Zwei Jahre sind seit dem Januar-Ereignissen von 2022 vergangen. The Village sprach aus diesem Anlass mit den Menschenrechtlern Evgeni Jovtis und Bahytjan Toregojina, Autoren eines Buches, das die Ereignisse beleuchtet.
Im Juni 2023 wurde in Almaty das Buch „Streljat na poraschenije“, zu Deutsch „Schießen um zu töten“, veröffentlicht. Hierin haben Aktivisten die Menschenrechtsverletzungen während und nach dem „Qantar“ dokumentiert. Das kasachische Wort für „Januar“ dient als Bezeichnung für die blutig niedergeschlagenen Proteste in der ersten Woche des Jahres 2022.
Dem Buch liegen über tausend Stunden Videomaterial, 10.000 Dokumente und zahlreiche Gespräche mit Anwälten, Augenzeugen und Beteiligten an den Ereignissen zugrunde. Das Ergebnis ist eine detailreiche, chronologische Rekonstruktion des Qantar, die die Behörden in ihrem Vorgehen bewertet. Als Grundlage dienten die internationalen Menschenrechtsstandards.
The Village sprach mit den Autoren des Buches Evgeni Jovtis und Bahytjan Toregojina über Drohungen, die sie während der Dokumentation erhielten, den Kontakt mit den Angehörigen der Opfer und darüber, warum so viele der Straftaten nicht ans Licht kommen.
Die Angehörigen der Opfer
Toregojina: Wir engagieren uns schon seit langem für die Menschenrechte und haben einen guten Ruf. Als wir ankündigten, die Namen der Toten zu sammeln, klingelte unser Telefon nonstop. Die Leute wollten ihre Angehörigen in die Liste eintragen.
Alle hatten Angst und verschwiegen uns ihre tatsächlichen Vor- und Nachnamen. Es kostete viel Zeit, die Informationen zu überprüfen. Bevor wir die Daten veröffentlicht haben, mussten Dokumente angefordert, mit den Aussagen anderer Personen abgeglichen und um Sterbeurkunden gebeten werden. Die sozialen Netzwerke halfen dabei: Menschen posteten Gedichte und Lieder über die Toten, gaben Interviews oder machten ihrer Empörung Luft.
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Es war hart, sich die Geschichten anzuhören. Einige Menschen verfielen buchstäblich in Depressionen. Vor allem alleinstehende Frauen, die mit mehreren Kindern in Mietwohnungen leben mussten. Sie waren völlig verloren. Meinen Kollegen, die die Interviews führten, bin ich sehr dankbar Am Anfang waren es 12 Dokumentaristen und vier Gruppen aus insgesamt 50 Freiwilligen. Allerdings hielten viele es nicht aus, so dass wir eine hohe Fluktuation hatten.
Jovtis: Im Jahr 2022 hielten wir Sitzungen ab, bei denen wir über die Folter während der Januar-Ereignisse sprachen. Eine unglaublich emotionales Unterfangen. Männer, die bei bester Gesundheit waren, erzählten ihre Geschichten mit Tränen in den Augen. Sie hatten Schreckliches erlebt. Daraus entstand der Titel unseres ersten Jahresberichts: „Zumindest weinen wir nicht mehr“.
Vertrauen brachte uns vor allem unsere offene und proaktive Haltung ein. Viele hatten und haben immer noch Angst, andere werden laut. Sie liefern Informationen und Beweismittel, auf die wir uns in den Berichten beziehen.
