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Renovieren auf Xinjiang-Art – Wie chinesische Investitionen das alte Kaschgar zerstören

Kaschgar, eine der größten Städte im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang, profitierte jahrelang von staatlich geleiteten Investitionen. Die Wissenschaftler Rune Steenberg und Alessandro Rippa haben mit ihren Forschungen dargelegt, inwieweit dies zur Zerstörung der historischen Altstadt Kaschgars beitrug. Der folgende Artikel erschien im russischsprachigen Original auf Fergana-News. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Ein Haus in der Altstadt von Kaschgar
Etliche Häuser in Kaschgars Altstadt mussten Neubauten weichen

Kaschgar, eine der größten Städte im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang, profitierte jahrelang von staatlich geleiteten Investitionen. Die Wissenschaftler Rune Steenberg und Alessandro Rippa haben mit ihren Forschungen dargelegt, inwieweit dies zur Zerstörung der historischen Altstadt Kaschgars beitrug. Der folgende Artikel erschien im russischsprachigen Original auf Fergana-News. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Wie wirkt sich die Politik der chinesischen Staatsmacht auf die Wirtschaft und Gesellschaft von Kaschgar aus? Warum führten umfangreiche Investitionen und ein Zustrom von TouristInnen zur Zerstörung des historischen Stadtbildes? Wie laufen die Renovierungsarbeiten ab und was hat Kaschgar mit den Hauptstädten Kasachstans und Usbekistans gemeinsam? Diesen Fragen gehen die Geografen Rune Steenberg (Universität Kopenhagen) und Alessandro Rippa (Universität Colorado) nach, nachdem sie von 2009 bis 2017 in Kaschgar forschten. Ihr Artikel „Developement for all? State schemes, security and marginalization in Kashgar, Xinjiang“ erschien im wissenschaftlichen Journal Central Asian Survey.

Investitionen statt Separatismus

1999 startete die Kommunistische Partei Chinas die Kampagne „Den Westen öffnen“, um die Kluft in der ökonomischen Entwicklung zwischen dem Osten und dem Westen des Landes zu verringern. Das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang erhielt staatliche Investitionen im Transportsektor, aber alles in allem verstärkte das Programm nur die Ungleichheit zwischen den Norden und dem Süden der Provinz sowie zwischen UigurInnen und Han-ChinesInnen. Offensichtlich wurde diese Ungleichheit zu einem der Gründe des interethnischen Konflikts, zu dem es 2009 in Ürümqi kam.

Die Partei zog ihre Schlüsse aus dem Gewaltausbruch und schon im Frühling 2010 wurden Maßnahmen zur schnelleren wirtschaftlichen Entwicklung der rückständigen  Region getroffen. 19 reiche Städte und Provinzen aus dem Osten wurden verpflichtet sich eine Partnerregion in Xinjiang zu suchen und zwischen 0,3 und 0,6 Prozent ihres Budgets in diese zu investieren. Partnerstadt von Kaschgar wurde die erste und erfolgreichste Sonderwirtschaftszone Chinas – Shenzhen.

Privater Handel und Tourismus wuchsen rapide. Die Kaschgarer UigurInnen erhielten gute Jobs im Dienstleitungssektor – zum Beispiel im mittlerweile geschlossenen Hotel „Tjumen-River“, dessen Besitzer – ein Han-Chinese – ausschließlich  UigurInnen anstellte. Das kleine Business wurde durch Subaufträge reich. Atusch, ein Bekannter der Forscher, bildete Uiguren zu Kranführern und Bulldozer-Fahrern aus und „verkaufte“ sie dann an chinesische Bauherren. Zu dieser Zeit wurden fast alle Ausschreibungen für große Bauaufträge von Han-ChinesInnen aus den östlichen Provinzen gewonnen und UigurInnen wurden zur Schwarzarbeit angeheuert – aber für gutes Geld.

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2012 stieg das durchschnittliche Gehalt in der Stadt auf 3500-4000 Yuan (circa 450-520 Euro) im Monat und in Kaschgar boomte der Konsum. Luxusgeschäfte wurden errichtet und UigurInnen eröffneten Restaurants für Hochzeiten und andere Familienfeiern. Selbst Bauern aus benachbarten Dörfern wurden durch den Handel mit Reis, Weizen, Melonen und Feigen reich und investierten das Geld ins Geschäft. Insgesamt waren die UigurInnen Kaschgars 2010-2014 vorsichtig optimistisch. Sie glaubten an die Modernisierung und die Vorteile des von Peking vorgeschlagenen Wirtschaftsmodells. Letzteres hatte aber auch seine Nebeneffekte: immer mehr UigurInnen fühlten sich fremd in dieser schönen neuen Welt.

