Die Geschichte Zentralasiens kennt viele komplexe und widersprüchliche Persönlichkeiten, die das Leben der Region spürbar geprägt haben und noch heute Bewunderung und Empörung hervorrufen. Und die Polarisierung dieser Einschätzungen hängt in der Regel von den Grenzen ab, die Dutzende oder sogar Hunderte von Jahren nach dem Tod der genannten Persönlichkeiten gezogen wurden. Im Wesentlichen erweist sie sich also als Ergebnis der aktuellen Politik. Fergana News stellt einen dieser Helden der Vergangenheit vor.
Kenesary Qasymūly war ein kasachischer Staatsmann der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Khan der Mittleren Horde, der viele Jahre für seine politische Unabhängigkeit kämpfte. Pikant wird die Geschichte von Kenesary, dessen Leben bereits außergewöhnlich war, aufgrund des Mysteriums, das das Schicksal seiner sterblichen Überreste umgibt. Der gängigsten Version zufolge wird der Kopf des Khans noch immer irgendwo in einem russischen Museum aufbewahrt. Dass er dorthin gelangte, ist die Schuld der Kirgisen, die den Khan besiegten und enthaupteten, was ein Teil der kasachischen Öffentlichkeit nicht akzeptieren kann.
Kontroversen bis in die Gegenwart
Allein in den letzten Monaten haben Kenesarys Leben und Tod zweimal die Medien in Kasachstan und Kirgistan beschäftigt. Zwar hatte der Khan schon zuvor immer wieder für Unruhe in den Medien gesorgt. So erhielt im Jahr 2021 beispielsweise der damalige [in Kasachstan] verhasste Chef von Roskosmos, Dmitri Rogosin, nachdem er sich mit Däuren Mūsa, dem Generaldirektor von Baikonur, über das Schicksal der Raumfähre Buran gestritten hatte, von diesem das Angebot, das Raumschiff gegen Kenesarys Kopf einzutauschen.
Zuvor hatte sich bereits der ehemalige Präsident Kasachstans Nursultan Nazarbaev persönlich an Wladimir Putin gewandt und um Hilfe bei der Überführung der sterblichen Überreste des Khans in seine Heimat gebeten. Allerdings scheinen die russischen Behörden selbst nicht wirklich zu wissen, wo sich dieser Kopf derzeit befindet und ob er überhaupt überdauert hat.
Und Anfang des Jahres erklärte der kirgisische Sänger Kairat Primberdijew in einem Interview: „Es geschah, dass unser Ormon Khan gezwungen wurde, Kenesary Khan zu töten. Ich möchte das kasachische Volk einfach um Vergebung für das Geschehene bitten. Ich möchte jetzt wirklich weinen. Wir müssen den Kopf von Kenesary Khan holen und den Koran [zu verstehen als „ein Gebet“, Anm. d. Red.] lesen, um das Vergehen in Würde loszulassen.“
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Obwohl er ausschließlich in seinem eigenen Namen sprach und nicht das gesamte kirgisische Volk zur Reue gegenüber seinen Nachbarn aufrief, leitete das örtliche Staatskomitee für Nationale Sicherheit ein Strafverfahren gegen Primberdijew ein. Die Tschikisten [Anspielung auf die Tscheka, Anm. d. Ü.] waren der Ansicht, dass er mit seinen Worten gegen Artikel 330 („Aufstachelung zu rassistischem, ethnischem, nationalem und religiösem Hass“) des kirgisischen Strafgesetzbuches verstoßen habe. Der Sänger musste daraufhin eine Geldstrafe von 100.000 Som (circa 1.100 US-Dollar) zahlen.
Bereits im Mai erschien auf YouTube ein Kenesary gewidmetes Video, dessen Autor Kirgistans Präsidenten Sadyr Dschaparow mit seinen Worten über das schwierige Verhältnis zwischen dem Khan und den Kirgisen so sehr beleidigte, dass Präsident Dschaparow, bewaffnet mit Zitaten von Sunzi, einen eindrucksvollen Antwortbeitrag auf Facebook veröffentlichte.