Die Zusammenarbeit mit den Behörden
Toregojina: Vom ersten Tag an wandten wir uns an Innenministerium, die Bürgerbeauftragten, die Generalstaatsanwaltschaft, die Präsidialverwaltung und die Abgeordneten. Wir erfragten, warum dieses oder jenes Verfahren eingestellt wurde, warum es den Anwälten nicht gestattet wurde, sich mit den Unterlagen vertraut zu machen. Manchmal verlief das erfolgreich. Als wir beispielsweise erfuhren, dass Häftlinge in U-Haftmedizinisch behandelt werden mussten, schrieben wir einen Brief an Elvira Azimova, die als Ombudsfrau für Menschenrechte von 2019 bis 2023 tätig war. Sie setzte sich aktiv für die Bereitstellung von medizinischer Hilfe ein und kam nach Almaty. Daraufhin wurden 45 Personen ins Krankenhaus eingeliefert.
Doch jetzt werden den Opfern materielle und immaterielle Entschädigungen verweigert. Wir stehen in regem Austausch mit dem Obersten Gerichtshof und prangern immer wieder an, dass die unteren Gerichte die Fälle der Toten und der Lebenden überhaupt nicht berücksichtigen. Wir wissen nicht, ob sie letztendlich zugunsten der Rechte der Menschen entscheiden. Mit Artur Lastaev, dem Ombudsmann für Menschenrechte seit 2023, habe ich meine persönlichen Vorbehalte. Während Azimova in der Angelegenheit sehr engagiert war, nahm Lastaev eine abwartende Haltung ein. Meiner Meinung nach sollten alle Ombudsmänner einen unabhängigen Bericht über die Einhaltung der Menschenrechte und Freiheiten während des Qantars vorlegen.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Jovtis: Die Kommunikation entstand in Schüben. Es dauerte bis etwa Mitte Januar, bis die Lage sich beruhigt hatte. Bis dahin war wenig zu holen. Appelle an das Innenministerium, die Generalstaatsanwaltschaft und die zuständigen Stellen liefen ins Leere. Dabei lagen zu diesem Zeitpunkt eindeutige Verstöße gegen das Recht auf Unversehrtheit der Wohnung, unrechtmäßige Inhaftierung, Nichtzulassung von Anwälten, Folter und Misshandlung vor.
Nach dem Qantar, etwa ab dem 12. Januar, stabilisierte sich die Lage ein wenig. Doch auf unsere zahlreichen Anfragen reagierte der Staat zurückhaltend. Es kam zu einer Massenklassifizierung von Straftaten. Laut den Anwälten waren die Möglichkeiten, ein normales Strafverfahren zu gewährleisten, äußerst begrenzt. Umso unzufriedener waren wir wegen der Kommunikation mit den Behörden.
Drohungen während der Dokumentation
Toregojina: Als wir den Bericht erstellten, wurden wir nicht bedroht, wohl aber während der Dokumentation und der Interviews. Wir haben die Interviews nicht nur vor Ort im Büro, sondern auch online und per Telefon geführt. Wir wurden also abgehört.
Mein Kollege wurde durchsucht, weil wir Menschen aufsuchten, bei denen während des Qantar Geld und persönliche Gegenstände beschlagnahmt worden waren. Der Geheimdienst hatte wohl beschlossen, unseren Kollegen auf diese Weise Angst einzujagen. Aber wir versuchen, uns streng im Rahmen der Gesetze zu bewegen, ohne die Grenzen zu überschreiten.
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Wir haben lange gebraucht, um die Informationen mithilfe von Anwälten zu überprüfen, denn nach dem Qantar waren alle sehr emotional. Sie konnten nicht verstehen, wie so etwas überhaupt möglich war. Vor allem diejenigen, die gefoltert worden waren.
Jovtis: Als wir den Bericht erstellten, gab es keine offenen Drohungen, aber die Lage war angespannt. Neben Besprechungen hielten wir mehrere Pressekonferenzen ab und bemerkten, wie viel Aufmerksamkeit der Geheimdienstund andere Strukturen uns widmeten. Sie haben uns genauestens beobachtet. Dies wurde Ende letzten Jahres deutlich, als uns der Vertreter Kasachstans vor Beginn einer Konferenz in Warschau über die Ereignisse im Januar beschuldigte, für „externe Kräfte“ zu arbeiten. Sie wollten uns auf diese Weise diskreditieren.
