftler zumindest einige Daten über die Auswirkungen von Atomexplosionen auf das menschliche Leben hätten haben müssen. Ich frage mich also, ob diese Opfer vorsätzlich und kaltherzig gebracht wurden. Waren den Projektleitern die menschlichen Opfer egal, oder war es eher diese Banalität des Bösen, dass die Leute „nur ihre Arbeit machen wollten“?

Sie haben völlig recht, dass die ersten Tests, wie Sie beschrieben haben, in völliger Dunkelheit durchgeführt wurden – in einem Informationsvakuum. Die Zivilbevölkerung wurde nicht informiert, und niemand nahm Rücksicht auf die lokale Bevölkerung. Ich kann nicht für [die Projektleiter] sprechen, ich kann nicht in ihre Köpfe schauen, aber so sehe ich das, was geschehen ist. Sowjetische militärische Führer hatten es eilig gleichauf mit den Vereinigten Staaten zu bleiben. Hiroshima und Nagasaki waren bereits passiert, also war es klar, dass Atomexplosionen umfangreichen Schaden anrichteten. Offensichtlich verstanden sowjetische Planer, dass es schlecht war, aber vielleicht verstanden sie nicht die Details.

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Ich denke nicht, dass sie die Folgen langfristigem Ausgesetztsein von niedrigen Dosen ionisierender Strahlung verstanden haben. Ich denke aber nicht, dass sie mit dem Ziel herangingen „Lasst uns testen, wie die Waffen auf Menschen wirken“. Es war mehr eine Art „Wir brauchen Atomwaffen und uns ist die Bevölkerung egal. Wir akzeptieren den Kollateralschaden, aber wir wissen noch nicht genau, wie groß der Schaden sein wird.“ Ich denke, diese Nuancierung ist wichtig, insbesondere für den Diskurs in Kasachstan. Ich wehre mich dagegen, es so darzustellen, als sei der Standort gewählt worden, weil man mit ethnischen Minderheiten oder [insbesondere] mit Kasachen experimentieren wollte. Ich denke, es war eher ein Mangel an Überlegung, ein Mangel an Sorgfalt und eine völlige Ablehnung der Tatsache, dass die lokalen Gemeinschaften darunter leiden würden.

Aber mit der Zeit konnten die schädlichen Auswirkungen nicht ignoriert werden, und an dem Punkt hätte es eine ethische Frage der Verantwortung werden sollen, aber den sowjetischen militärischen Führern war es egal. Für militärische Zwecke beobachteten sie die Gesundheit der Bevölkerung, um zu verstehen, wie Atomwaffen sich auf Menschen auswirkten. Während sie Daten für die militärische Forschung sammelten, gab es die Menschen vor Ort keinerlei medizinische Versorgung.

Und der allererste Test wurde bei regnerischem und windigem Wetter durchgeführt, wodurch die radioaktive Kontaminierung meilenweit um das Testgelände herum verstreut wurde – so als ob man sich gar keine Gedanken über die ganze Operation gemacht hätte.

Sie hätten auf besseres Wetter warten können. Es gibt etwas, was ich in dem Buch nicht erwähne, weil ich es nicht beweisen kann, aber generell glaubt man, dass das Militär oft darauf wartete, bis der Wind in die Steppe blies, anstatt in Richtung der militärischen Siedlungen. Ich möchte keine inkorrekten Informationen weitergeben. In der offiziellen militärischen Beschreibung klang es so, als würde [der Wind] in Richtung der unbewohnten Steppe wehen. Spricht man aber mit den Einheimischen der Region, gibt es den weitverbreiteten Glauben, dass das Militär darauf wartete, dass der Wind nicht in Richtung ihrer Siedlungen blies. Dabei waren ihnen andere Richtungen egal. Aber beweisen konnte ich das nicht.