Reiche BürgerInnen feierten Hochzeiten und während ihnen früher bei solchen Veranstaltungen arme Verwandte halfen, so stellten sie in den 2010er Jahren immer öfter zu diesem Zweck Personal ein. So wurden arme UigurInnen aus dem Netz des sozialen Austausches ausgeschlossen (heute hilfst du auf der Hochzeit deines reichen Nachbarn und gibst ein bescheidenes Geschenk und morgen erhältst du großzügige Gaben zu deiner Hochzeit), sodass sie sich nicht leisten konnten, „wie es sich gehört“ die Alten zu begraben oder die Tochter zu verheiraten.

Die Wissenschaftler waren einmal zu der Hochzeit eines hochgestellten Beamten in einer Vorstadt Kaschgars eingeladen und bemerkten zwei Frauen, die den Löwenanteil der Arbeit machten. Auf die Frage, wer das sei, antwortete man ihnen, dass dies entfernte Verwandte seien, und erst später bekannte ein enger Freund der Familie die Frauen angeheuert zu haben. Natürlich ist diese Strategie für Reiche angenehm (man zahlt ein wenig hat aber keine Verpflichtungen gegenüber der Masse an Verwandten und Nachbarn), aber für die Armen ist es eine Katastrophe.

Gefälschte Historie

Natürlich war die Entwicklung Kaschgars nicht auf solche Investitionen beschränkt. 2009 wurde der ambitionierte Plan „Bewahrung des uigurischen historisch-kulturellen Erbes“ entwickelt. Zur Verbesserung der hygienischen Bedingungen und der Erdbebensicherheit sowie zum Kampf gegen die Armut und zur Entwicklung der uigurischen Kultur wurden der Stadt 3 Millionen Yuan (ungefähr 390.000 Euro) zur Verfügung gestellt. In der Praxis wurde das Geld in erster Linie in Sicherheit und Tourismus investiert. Gassen und Sackgassen wurden eingeebnet um den Zugang für die Autos der TouristInnen zu erleichtern. Es wurden tausende Kameras zur Videoüberwachung installiert. Letztendlich wurde ein großer Teil der Altstadt abgerissen um im Stil „antiker islamischer Kultur“ wieder aufgebaut.

Es scheint nicht sehr durchdacht, das ausgezeichnet erhaltene historische Zentrum Kaschgars abzureißen und gleichzeitig TouristInnen dorthin ziehen zu wollen. Dennoch ist diese Strategie der letzte Trend in China, wo anstelle von Städten und Dörfern der ethnischen Minderheiten deren auf Hochglanz polierten und ungefährlichen Kopien wie Pilze aus dem Boden sprießen.

Für die Einheimischen bedeutet die „Bewahrung der uigurischen Kultur“ die Renovierung ihrer Häuser auf eigene Kosten. Der Staat gab das Geld für das erdbebensichere Betonfundament, aber für die Wände, das Dach und das Innere müsse die BürgerInnen Kaschgars selbst bezahlen. Die Renovierungskosten belaufen sich auf 7000-8000 Yuan (circa 900-1050 Euro) pro Quadratmeter – unglaublich viel für Leute, deren durchschnittliches Monatseinkommen circa 1000 Yuan (130 Euro) beträgt. Allen, die für die Renovierung nicht aufkommen konnten, wies die Staatsmacht eine Wohnung in den neuen Wohnblocks am Stadtrand zu. Alternativ konnte man eine finanzielle Entschädigung enthalten, allerdings unter den Marktpreisen.

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Im Jahr 2015 verlor Mehmetdschan, eine Informationsquelle der Wissenschaftler, seine Werkstatt im Zentrum Kaschgars. Das Haus wurde abgerissen und neugebaut, die Miete erhöht. Seine Brüder verkauften das elterliche Haus, in dem sie aufgewachsen waren, weil sie sich die Renovierung nicht leisten konnten. Am Stadtrand waren sie ihrer gewohnten sozialen Netze und ihrer gewohnten Beschäftigung beraubt. Die neuen Wohnbezirke erhielten den ironischen Namen „Manty-Mahallas“, der auf leichte Mädchen anspielt. Der Anstieg der Prostitution an den Stadträndern ist nicht nur durch die Geldnot, sondern auch durch den Verfall der sozialen Netze und der moralischen Normen infolge der Umsiedlung aus dem Zentrum zu erklären.

Vom Händler zum Wachmann

Im Frühling 2014 wurde in Ürümqi eine Serie grausamer Terroranschläge verübt. Danach beschloss die chinesische Staatsmacht nicht weiter in die ökonomische Entwicklung der Region zu investieren, sondern die Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen. Diese neue Politik erhielt den Namen „Krieg des Volkes gegen den Terror“. Die Zahl der bewaffneten Polizei- und Militärposten stieg um ein Vielfaches, Kontrollen auf den Straßen und nächtliche Razzien wurden zur Gewohnheit. Die Leute gewöhnten sich an Zäune und Stacheldraht. Ab 2015 konnten in Kaschgar Hochzeiten nur nach einer schriftlichen Genehmigung der Behörden und unter Beteiligung eines „offiziellen“ Imams gefeiert werden.

