Startseite      Die „Baumwollaffäre“ – Wie der staatliche Plan zur Steigerung der Baumwollproduktion zu einer landesweiten Korruptionsaffäre führte

Die „Baumwollaffäre“ – Wie der staatliche Plan zur Steigerung der Baumwollproduktion zu einer landesweiten Korruptionsaffäre führte

Die Usbekische Sowjetrepublik galt zu ihrer Zeit als wichtigste Produktionsstätte des „weißen Goldes" – der Baumwolle. Der staatliche Fünfjahresplan zur Steigerung der Baumwollproduktion stellte die Republik allerdings vor eine unerfüllbare Herausforderung, die in einer flächendeckenden Korruptionsaffäre resultierte. Breschnews Nachfolger Juri Andropow erhoffte sich mit der großflächigen Ermittlung der „Baumwollaffäre“ seine politischen Gegner auszuschalten. Der folgende Artikel erschien im November 2022 bei sarpa. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Usbekistan zur wichtigsten Produktionsstätte von Baumwolle innerhalb der UdSSR und versorgte damit die Leichtindustrie in allen Sowjetrepubliken. Der staatliche Plan für den Anbau des sogenannten „weißen Goldes" wurde von Jahr zu Jahr ausgeweitet. In den 1980er Jahren war fast die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche Usbekistans für den Anbau von Baumwolle bestimmt. Die große Nachfrage nach dem Rohstoff war nicht nur auf die Textilindustrie zurückzuführen. Baumwolle war auch ein wesentlicher Bestandteil bei der Herstellung von Nitrocellulose, einer brennbaren Substanz, aus der rauchloses Schießpulver gewonnen wurde. Dabei wurde Baumwolle nicht nur für Schusswaffen benötigt. Sie war ebenso eine der wichtigsten Komponenten bei der Herstellung von Raketentreibstoff.

Juri Andropow, Scharaf Raschidow, Baumwolle
Juri Andropow, Scharaf Raschidow, Baumwolle

Die Usbekische Sowjetrepublik galt zu ihrer Zeit als wichtigste Produktionsstätte des „weißen Goldes“ – der Baumwolle. Der staatliche Fünfjahresplan zur Steigerung der Baumwollproduktion stellte die Republik allerdings vor eine unerfüllbare Herausforderung, die in einer flächendeckenden Korruptionsaffäre resultierte. Breschnews Nachfolger Juri Andropow erhoffte sich mit der großflächigen Ermittlung der „Baumwollaffäre“ seine politischen Gegner auszuschalten. Der folgende Artikel erschien im November 2022 bei sarpa. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Usbekistan zur wichtigsten Produktionsstätte von Baumwolle innerhalb der UdSSR und versorgte damit die Leichtindustrie in allen Sowjetrepubliken. Der staatliche Plan für den Anbau des sogenannten „weißen Goldes“ wurde von Jahr zu Jahr ausgeweitet. In den 1980er Jahren war fast die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche Usbekistans für den Anbau von Baumwolle bestimmt. Die große Nachfrage nach dem Rohstoff war nicht nur auf die Textilindustrie zurückzuführen. Baumwolle war auch ein wesentlicher Bestandteil bei der Herstellung von Nitrocellulose, einer brennbaren Substanz, aus der rauchloses Schießpulver gewonnen wurde. Dabei wurde Baumwolle nicht nur für Schusswaffen benötigt. Sie war ebenso eine der wichtigsten Komponenten bei der Herstellung von Raketentreibstoff.

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Der Gosplan der UdSSR (die auf fünf Jahre ausgelegten Wirtschaftspläne des Landes) erhöhte die Pläne für die Lieferung von Baumwolle stetig im Abstand von fünf Jahren. Bis zum Jahr 1983 sollte die Usbekische SSR so auf eine Produktion von sechs Millionen Tonnen Baumwolle pro Jahr kommen. (Zum Vergleich: Usbekistan produzierte im Jahr 2020 etwas mehr als drei Millionen Tonnen). Um diese Herausforderung anzugehen, wurden verschiedene Methoden eingesetzt, darunter der Einsatz von Düngemitteln und der Bau neuer Bewässerungskanäle. Letztere sind für die Austrocknung des Aralsees verantwortlich. Jeden Herbst wurden Ärzte, Lehrpersonen, Schüler:innen und Studierende auf die Felder geschickt, um Baumwolle zu lesen. Dennoch erfüllte die Usbekische Sowjetrepublik den staatlichen Plan nicht einmal annährend. Lest auch auf Novastan: Baumwolle in Usbekistan vom Sezessionskrieg bis heute An der Verschleierung der Defizite beteiligten sich alle möglichen Personen – von den Baumwollpflückern bis zu den Parteikomitees der Oblaste und auch die oberste Führung waren alle an der Schaffung und Lieferung von nicht vorhandener Baumwolle beteiligt. Damit die Kontrollinstanzen nichts bemerkten, wurde die nicht vorhandene Baumwolle in geschlossenen Wagons „transportiert“, so als ob sie existieren würde. Ebenso wurde die fiktiv existierende Baumwolle in Fabriken der gesamten UdSSR „angenommen“ und in Lieferscheinen und Tabellen eingetragen. In den Produktionsbetrieben ging die Baumwolle auf unerklärliche Weise „verloren“ oder „verbrannte“ unglücklicherweise. In diesem Fall sprach man von „natürlichem Produktionsverlust“. Bei jeder dieser Etappen flossen Bestechungsgelder. Konzessionäre, Bezirkskomitees, Regionalausschüsse, Fabrikdirektoren, Eisenbahnbetreiber, Minister der Republiken und Köpfe der Gewerkschaftsabteilungen – alle bereicherten sich daran.