Ein weiterer seltsamer, unlogischer Punkt für mich war, dass es bei all der Geheimhaltung um das Polygon, bei all den Versuchen, die Informationen zu unterdrücken, einige große Sicherheitslücken gab, auf die nicht reagiert wurde, und die nicht einmal vorhergesehen wurden. Wie Sie erwähnten, war die Region Semipalatinsk der Hauptlieferant von Fleisch, sie verkauften Fleischprodukte in der gesamten Sowjetunion, und dann wurde das Fleisch irgendwann radioaktiv, weil das Vieh mit kontaminiertem Gras gefüttert worden war. Wie hält man das geheim? Wie konnte dieses Szenario nicht bedacht werden, als geplant wurde das Polygon zu bauen? Und selbst wenn es zu dem Zeitpunkt der Planung nicht ersichtlich war, wie kann man, wenn man argumentieren kann, dass die Region isoliert ist und es keine großen Städte in der Nähe gibt, das Risiko nicht anerkennen und die Tests fortsetzen, wenn es bereits passiert ist.

Das ist ein guter Punkt und es lässt mich denken, dass kein sowjetisches Leben besonders viel Wert hatte, aber manches Leben noch weniger wertvoll war. Der Standort wurde aus praktischen Gründen gewählt. Für die sowjetischen Militärplaner war es logisch: Der Standort war abgelegen (sie sagten sogar er wäre unbewohnt, was ganz und gar nicht stimmt) und es gab einen Zugang zu den Konstruktionsmaterialien. Für sie war es also eine rationale Entscheidung. Aber Sie haben recht. Es wäre schwierig radioaktive Kontamination zu kontrollieren, sie in einer bestimmten Region zu halten.

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Ich werde Ihnen ein weiteres anschauliches Beispiel geben. Nach einem der Tests kam es zu einer erheblichen radioaktiven Verseuchung. Die sowjetischen Militärbehörden wussten, dass das Getreide aus der Region stark kontaminiert war. Was haben Sie also gemacht? Sie stellten sicher, dass das Getreide innerhalb der Sowjet Union verteilt wurde und nicht exportiert wurde. Es war ihnen wichtiger, dass die internationale Gemeinschaft das Getreide nicht bekam und so herausfand, dass es radioaktiv verseucht war. Das ihre eigene Bevölkerung dieses Getreide konsumierte, war ihnen egal.

Ein weiterer Punkt, den ich in meinem Buch erwähne, ist, dass die Behörden während der stärkeren Tests den Menschen rieten, nach draußen zu gehen, was keinen Sinn machte. Ich denke, sie wollten nicht, dass Menschen sich durch splitterndes Glas verletzten, wenn sie im Haus blieben. Für sowjetische Behörden war es besser, wenn Menschen sich draußen aufhielten, damit sichtbare Verletzungen vermieden werden konnten. Offensichtlich war die Bevölkerung einer höheren Dosis ausgesetzt, weil sie sich im Freien aufhielten, aber das war den Behörden egal.

Ich möchte die Sowjetunion nicht als ein böses Imperium darstellen, aber ich denke, dass ein völliger Mangel an Respekt vor menschlichem Leben ziemlich offensichtlich ist. Und einige Leben, in diesem Fall das Leben der Menschen in der Region Semipalatinsk, wurden noch weniger geachtet.

Das Polygon wurde 1991 geschlossen und ich würde Sie gerne zu der Rolle Nazarbaevs in diesem Prozess befragen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass er zum Ende hin ein wenig zögerlich wurde – er unterstützte stets die Nevada-Semipalatinsk-Bewegung, sprach über die Schädlichkeit des Polygons, drängte zum Handeln und hielt diese Rede darüber, dass er nicht genug Informationen über die Konsequenzen hatte. Aber am Ende des Ganzen, als es nur noch darum ging, das Dekret zur Schließung des Polygons zu unterzeichnen, brauchte er eine ganze Weile, um das zu tun. Ist das nur mein Eindruck, und in Wirklichkeit war er einfach ein viel beschäftigter Mensch, der keine Zeit hatte, oder war er nicht bereit, diesen großen Schritt zu tun?