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Ich denke, dass das Erscheinen des berüchtigten Registers ebenfalls eine gewisse Reaktion des Staates darstellt. (Darin werden Personen aufgelistet sind, die Geld oder anderes Eigentum von ausländischen Staaten, internationalen und ausländischen Organisationen, Ausländern und Staatenlosen erhalten. Jenes Register wurde September 2023 in der Republik Kasachstan veröffentlicht. Zahlreiche Organisationen sind dort aufgeführt. Anm. d. Redaktion)
Das sind keine direkten Drohungen. Die Behörden versuchen viel eher diejenigen, die die Januar-Ereignisse aus einer unabhängigen Perspektive betrachten, zu stigmatisieren und zu diskreditieren. Sie wollen diejenigen, die die Untersuchungen durchgeführt haben, infrage und in eine Ecke stellen.
Toregojina: Viele Menschen sind dagegen, den Todesfällen auf den Grund zu gehen. „Der Tote ist tot, aber wir müssen weiterleben“, sagen sie. Für die meisten ist der Qantar als schrecklicher Traum im Gedächtnis verankert, an den man sich nicht zurückerinnern will. Es gibt Fälle, in denen Eltern erst ihr einziges Kind verloren und daraufhin selbst starben, weil sie diesen Schicksalsschlag nicht überlebten. Dann gibt es aber auch Menschen wie den Vater der kleinen Aikorkem Meldehan. Seine vierjährige Tochter starb während der Ereignisse durch einen Kopfschuss. Es besteht ein Strafverfahren gegen ihn wegen „Verbreitung von Falsch-Informationen“. Doch er kämpft weiter!
Zur Entschädigung der Opfer
Toregojina: Die Entschädigungen sind natürlich lächerlich. Die anfänglichen 10 Millionen Tenge (20.000 Euro) wurden in der Berufungsphase auf fünf, drei, zwei und schlussendlich auf 300.000 Tenge (ca. 600 Euro) reduziert. In einem einzigen Fall belief sich die Entschädigung auf 20 Millionen. In den übrigen handelt es sich um geringe Beträge, die nicht einmal die Kosten für einen Rechtsanwalt, die Behandlungskosten und den moralischen Schaden abdecken. Den Behörden ist das Leben und die Gesundheit der Bürger leider kaum etwas wert. Parallel erhielt ein ehemaliger Beamter, der einen Freispruch erwirkt hatte, eine Entschädigung von 66 Millionen Tenge (135.000 Euro.) Der Staat trennt die einfachen Bürger von denen, die Beziehungen zu den Behörden vorweisen können. Die Menschen sind enttäuscht über die Summen, die der Staat ihnen zugesteht, gerade vor dem Hintergrund, dass dieser wirklich reich ist.
Jovtis: Der Staat muss dem Bürger Rechenschaft darüber ablegen, ob er die Person, die den Schaden verursacht hat, identifiziert hat oder nicht. Es heißt, die Fälle würden eingestellt, weil es nicht möglich ist, die Person zu identifizieren, die gefoltert oder geschossen hat. Aber was macht es für einen Unterschied, wer es war, wenn er es im Auftrag des Staates getan hat?
Es wirkt nicht so, als stünde der Preis des menschlichen Lebens über allem. Menschen werden durch staatliches Verschulden zu Behinderten, aber der Staat zahlt weder eine angemessene Entschädigung, noch erstattet er die Kosten für die Behandlung und den Rest.
Toregojina: Ich möchte hinzufügen, dass der Qantar genau zwei Jahre her ist, aber die Regierung noch immer keine Antwort darauf hat, was passiert ist, wie und warum so viele Menschen getötet wurden und wer für all das die Verantwortung trägt. Wir müssen international ermitteln und der Gesellschaft Antworten liefern.
