Jedes Jahr verlassen hunderttausende Tadschiken ihre Heimat, um im Ausland zu arbeiten. Manchmal bleiben ihre Kinder ohne Fürsorge zurück, manche landen auf der Straße. Wie viele solcher Fälle es genau gibt, ist nicht bekannt, aber es geht wahrscheinlich um Zehntausende Kinder, berichtet die Website Fergana News.
In Hudjanda, dem administrativen Zentrum von Nord-Tadschikistan, befindet sich ein staatliches Rehabilitationszentrum für Kinderrechtsschutz. Hier gibt es ein Wohngemeinschaft, wo Kinder leben können, die wegen verschiedener Ursachen auf der Straße leben mussten. Der Leiter des Zentrums, Tuhfahon Ergaschew, erzählt, dass das Zentrum im Laufe von sieben Jahren schon mehr als 500 Kinder betreut hat. Es wurde festgestellt, dass die Eltern jedes dritten Kindes im Ausland sind. Sie lassen ihre Kinder bei Verwandten und wandern für einige Jahre ab. Manchmal können oder möchten die Verwandten sich nicht um die Kinder kümmern und diese werden obdachlos.
Zum Zentrum in Hudjanda kommen oft Kinder, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Derzeit werden 37 Kindern betreut. Davon sind 23 ständig im Zentrum, die Übrigen kommen täglich zu Kursen. Die Kinder nehmen an ehrenamtlicher Arbeit teil und besuchen verschiedene Kurse, Nähen, Kochen, Computerkurse und Design.
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„Viele Kindern haben Krankheiten. Einige brauchen ernste Behandlungen. Die Gesundheitsprobleme haben sie auf der Straße „verdient“, in der Kälte und ohne jegliche Versorgung. Die Eltern einiger Kinder befinden sich außer in Russland auch in der Türkei oder anderen Ländern. Von denen gibt es keine Nachrichten. Wir verstehen, dass sie die Heimat aus Geldnot verlassen aber deswegen leiden ihre Kinder,“ sagt Ergaschew.
Waisen, obwohl der Vater am Leben ist
Vor fünf Jahren sind im Zentrum zwei Brüder angekommen, Rustam, 12, und Siyawusch, neun, (die Namen wurden geändert). Sie stammen aus der Region Chatlon im Süden von Tadschikistan. Als sie klein waren, ließen ihre Eltern sich scheiden. Der Vater ließ die Kinder bei seiner alten Mutter und verließ das Land, um in Russland zu arbeiten. Als die Großmutter starb, brachten Verwandte die Kinder in die Stadt und meldeten sie in einem Internat an. Als die Brüder von dort wegliefen brachten die Verwandten sie ins Rehabilitationszentrum in Chudschand und besuchten sie nie wieder.
Die Brüder konnten weder lesen noch schreiben, weil sie keine Schule besucht hatten. Aber strebten sehr danach, zu lernen. In kurzer Zeit erlernten sie Grundschulkenntnisse und waren mit den Mitschülern auf einem Niveau. Siyawusch besucht mittlerweile die achte Klasse und träumt davon, Richter zu werden. Und Rustam, der nächstes Jahr 18 Jahre wird, schließt die Schule ab und hat Pläne an der Justizfakultät zu studieren.
Die Mitarbeiter des Zentrums wünschen sich, dass Rustam in der Hochschule ohne Studiengebühren immatrikuliert werden kann und einen Platz in einer Wohngemeinschaft bekommt. Denn das Zentrum kann ihn nicht mehr unterstützen. Schon jetzt dürften sie eigentlich nicht im Zentrum sein, weil Kinder dort entsprechend der Regeln nur drei Monate bleiben dürfen. Die Zentrumleitung verlängert die Unterkunft alle drei Monate für diese und einige Kinder, die kein Zuhause haben.
„Wir können nicht diese Kinder nicht im Stich lassen“, sagt der Zentrumleiter. „Alle Mitarbeiter bemitleiden die Kinder.“
Vor zwei Jahren kam der Vater der beiden Brüder nach Tadschikistan um einige seiner Sachen zu holen. Er lebt mittlerweile in Moskau. Die Kinder berichteten ihren Verwandten, dass ihr Vater in Duschanbe war und sie bald abholen würde. Sie warteten einige Monate, aber ihr Vater kam nicht.