Ich habe nicht viele Details, weil es nur einen Bericht zu diesem Tag gibt (an dem das Dekret unterschrieben wurde). Wenn wir uns Nazarbaevs Briefe an Gorbatschow über den Zeitraum von 1989 bis 1999 anschauen, stellt man einen veränderten Ton fest. Ich weiß nicht, ob Sie es im Buch gelesen haben – Nazarbaev war wie jeder andere sowjetische, von Moskau eingesetzte Funktionär vom „Zentrum“ abhängig. Zu Beginn, Anfang des Jahres 1989 stellte Nazarbaev sicher, dass die Anfragen aus Almaty in sowjetisch-bürokratischer Manier kamen. Die Ersuche der kasachstanischen Regierung klangen zaghaft. „Da gibt es dieses Nevada-Semipalatinsk und sie protestieren gegen die Tests, und wir sind der Meinung, dass wir alles getan haben, was wir als Republik tun konnten“.

Gegen 1991 wurde seine Sprache deutlich. Ich denke, er war bereit das Polygon zu schließen. Was den konkreten Tag betrifft, so sollten wir uns daran erinnern, dass er nur wenige Tage nach dem versuchten Staatsstreich in Moskau lag. Viele andere Dinge gingen vonstatten: Vielleicht war die Nevada-Semipalatinsk-Bewegung entschlossener und drängender, vielleicht war das politische Establishment in Kasachstan am Ende seiner Kräfte. Ich glaube, Nazarbaev war bereit. Ich habe zwar nicht ausreichend Informationen, was den genauen Tag betrifft, aber ich glaube, dass es wahrscheinlich symbolischer Natur war, dass sie dafür sorgen wollten, dass der Beschluss (zur Schließung des Polygons) am 29. August unterzeichnet wurde, an dem Tag des ersten sowjetischen Atomtests.

Hier möchte ich etwas betonen. Sehr oft wird in Kasachstan ein sehr personalisiertes und auf Nazarbaev fokussiertes Narrativ gezeichnet. Ich denke, dass es besonders bei der Schließung des Polygons wichtig ist, der Nevada-Semipalatinsk-Bewegung und all den Menschen, die sich dafür eingesetzt haben, Anerkennung zu zollen. Es ist wichtig, die Geschichte zu erzählen und allen Akteur:innen Anerkennung zu zollen. Die kasachstanische Gesellschaft und das Establishment haben auf verschiedenen Ebenen zusammengearbeitet, es ist also nicht die Geschichte von nur einer Person, die einen Beschluss unterschrieben hat.

 In dem Buch hatte ich das Gefühl, es handelte sich um eine Graswurzelbewegung, der sich Nazarbaev im allerletzten Moment anschloss, als er erkannte, dass er es nicht einfach aussitzen und abwarten konnte.

Es war definitiv eine Graswurzelbewegung. Diese Tausenden Menschen, die aus eigenen aufrichtigen Gründen protestierten, aber ich denke, dass die Bewegung auch für das politische Establishment vorteilhaft war. Die Anti-Atomkraft-Bewegung und die kasachstanische Regierung waren nicht völlig voneinander getrennt. Zum Beispiel beschreibe ich in dem Buch, wie Teilnehmer:nnen von internationalen Märschen willkommen geheißen wurden, sie mit Essen versorgt und wie ihnen bei der Unterbringung geholfen wurde und wie die lokalen Behörden sie unterstützen.

Dabei wurde mir klar, dass es, wie wir es auf Russisch nennen würden „administrative Ressourcen“ gab. Proteste und Kundgebungen wurden nicht verboten, sondern von den lokalen Behörden unterstützt. Und das ist etwas, was wir immer noch nicht im Detail wissen, aber ich würde die Bewegung nicht von der Regierung trennen, weil ich denke, dass alle Teile der kasachstanischen Gesellschaft – das politische Establishment und die Bürger:innen – zusammengearbeitet haben.