Zu den geheimen Fällen
Toregojina: Es gibt ein paar Dokumente mit Daten darüber, welche Schusswaffen zum Einsatz kamen und wer sie mit sich trug. Doch diese Daten sind unter Verschluss. Viele Fälle werden außerdem eingestellt, weil man die Schützen nicht finden kann. Bislang hat man von den 238 Todesfällen lediglich 12 Personen für schuldig befunden. Was mit den anderen 95 Prozent der Fälle ist? Sie sind eingestellt oder geheim.
Jovtis: Welche Kugel aus welcher Waffe, was das für eine Kugel genau war und wer sie abfeuerte, all dies ist in vielen Fällen bekannt, denn die Waffe wird nur gegen Unterschrift herausgegeben. Das ist immerhin eine ernste Angelegenheit. Leider ist uns unbekannt, wie unsere Ermittlungsbehörden in diesem Fall vorgegangen sind. Fälle als geheim eingestuft wurden.
Zur offiziellen Position des Staates
Jovtis: Ich bin fest davon überzeugt, dass das kein Putschversuch war. Sicher machte sich in der Anfangsphase Unmut in der Bevölkerung breit. Das war die Folge der sozialen Probleme, einem Mangel an Gerechtigkeit und der Verärgerung über den ersten Präsidenten Nursultan Nazarbaev. Die Erhöhung der Gaspreise war schließlich der letzte Tropfen. Dann schlug es auf das ganze Land über und junge Menschen, die mit ihrem sozialen Status unzufrieden waren, mischten sich ein.
Die Vertreter des„alten Kasachstan“, die mit der Machtverschiebung hin zu Qasym-Jomart Toqaev unzufrieden waren, nutzten die Gunst der Stunde. Darum habe ich keine Zweifel daran, ob, sondern nur in welchem Umfang sie beteiligt waren.
Die Ereignisse begannen im westlich gelegenen Jañaözen, dann in Mañğystau und breiteten sich dann über das ganze Land aus. In Mañğystau kam es zunächst weder zur Besetzung von Regierungsgebäuden, noch zu Zusammenstößen mit der Polizei. Sozioökonomische Forderungen waren es, die sich in politische verwandelten. Das Narrativ des Staatsstreichs und der „Terroristen“ funktioniert nur im Zusammenhang mit bestimmten Regionen.
Toregojina: Es gibt Theorien, die in dem Bericht dargelegt werden und die haben ein Existenzrecht. Ich glaube, dass der Staat das letzte Wort haben und die Wahrheit sagen sollte. Die Behörden wollen die Untersuchungen baldigst ad acta legen. Sie haben angekündigt, noch ein letztes Mal, konkret im Fall vom „wilden Arman“ und Ruslan Iskakov, zu ermitteln.
Es geht um die Wahrheit über den Qantar
Jovtis: Solange es Leute an der Macht gibt, die mit den Unruhen um Jeltoqsan im Jahr 1986 und Jañaözen im Jahr 2011 zu tun haben, werden wir leider nicht viel bewegen.
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Toregojina: Das sehe ich genauso. Solange die so genannte alte Garde des „alten Kasachstans“ an der Macht ist, werden wir wohl kaum Neues erfahren. Den Ast, auf dem sie sitzen, sägen sie nicht ab. Aber die Gesellschaft lässt sich nicht so einfach täuschen. Wir haben eine ungefähre Vorstellung davon, was während des Qantars passiert ist. Aber der Staat muss stark genug sein, seine Fehler zu erkennen, damit sich so etwas nicht wiederholt. Die Ermittlung würde der Gesellschaft dabei unterstützen, die Ereignisse zu verarbeiten. Dazu braucht es einen ehrlichen Präsidenten mit unbefleckten Ministern, die politische Verantwortung übernehmen und die Wahrheit nicht scheuen.
Sultan Temirhan und Aıdar Elkeev für The Village
Aus dem Russischen von Arthur Siavash Klischat
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