ENTSCHLÜSSELUNG. Ende September gab die Türkei den Beitritt Turkmenistans zur Organisation der Turkstaaten bekannt. Während die vier anderen zentralasiatischen Staaten bereits der Organisation angehören, ist dies für Turkmenistan eine Premiere: Bisher war das Land in keiner internationalen Organisation vertreten. Aschgabat betreibt eine offene Annäherung an die Türkei, zum Nachteil Moskaus. Analyse eines Wendepunktes in der turkmenischen Politik.
Das isolierteste Land Zentralasiens beginnt sich zu öffnen. Turkmenistan, das seit 2021 beobachtendes Mitglied der Organisation der Turkstaaten war, wird am nächsten Gipfel der Organisation am 11. November in Samarkand als Vollmitglied teilnehmen. Dies kündigte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu der Nachrichtenagentur Anadolu zufolge am 29. September an. Bereits am 5. September hatte sich Turkmenistans Präsident Serdar Berdimuhamedow mit dem Generalsekretär der Organisation der Turkstaaten getroffen. Das turkmenische Außenministerium kündigte in diesem Zusammenhang eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Turkmenistan und den Turkstaaten an.
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Der turkmenische Präsident wird sich daher den Staats- und Regierungschefs der Türkei, Kasachstans, Kirgistans, Tadschikistans, Usbekistans und Aserbaidschans anschließen, um die Beziehungen zwischen den Ländern zu erörtern. Obwohl die Organisation der Turkstaaten im Moment nur symbolisch ist und kein Militärbündnis oder eine Wirtschaftsunion impliziert, nehme sie „einen immer wichtigeren Platz auf der internationalen Bühne ein“, meint Bayram Balci, Direktor des französischen Instituts für Anatolistik in Istanbul und Forscher an der Sciences Po Paris.
Ende der Neutralität
Der Beitritt Turkmenistans zur Organisation der Turkstaaten verändert die besondere Stellung des Landes in der internationalen Ordnung. 1995 verlieh ihm die UNO den Status eines ständig neutralen Staates – eine Position, die Turkmenistan verbietet, einer internationalen Organisation beizutreten und sich in eine Position zu begeben, die Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit bedroht oder Vereinbarungen über nukleare Abrüstung beinhaltet.
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Das Erfordernis der Neutralität ist auch in Artikel 2 der turkmenischen Verfassung verankert, der es als „Grundlage seiner nationalen und äußeren Politik“ festlegt, erklärt Radio Liberty. Diese Besonderheit wird jedes Jahr am 12. Dezember in Turkmenistan als Tag der Neutralität gefeiert. Hatte Turkmenistans erster Präsident Saparmyrat Nyýazow anfangs eine „positive Neutralität“ im friedlichen Sinne vor Augen, diente der neutrale Status in der Folge vor allem dazu, Turkmenistan auf der internationalen Bühne zu isolieren und damit die Kontrolle über die Bevölkerung zu stärken.
Russlands Abwesenheit als Chance
Im Prinzip verliert Turkmenistan durch den Beitritt zur Organisation der Turkstaaten automatisch seinen Neutralitätsstatus. Dieser überraschende Kurswechsel in der turkmenischen Außenpolitik hängt wahrscheinlich mit dem internationalen geopolitischen Kontext und dem Krieg in der Ukraine zusammen. Laut Bayram Balci ist es wichtig anzumerken, dass Turkmenistan einer internationalen Organisation beitritt, der Russland nicht angehört. Der Forscher erklärt: „Es ist ein Zeichen dafür, dass sich die Länder Zentralasiens leisten können, was sie sich vorher nicht leisten konnten oder zu leisten wagten.“
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Tatsächlich hat Russland seit Beginn des Krieges in der Ukraine den politischen Veränderungen in Zentralasien und im Kaukasus viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Angesichts der Wiederaufnahme der Grenzkonflikte zwischen Aserbaidschan und Armenien sowie zwischen Tadschikistan und Kirgistan geht das amerikanische Fachjournal Foreign Policy davon aus, dass die zentralasiatische Region von der kriegsbedingten Abwesenheit Russlands profitiert und so eine eigene Außenpolitik betreibt.