Geschäfte und Restaurants erhielten Metalltüren und KundInnen können nicht mehr einfach eintreten – man muss erst klingeln. LadenbesitzerInnen müssen an regelmäßigen Sicherheitsübungen teilnehmen. An allen Ausfahrtsstraßen Kaschgars müssen UigurInnen aus den Wagen steigen und ihre Dokumente zeigen.

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Die Durchsuchungen und bewaffneten Posten wirkten sich negativ auf das Geschäftsklima aus. Des Weiteren stellten immer weniger (Han-)chinesische Geschäftsleute bereitwillig UigurInnen ein. Von 2010 bis 2014 wuchs das Bruttoinlandsprodukt Xinjiangs durchschnittlich um 10 Prozent, im Jahr 2015 nur noch um 1 Prozent und 2016 um 3 Prozent. Besonders stark litten der Tourismus und der Dienstleistungssektor. Allein drei Bekannte der Wissenschaftler mussten ihre Restaurants schließen. Einen zusätzlichen Schlag verpasste die Renovierung der Altstadt Kaschgars, für deren Finanzierung sich tausende Familien verschuldeten, was wiederum Kapital aus der inoffiziellen Wirtschaft abzog.

Viele UigurInnen versuchten der finanziellen Notlage zu entgehen und  stiegen in die stark wachsende Sicherheitswirtschaft ein. Allein 2017 schrieb der Staat ungefähr 55.000 Stellen für Wachpersonal und im Polizeidienst aus. Enver, ein Bekannter der Wissenschaftler, arbeitete nach Abschluss der Schule als Schneider und fuhr für Verwandte Lebensmittel zum Markt. Im Jahr 2015 absolvierte er einen zweiwöchigen Kurs, erhielt eine Uniform und fing als Wachmann an – er bewacht eine belebte Kreuzung. Er war sich sicher, dass der neue Job ihm nicht nur in der Wirtschaftskrise ein stabiles Einkommen sichern, sondern ihn auch vor Repressionen schützen würde. Dennoch wurde er bereits 2018 in ein Umerziehungslager geschickt, was damit begründet wurde, dass seine älteren Brüder regelmäßig Geschäftsreisen nach Kirgistan unternahmen.

Eine Geisterstadt

Leider zogen die Reformen der 2010er Jahre in Kaschgar traurige Folgen nach sich. Am Anfang liefen die Reformen unter der Devise „wirtschaftliches Aufblühen im Tausch gegen Integration“, aber den Löwenanteil der Investitionen erhielten schon damals Unternehmen aus anderen Regionen. Danach begann der Staat sich aktiv in das Privatleben der UigurInnen einzumischen. Dies wurde teilweise durch mehr Anstellungen im Sicherheitsbereich kompensiert, jedoch verstärkten die Massenrepressionen unter der Devise der Umerziehung die Enttäuschung und Entfremdung der UigurInnen vom Staat.

Zum Symbol dieser Krise und unklaren Zukunft wurden laut den Wissenschaftlern die grandiosen Wohnkomplexe und Einkaufszentren, die im Rahmen von Kaschgars Sonderwirtschaftszone errichtet wurden. In den Jahren 2016 und 2017 standen viele Malls, Showrooms und Geschäfte leer. Selbst jene HändlerInnen, denen diese Räume kostenlos zur Verfügung gestellt wurden, liefen nach wenigen Monaten weg. Der riesige Hochhauskomplex „Neue Shenzhen-City“, der in der Nähe des Bahnhofs errichtet wurde, hat schon ausgedient, obwohl er größtenteils nie bezogen wurde.

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So ergibt sich, dass die Investitionen, die in den Wachstumsjahren nach Kaschgar flossen, nur einzelnen Unternehmen einen Vorteil brachten, aber für die örtliche Bevölkerung die Zerstörung ihres gewohnten Umfelds (durch Renovierung) bedeuteten. Die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen in der Stadt sowie die Politik der „Umerziehung“ vollendeten diesen Prozess. Es ist bemerkenswert, dass die Stadtentwicklung in China – bei aller Unikalität Xinjiangs – mit globalen Prozessen zusammenfällt, die wir aus anderen Städten Zentralasiens kennen: Abriss historischer Gebäude, Bereicherung von großen Unternehmen und die Errichtung von Business-Centern, die niemandem etwas nützen.

Artjom Kosmarskij für Fergana-News

Aus dem Russischen von Robin Roth

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