Die Betroffenen von Atomtest erhalten eine regelmäßige Entschädigung vom Staat. Jedoch beschreiben Sie auch eine Situation mit kasachstanischen Soldaten, die im Polygon neben den russischen Soldaten stationiert waren, und diese Ex-Soldaten sind von diesen Zahlungen ausgeschlossen, obwohl sie der Strahlung ebenfalls ausgesetzt waren. Das ist eine Frage, wer die Verantwortung für die Atomtests trägt. Es war ein sowjetisches Programm. Wenn es um nützliche Dinge aus der Sowjetunion ging, wollte Russland sie erben. Zum Beispiel hat Russland den Sitz der Sowjetunion im UN-Sicherheitsrat übernommen. Aber wenn es um die Auswirkungen des sowjetischen Atomtestprogramms und seine Folgen für die Menschen rund um das Polygon geht, dann heißt es plötzlich: „Das wurde von der Regierung eines Landes gemacht, das es nicht mehr gibt.“

Ich glaube, dass Russland als Erblasser des sowjetischen Atomwaffenarsenals die Verantwortung für das gesamte sowjetische Atomprogramm trägt, und es wäre logisch, wenn Atomsoldaten und Veteranen des sowjetischen Atomprogramms unter die russische Gesetzgebung zur Unterstützung von „Atomsoldaten“ fallen würden, aber diese Gesetzgebung gilt nur für Bürger Russlands.

Das kasachstanische Gesetz zur Unterstützung der Opfer sowjetischer Atomtests wurde 1992 verabschiedet. Der Schwerpunkt lag auf der Zivilbevölkerung und das Narrativ ging eher in die Richtung von „das sowjetische Militär gegen die ansässige Bevölkerung“. Das Gesetz galt nicht für „Atomsoldaten“. Einige der Geschichten sind herzzerreißend. Viele dieser Soldaten sind nicht mehr am Leben. Es gab eine Vereinigung der kasachstanischen Atomwaffenveteranen, und ich weiß nicht einmal, ob heute noch jemand von ihnen lebt.

Lassen Sie uns darüber reden, wie Kasachstan „die Bombe“ tatsächlich aufgeben hat. Kasachstan hat das Budapester Memorandum unterschrieben, welches zugesichert hat, dass Russland, Belarus, Kasachstan oder die Ukraine nicht bedrohen wird mit Atomwaffen im Austausch für deren Denuklearisierung und dass es die Souveränität und territoriale Integrität anerkennen würde. Was bedeutet das für Kasachstan in der aktuellen Situation?

Kasachstan und die Ukraine haben Sicherheitsgarantien im Gegenzug für die Aufgaben ihrer Atomwaffen bekommen. Für Kasachstan und die Ukraine war der Erhalt von Sicherheitsgarantien seitens der Atommächte von grundlegender Bedeutung für ihre Entscheidung, und sie investierten viel Mühe in die Verhandlungen in dieser Angelegenheit. Kasachstan unterzeichnete ein wichtiges bilaterales Dokument mit den USA – die Charta der demokratischen Partnerschaft zwischen den USA und Kasachstan, in der Washington seine Sicherheitsgarantien für Kasachstan bekräftigte.

Das Budapester Memorandum, das Sie erwähnten, verpflichtete die drei Atommächte zu genau dem: der Achtung der territorialen Integrität und Souveränität. Die Staats- und Regierungschefs Russlands, der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs haben das Memorandum unterzeichnet, sodass es viel Gewicht haben sollte.

Aber wenn man sich den Wortlaut ansieht, gibt es keinen Durchsetzungsmechanismus. Es gibt kein „Was passiert, wenn …“. Ich glaube, in der Ukraine bedauert man jetzt, dass nicht klargestellt wurde, was passiert, wenn eine der Parteien ihre eigenen Versprechen nicht einhält. […]

Russlands Verstoß gegen die UN-Charta und seine Verpflichtungen aus dem Budapester Memorandum wird langfristige Folgen haben, denn je mehr Länder ihre Versprechen nicht einhalten, desto schwieriger wird es an sie zu glauben, was sehr beunruhigend ist. Es ist für Kasachstan von Bedeutung, weil wir das gleiche Dokument unterzeichnet haben und Kasachstan die gleichen Versprechen erhalten hat. Was jetzt geschieht, beunruhigt uns alle mehr.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion landeten die neuen Republiken in einer Patt-Situation. Sie dürfen kein Nuklearstaat sein, aber Sie bekommen auch keine Sicherheitsgarantien, wenn Sie versprechen, keine Bombe zu bauen. Das scheint nicht fair zu sein.