Verhandlungen hinter den Kulissen
Auch wenn der Krieg in der Ukraine wahrscheinlich den Beitritt Turkmenistans zur Organisation der Turkstaaten befördert hat, müssen noch andere Faktoren berücksichtigt werden. Im September hatte Aschgabat erwirkt, dass die Türkei die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis von mehr als 30 Tagen für turkmenische Staatsangehörige einstellt. Auch eine verschärfte Unterdrückung turkmenischer Regierungsgegner:innen, die sich in der Türkei aufhalten, wurde erreicht. Laut Radio Azatlyk, dem turkmenischen Dienst von Radio Free Europe, leben schätzungsweise 230.000 Turkmen:innen in der Türkei, darunter viele Gegner:innen des Regimes.
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Eurasianet geht davon aus, dass das Zugeständnis der Türkei „Voraussetzung für die Zustimmung Turkmenistans, sich dem ehrgeizigen türkischen Projekt anzuschließen“ gewesen sei. Turkmenistan hätte demnach geschickt bekommen können, was es wollte, indem es den aktuellen geopolitischen Kontext und die Ambitionen der Türkei ausgenutzt hätte.
Ein Erfolg für die Türkei
Alles deutet darauf hin, dass Ankara seine Wette gewonnen hat. Seit dem Fall der UdSSR wollte sich die Türkei Zentralasien zuwenden, obwohl die Zusammenarbeit mit den Ländern der Region den Ambitionen nie gerecht wurde. „Am Anfang hat es nicht funktioniert, weil alles zu schnell ging und die Staaten nicht stark genug und in ihrer ethnischen Identität gestärkt waren, um sich in eine solche Organisation vollständig zu integrieren“, erklärt Bayram Balci. „Wir stehen noch nicht am Vorabend einer mit der Europäischen Union vergleichbaren Union. Aber es gibt Hoffnung auf mehr Zusammenarbeit und ich denke, dass es für die Türkei ein Sieg ist.“
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Dabei ist die Organisation der Turkstaaten der breiten Öffentlichkeit eher unbekannt. 1992 informell durch die Einrichtung des Türkischen Rates initiiert, wurde sie 2009 offiziell gegründet. 2018 nahm sie während des Istanbuler Gipfels ihren heutigen Namen an. Der Beitritt Usbekistans im Jahr 2019, der das Land aus einer langen Phase des vom ehemaligen Präsidenten Islom Karimov initiierten Isolationismus herausführte, war für die Türkei bereits ein großer Schritt nach vorne. „Jetzt sind alle unabhängigen Turkstaaten Teil dieser Organisation, und dies ist für die Türkei ein Erfolg auf symbolischer Ebene“, präzisiert Balci.
Wiederauflebende Ambitionen
Die Mitgliedschaft der fünf zentralasiatischen Länder in der Organisation öffnet den Weg für eine stärkere Integration und deutet auf eine stärkere politische und infolgedessen wirtschaftliche Zusammenarbeit hin. Auch wenn Balci den Begriff übertrieben findet, bekomme der „pantürkische Traum“ von Präsident Recep Tayyip Erdogan somit neuen Schwung.
Denn Fortschritt ist unbestreitbar zu beobachten. Durch die gewonnene Glaubwürdigkeit sei die Organisation inzwischen vergleichbar mit der Eurasischen Wirtschaftsunion oder gar der Frankophonie, analysiert der Forscher, obwohl „Staaten lange Zeit nicht Teil einer Organisation sein wollten, die ihre Souveränität bedrohen und ihre Außenpolitik bestimmen wollen würde.“ Man darf also davon ausgehen, dass die Türkei die intelligente Strategie des Abwartens genutzt hat, damit die in ihrer Identität gestärkten Staaten Zentralasiens endlich unisono zustimmen, Teil einer türkischen Union zu sein.
Emma Collet, Redakteurin für Novastan
Aus dem Französischen von Robin Roth
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