Und dann ging’s los

Nach Breschnews Tod im Jahre 1982 übernahm KGB-Chef Juri Andropow die Funktion des Generalsekretärs der UdSSR. Während seiner 15-jährigen Amtszeit hatte er die verlässlichsten Informationen über den Stand der Baumwollproduktion in der UdSSR erhalten. Nachdem er dem KGB in einem großangelegten Kampf gegen die Korruption die Fesseln genommen hatte, hoffte er, gegen seine Kollegen starke Argumente im gefährlichen politischen Geschäft zu erhalten. Sein Ziel war die Festigung der eigenen Macht, indem er seine politischen Gegner ausschaltete. Usbekistan wurde dabei nicht zufällig als Zielland der Korruptionsbekämpfung ausgewählt:

  • Die Missstände innerhalb der Republik waren derart ausgeprägt, dass sie kaum kaschiert werden konnten. Außerdem häuften sich in Moskau Beschwerden über den Reichtum der Parteiführer
  • Andropow benötigte bestätigte Fälle von mangelhafter oder offenkundig rechtswidriger Arbeit des Innenministeriums. Dieses wurde von seinem politischen Hauptkonkurrenten, Breschnews Schwiegersohn Juri Tschurbanow, geführt.
  • Der neue Generalsekretär Andropow hegte eine persönliche Abneigung gegen den Chef der Usbekischen SSR, Scharaf Raschidow, der über Jahre hinweg Breschnews Vertrauen genossen hatte, was ihm zu Lebzeiten Immunität vor Ermittlungen verschaffte.

Im Februar 1983 wurde eine Ermittlungskommission eingesetzt, um die von den Behörden der usbekischen SSR begangenen Missbräuche zu untersuchen. Am 25. April desselben Jahres traf die Kommission in Taschkent ein. Formal war dies der offizielle Beginn der Baumwollaffäre. Lest auch auf Novastan: Tiefgreifende Reformen in Usbekistans Baumwollproduktion Es war von Anfang an klar, welches Ausmaß die Untersuchung haben würde. Deshalb untersuchten rund 200 Ermittler aus der gesamten UdSSR die „Baumwollaffäre“. Darüber hinaus waren an den Ermittlungen mehr als 3.000 Einsatzkräfte von Polizei und KGB sowie 700 Ökonomen beteiligt. Der gesamten Untersuchungskommission gehörten somit rund 5.000 Mitglieder an. Federführend bei den Ermittlungen waren zwei Mitglieder der Generalstaatsanwaltschaft für Sonderverfahren, Telman Gdlyan und Nikolaj Iwanow. Die Ereignisse überschlugen sich, als Achat Musafarow, Leiter der Abteilung gegen Veruntreuung von sozialistischem Eigentum (kurz: OBKhSS) von Buchara, festgenommen wurde. Dieser wurde beim Versuch erwischt, Bestechungsgelder im Wert von 1000 Rubel (heute wären dies rund 1.850 Dollar) zu zahlen. Bei einer Durchsuchung seines Hauses wurden 1 Million Rubel und weitere 1,5 Millionen Rubel in zaristischen Goldmünzen gefunden (bei einem Durchschnittsgehalt von rund 150 Rubel). Infolgedessen machte er eine Zeugenaussage.