Die globale nukleare Ordnung ist ungerecht und unfair. Es gibt Nuklear-Habende und Nuklear-Nicht-Habende. In den 1960er-Jahren besaßen fünf Länder Atomwaffen und wollten diesen Zustand einfrieren. Im Rahmen des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) schlossen sie ein Abkommen: Fünf Länder wurden als Atommächte anerkannt und versprachen, irgendwann abzurüsten, und andere Länder erklärten sich bereit, im Gegenzug für den Zugang zu friedlicher Kerntechnik keine Kernwaffen zu entwickeln. Warum wird es als Norm angesehen, dass fünf Länder Atomwaffen besitzen? Warum ist es für sie irgendwie akzeptabel, Atomwaffen zu behalten, ohne dass es Anzeichen für eine Abrüstung gibt, während alle anderen vor der Wahl stehen: Entweder man ist ein Nicht-Atomwaffenstaat oder ein Pariastaat?

Der NVV spiegelt die globale Weltordnung wider, aber die globale Weltordnung hat sich verändert, nicht wahr? Länder wie Brasilien, Indien und andere Nationen des globalen Südens haben ihren Platz in der Welthierarchie und die Art der Macht, die sie ausüben, infrage gestellt, und deshalb denke ich, dass sich auch die globale nukleare Ordnung ändern muss. Die Länder werden diese ungerechte Ordnung nicht stillschweigend hinnehmen; es wird zu Veränderungen kommen. Das ist der Kern dessen, womit wir es im Moment im Nuklearbereich zu tun haben. Wir haben es mit einem grundsätzlich ungerechten System zu tun, aber gleichzeitig müssen wir die Normen aufrechterhalten und diese Normen fördern, weil sonst das Chaos ausbricht. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns befinden.

Hat sich der NVV verändert, nach dem die Sowjetunion zerfallen ist? Was passiert, wenn eine Atommacht zerfällt und ein Dutzend neuer Staaten auftaucht.

Das war exakt der Verhandlungspunkt zwischen den sowjetischen Atomstaaten (Belarus, Kasachstan und der Ukraine) und den Vereinigten Staaten und der internationalen Gemeinschaft für mehr als 2 Jahre. Belarus, Ukraine und Kasachstan haben ein politisches Dokument unterzeichnet, in welchem sie versprochen haben, dem NVV als Nicht-Atomstaaten beizutreten. Von Beginn an war es Kasachstan, Belarus und der Ukraine nicht möglich ihre Atomwaffen zu behalten, wenn sie einen Paria-Status innerhalb der internationalen Gemeinschaft vermeiden wollten.

Neue Staaten konnten dem NVV nur als Nichtkernwaffenstaaten beitreten. Gleichzeitig waren die sowjetischen Atomwaffen nicht „automatisch“ russisch. Für den Bau dieser Waffen wurden Ressourcen aus Kasachstan und der Ukraine verwendet. Außerdem gehörte das Eigentum, das zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion auf dem Gebiet jedes neuen unabhängigen Staates verblieben war, den einzelnen Republiken.

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Nichts sollte unhinterfragt geschehen, alles erfordert Verhandlungen. Die Ukraine hinterfragt heute, warum Russland den sowjetischen Sitz im UN-Sicherheitsrat geerbt hat, warum Russland die sowjetischen Atomwaffen behalten durfte und so weiter. In der Geschichte gab es keinen Präzedenzfall, bei dem eine Atommacht zerfiel und mehrere unabhängige Staaten Teile des Atomwaffenarsenals erhielten.