Wer ersetzt die Eltern?
Dilorom Atabajewa, die Leiterin des Zentrums zur Unterstützung der Zivilgesellschaft „Konsortium der Initiativen“ sagt, dass zurückgelassene Kinder von Arbeitsmigranten ohne Liebe, Fürsorge, Zuneigung, Aufmerksamkeit und elterliche Kontrolle aufwachsen. Das beeinflusst die Erziehung, Gesundheit Entwicklung, Studium und das Verhalten der Kinder. Die Trennung von den Eltern macht die Kinder empfindlich und verletzbar, was zu psychologischen Problemen führen kann. Außerdem sind solche Kinder anfälliger für äußere Einflüsse.
„Sie lassen sich leichter betrügen, anwerben, sich die Überzeugungen von anderen auferlegen. Kinder ohne Eltern fühlen sich weniger verantwortlich für ihr Verhalten und Handeln, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie in kriminelle Aktivitäten verwickelt werden,“ erklärt Atabajewa.
Experten weisen darauf hin, dass das Problem mangelnder Aufmerksamkeit seitens der Eltern zu zunehmender Kriminalität unter Jugendlichen führt. Dieser Aussage stimmt Gulsara Kamolzoda zu, die die Probleme von Migrantenkindern untersuch. Ihr zufolge kann nichts die elterliche Fürsorge ersetzten.
„Das Wichtigste, das die Eltern ihren Kindern geben können, ist Zeit. Die Kinder brauchen es, ihre Eltern in der Nähe zu haben, gemeinsamen Zeitvertreib, Kommunikation, Unterhaltung, Spaziergänge. Das alles haben die Kinder von Arbeitsmigranten nicht. Keine Verwandten können die elterliche Wärme ersetzen„, führt Atabajewa fort.
Ohne Migration geht es nicht
Der Mangel an gutbezahlter Arbeit zwingt hunderttausende tadschikische Bürger, zum Arbeiten ins Ausland zu gehen. Laut Statistik beträgt der jährliche Migrationsstrom nach Russland zwischen siebenhunderttausend und einer Millionen Menschen. Tadschikistan ist ein Agrarstaat, in dem sich die meisten Einwohner mit Landwirtschaft beschäftigen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion haben die Gelände und Felder die Leute bekommen, die keine Vorstellung von Landwirtschaft haben. Die sind die Besitzer der Felder geworden und die „Dekahn“ – Bauer mussten als „Batrak“ – Lohnarbeiter in ehemaligen eigenen Feldern tätig sein. Die ehemaligen Bauer müssen deswegen im Ausland arbeiten. Fast in jeder Bauerfamilie sind die Väter und manchmal die Mütter in der Arbeitsmigration.
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Seit mehr als fünf Jahre wird eine neue Gesetzvorlage „Über Migration“ in verschieden Niveaus unter Teilnahme internationaler Organisationen (UNO, IOM, IAO, OSZE) diskutiert. Tadschikische Nichtregierungsorganisationen haben auch eine eigene Variante der Gesetzvorlage vorgeschlagen, die vorsieht, dass der Staat die Verantwortung für die Unterstützung der Migranten ihrer Familien im In- und Ausland trägt.
Laut Angaben der Leiterin der Organisation „ Perspektive+“ Ojnichol Bobonazarova ist der Gesetzesentwurf, der das Leben tausender Familien erleichtern würde, aber nicht einsehbar und wurde noch nicht öffentlich diskutiert. Stattdessen werden Gesetze zur Regulierung der Zahl der Gäste bei Hochzeiten und Beerdigungen verabschiedet.
Die Migranten spielen eine wichtige Rolle für die Wirtschaft Tadschikistans. Nach Daten der Weltbank machten Rückzahlungen 2016 27 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Die kürzliche Reduzierung dieser Rückzahlungen führte zu einer Krise im tadschikischen Bankwesen, als gleich vier Banken Zahlungsunfähig wurden. Somit hängt die finanzielle Stabilität des Landes direkt an den Migranten.
Das bedeutet, dass weiterhin tausende tadschikische Kinder wie Rustam und Siyawusch ohne Eltern auf der Straße leben müssen.
Tilaw Rasul-sade
Fergana News
Aus dem Russischen von Kunduz Zhyrgalbekova
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