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Die Ermittler wurden in zwei Gruppen eingeteilt: Die erste Gruppe war vor Ort tätig und überprüfte alle baumwollverarbeitenden Betriebe und Fabriken, während sich die zweite Gruppe mit hochrangigen Partei- und Staatsbeamten befasste. Bald wurden der Leiter des Regionalkomitees von Buchara, Karimow, und der Innenminister Ergashev Verhören, Durchsuchungen und Verhaftungen unterzogen. Als Ergashev von seiner Verhaftung erfuhr, erschoss er sich; sein Stellvertreter tat es ihm gleich. Gleichzeitig wurden kompromittierende Beweise gegen Rashidow gesammelt. Ziel war es, ihn seines Amtes zu entheben. Im September 1983 gab der erste Sekretär des regionalen Parteikomitees von Choresm zu, Raschidow 1,5 Millionen Rubel für den Titel des „Helden der sozialistischen Arbeit“ gegeben zu haben. Die Tatsache wurde vermerkt, jedoch starb Raschidow unerwarteter Weise am 31. Oktober desselben Jahres.

Resultate der „Baumwollaffäre“

Die Untersuchung der „Baumwollaffäre“ zog sich noch weitere 6 Jahre bis ins Jahr 1989, obschon ihr Initiator Andropow bereits im Jahr 1984 verstarb. Während der gesamten Untersuchung wurden rund 20.000 Leute befragt und um die 800 Strafverfahren eingeleitet. Etwa 4.000 Personen wurden verurteilt, darunter 600 Personen in leitenden Funktionen sowie zehn „Helden der sozialistischen Arbeit“. Bei den Verurteilten wurden Geld und unrechtmäßig erlangte Wertgegenstände im Wert von 100 Millionen Rubel beschlagnahmt. Unter dem Vorwurf der Korruption wurden insgesamt 29 leitende Persönlichkeiten des Innenministeriums Usbekistans und der UdSSR, vier Sekretäre des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Usbekistans und acht regionale Parteisekretäre festgenommen und verurteilt. Der Minister der Baumwollindustrie Usmanow sowie Musafarow vom OBKhSS wurden erschossen. Infolgedessen konnte nachgewiesen werden, dass die UdSSR allein in den 70er und 80er Jahren aufgrund der Verfälschungen der Baumwollernteindikatoren 3 Milliarden Rubel verloren hatte. Allein 1983 wurden Usbekistan 981.000 Tonnen ungeerntete, also nicht vorhandene Baumwolle zugeschrieben. Hierfür wurden 757 Millionen Rubel an die Republik gezahlt, wovon 286 Millionen verschwanden.

Die von Gorbatschow 1985 eingeleitete „Glasnost“-Politik erforderte die Offenlegung der Untersuchungsergebnisse. Im Januar 1988 veröffentlichte die Zeitung „Prawda“ die Materialien des Falles – Vertreter der höchsten Staatsmacht und Parteifunktionäre waren in die Korruptionsaffäre verstrickt. Lest auch auf Novastan: Nach mehr als zehn Jahren: Boykott usbekischer Baumwolle aufgehoben Die Veröffentlichung des kritischen Materials ermutigte nicht nur die sowjetische Medienlandschaft dazu, über Korruption zu schreiben. Die Schwächung der Zentralregierung im Zusammenhang mit der Perestroika machte von diesem Zeitpunkt an auch Ermittlungen von Korruptionsvorfällen einfacher. So wurden im folgenden Jahr der ehemalige Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Usbekischen SSR, der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der Usbekischen SSR und die Sekretäre der regionalen Parteikomitees von Taschkent, Ferghana, Namangan und Karakalpakstan verhaftet. Spuren führten nach Moskau. Im März 1989 wurden eine Kommission des Zentralkomitees der KPdSU und eine Kommission des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR eingesetzt, um Rechtsverstöße bei den Ermittlungen zu überprüfen.

Beide Kommissionen bestätigten Verstöße – Folter, Erpressung, Drohungen, um Geständnisse zu erzielen. Infolgedessen wurde im Mai 1989 ein Strafverfahren gegen Gdlyan und Iwanow eröffnet. Die beiden, die die damaligen Ermittlungen geleitet hatten. Am 25. Dezember 1991 (einen Tag vor der rechtlichen Auflösung der UdSSR) begnadigte Präsident Karimow alle in der „Baumwollaffäre“ verurteilten Personen, die die auf dem Territorium der Republik ihre Strafen verbüßten. Vertreter:innen der „offiziellen“ usbekischen Geschichtswissenschaft bewerteten die Ereignisse der 1980er Jahre aus folgendem Blickwinkel: „Schuld an all dem Unglück, das der Bevölkerung der Republik im Zusammenhang mit den Machenschaften der von Moskau entsandten ‚Korruptions-Bekämpfer‘ widerfahren ist, tragen das Gewerkschaftszentrum und die Führung der Kommunistischen Partei Usbekistans.“

Wlad Awdeew, Sarpa

Aus dem Russischen von Berenika Zeller

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