Sie beschreiben eine Situation, in der das gerade unabhängig gewordene Kasachstan über das viertgrößte Atomwaffenarsenal der Welt verfügt, ohne dass es in der Lage wäre, es einzusetzen oder seinen Nachbarn mit dem roten Knopf daran zu hindern, es in seinem Namen einzusetzen. Es ist nur natürlich diese Waffen schnellstmöglich loswerden zu wollen, aber was ich in ihrem Buch bemerkt habe, ist das Russland scheinbar kein Interesse an diesen Waffen oder den nuklearen Rohstoffen während der Verhandlungen hatte. Wieso? Und warum waren hauptsächlich die USA an diesen Verhandlungen beteiligt und nicht andere Atommächte? Waren diese auch nicht interessiert?

Es gab einen Unterschied. Russland und die USA waren sich einig, dass Russland der alleinige Erbe aller sowjetischen Waffen sein sollte. Russland war nicht daran interessiert, dass Belarus, die Ukraine oder Kasachstan Atomwaffen behalten. Es ist nicht so, dass Russland diese Waffen brauchte, denn wie Sie wissen, besaß es Tausende davon. Außerdem wurde im Rahmen des amerikanisch-russischen Rüstungskontrollprozesses die Zahl der Sprengköpfe schrittweise reduziert. Viele der nach Russland zurückverlegten Sprengköpfe mussten ohnehin demontiert werden.

Für Russland war es jedoch wichtig, als Erbe des sowjetischen Atomwaffenarsenals angesehen zu werden, und auch wenn eine solche Prämisse nicht standardmäßig akzeptiert werden sollte, so war dies doch das Selbstverständnis Russlands. Die russische Führung glaubte, dass es nach der Sowjetunion nur eine einzige Atommacht geben könne und dass dies Russland sein sollte. Politisch war Russland auf derselben Linie wie die USA. Washington wollte nicht, dass eine andere ehemalige Sowjetrepublik zu einer neuen Atommacht wurde.

In Bezug auf das Kernmaterial vertrat Moskau einen anderen Standpunkt. Russland brauchte dieses zusätzliche Material nicht, weil es Kopfschmerzen bereitete. Sie hatten mehr als genug und der Transport von Kernmaterial über die Grenzen hinweg war ein komplizierter und sehr teurer Prozess. Die USA waren der führende Verhandlungspartner im gesamten kasachstanischen Denuklearisierungsprozess, weil sie die Macht hatten und weil sie im Gegenzug etwas zu bieten hatten.

Der Schwerpunkt meines Buches liegt auf den USA, weil sie die internationale Gemeinschaft vertraten; die USA waren die am stärksten involvierte Partei in all dem. Aber auch andere Mächte halfen mit. Es gab verschiedene multilaterale Programme, insbesondere im Bereich der nuklearen Sicherheit, aber die Rolle und das Engagement der Vereinigten Staaten ist mit keinem anderen Land vergleichbar.

Wie hat die amerikanische Öffentlichkeit dieses Engagement wahrgenommen? Sie erwähnen diese riesige Operation, das Projekt Sapphire, bei dem Kernmaterial, das sich in einer unbewachten Nuklearanlage in Kasachstan befand, auf amerikanischen Boden transportiert wurde, um sicherzustellen, dass es nicht in die falschen Hände gerät. Eine Operation dieses Ausmaßes kann man nicht verheimlichen; ich kann mir vorstellen, dass nicht jeder über dieses Nuklearmaterial glücklich war.

Als die politischen EntscheidungsträgerInnen in den Vereinigten Staaten darüber diskutierten, was mit dem hochangereicherten kasachstanischen Uran geschehen sollte, wollten einige Beamte, dass Russland es zurücknimmt, und zwar genau aus dem von Ihnen genannten Grund. Sie sorgten sich um die Umweltorganisationen, aber mir ist nicht bekannt, dass es Proteste oder einen öffentlichen Aufschrei als Reaktion auf diese spezielle Operation gegeben hätte.

Apropos Geheimhaltung: Jemand in den US-Medien erfuhr von der Operation, bevor das Material die Oak-Ridge-Anlage in den Vereinigten Staaten erreichte. Das Weiße Haus bat die Presse, die Geschichte für 24 Stunden zurückzuhalten, und die Journalist:iInnen kamen dem nach. Die Geschichte wurde in den US-Zeitungen veröffentlicht, sobald das Material in der Anlage ankam, aber soweit ich weiß, gab es kein großes Aufsehen in der Öffentlichkeit. Ich möchte noch einmal betonen, dass es sich nicht um Atommüll, sondern um Nuklearmaterial handelte.

Kasachstan hat zwei Atommächte als Nachbarn, und eine von ihnen führt gerade einen militärischen Angriff durch. Die USA unterstützen die Ukraine in diesem Krieg. Sind wir auf dem Weg zu einem neuen Wettrüsten?

Russland und die Vereinigten Staaten verfügen über mehr als genug Atomwaffen, um den Planeten um ein Vielfaches zu vernichten. Nicht, dass wir die Zahlen ignorieren sollten, aber in existenzieller Hinsicht haben diese beiden Länder so viel, dass sie keinen militärischen oder strategischen Anreiz haben, ihre Arsenale zu vergrößern. Ganz einfach, weil sie bereits über eine Overkill-Kapazität verfügen.

Derzeit gibt es noch ein Rüstungskontrollabkommen zwischen den USA und Russland, das die Anzahl der Sprengköpfe in bestimmten Grenzen hält. Ich glaube nicht, dass die USA oder Russland versuchen werden, ihr Arsenal quantitativ zu vergrößern, aber es ist eine andere Frage, was sie qualitativ tun können. Es ist zu erwarten, dass Forderungen nach einer weiteren Modernisierung der Atomwaffenarsenale laut werden, was ebenfalls eine schlechte Nachricht für die internationale Gemeinschaft ist.

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Das grundlegende Problem ist die Instabilität des internationalen Systems. Ein großer Konflikt, an dem ein Land mit Atomwaffen beteiligt ist, birgt viele Risiken. Wir können die Folgen dessen, was jetzt geschieht, nicht abschätzen, und das ist das Beängstigende daran: Wir wissen, dass es Folgen geben wird, aber wir kennen weder ihr Ausmaß noch ihre Richtung. Das unterstreicht nur den Wahnsinn: Solange es Atomwaffen gibt, besteht die Gefahr, dass ein konventioneller Konflikt zu einem Atomkrieg eskaliert. Das ist die grundlegende Gefahr, mit der wir ständig konfrontiert sind.

Ist es wahrscheinlich, dass alle Länder in naher Zukunft atomwaffenfrei sein werden? Werden wir das noch erleben können?

 (Lange Pause) Irgendwann in der Zukunft – ja. Sonst wäre ich nicht in dem Beruf, in dem ich jetzt bin. Der Bogen der Geschichte spannt sich global gesehen in die richtige Richtung, trotz dessen, was ich gerade über den aktuellen Krieg gesagt habe. Es ist beeindruckend, dass sich vor Kurzem die Mehrheit der Länder zusammengefunden hat und den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen unterzeichnet hat und dass immer mehr Nationen in der Diskussion über nukleare Fragen wieder eine Rolle spielen.

Früher hieß es eher: „Wir sind Atommächte, und wir entscheiden [die Angelegenheit] unter uns, und ihr habt kein Mitspracherecht, und es interessiert niemanden, was ihr sagt.“ Die Dynamik hat sich geändert. Aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich eine Welt ohne Atomwaffen erleben werde. Es wird nicht meine Generation sein.  

Dieses Interview wurde aus Gründen der Klarheit überarbeitet.

Das Interview führte Anna Wilhelmi, Redakteurin für Novastan English

Aus dem Englischen von Karina Rudi

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