Darin rief Dschaparow Kirgis:innen und Kasach:innen dazu auf, sich nicht auf Provokationen einzulassen, die auf die Anstiftung zu interethnischem Hass abzielen, und beschrieb ausführlich die Umstände des Todes des Khans. Die Behauptungen der Autoren des Videos, „Kasachen und Kirgisen hätten gemeinsame Feinde, eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Berge, aber keine gemeinsame Zukunft“, sowie die Anschuldigungen, die kirgisischen Führer hätten Kenesary betrügerisch in eine Falle gelockt und ihn dann heimtückisch erledigt, bezeichnete Dschaparow als einen Versuch, historische Tatsachen zu verfälschen und einen Keil zwischen die beiden Völker zu treiben.
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Nach Dschaparows Reaktion veröffentlichte derselbe YouTube-Kanal eine versöhnliche Erklärung, in der er dem Präsidenten für seine Aufmerksamkeit dankte und die Anstiftung zum Zwiespalt ausschließlich auf „den Großmachtchauvinismus“ zurückführte, „der seit der Zeit des Russischen Reiches systematisch Nationen gegeneinander ausgespielt hat“ und „heute erneut sein Haupt erhebt“.
Und da wir bereits mit universellen Argumenten begonnen haben – in dem Sinne, dass das schwere Erbe des Zaren- bzw. Sowjetregimes sowie die „rasanten 90er Jahre“ jedes entstandene Missverständnis erklären können – wollen wir uns etwas ausführlicher mit den Taten von Kenesary Khan befassen: wie sich seine Beziehungen zu seinen Nachbarn entwickelten und wie sich die Einschätzung seiner Aktivitäten in den letzten fast zweihundert Jahren veränderte.
Der letzte Khan
Kenesary wurde 1802 als Enkel von Äbylaı Khan geboren – dem letzten Herrscher, dessen Autorität von allen kasachischen Horden offiziell anerkannt wurde. Diese waren damals allerdings bereits vom Russischen Reich abhängig. Man kann also sagen, dass Kenesary aus der einflussreichsten Familie der Steppe stammte, und als Zar Alexander I. 1822 mit seiner Charta „Über die sibirischen Kirgisen“ (Bezeichnung für die Kasachen der Mittleren Horde, Anm. Fergana News) die Autorität des Khans effektiv liquidierte, beschloss diese Familie, Widerstand zu leisten. Schließlich hatte sie etwas zu verlieren, zumal der letzte Khan der Mittleren Horde, Kenesarys Cousin Gubaidulla Khan, von den zaristischen Behörden ins Exil in die Taiga geschickt worden war.
Mitte der 1820er Jahre nahmen Kenesary, sein Vater Qasym und seine Brüder an einem Partisanenkrieg gegen die Russen teil. „So Gott will, werden wir alle Kirgisen (also Kasachen) vereinen und wieder zu dem werden, was wir unter Äbylaı Khan waren. Andernfalls möge uns sein heiliger Wille begleiten!“, soll er damals gesagt haben.
Der sowjetische Historiker Michail Wjatkin beschreibt Kenesary in seinen 1941 veröffentlichten „Essays zur Geschichte der Kasachischen SSR“ wie folgt: „Machthungrig, energisch, mit außergewöhnlichem Verstand, großem Organisationstalent und unbeugsamem Willen ausgestattet“.
Der Lokalhistoriker und damalige Bürgermeister von Orenburg, Nikolaj Sereda, beschreibt den Khan in „Aufstand des kirgisischen Sultans Kenesary Qasymov“ (1871 in der Monatszeitschrift „Vestnik Evropy“ erschienen) wie folgt: „Er war ein entschlossener, energischer Mann. Erzogen nach den Regeln der ererbten Rache, war er grausam gegenüber dem besiegten Feind, bis hin zum Fanatismus. Die Teilnahme an Raubzügen und Baranten [Raubzüge zur Viehbeute] von früher Kindheit an machte ihn zu einem hervorragenden Reiter. Und im Falle eines Misserfolgs stählte die Flucht in die futterlosen Gebiete der Steppe seinen Geist in allen möglichen Strapazen und machte ihn so zäh wie ein Kamel. Schnell in seinen Raubzügen, wie ein alles vernichtender Steppenorkan, machte er vor keinem Hindernis halt. Im Gegenteil, jedes Hindernis schien seinen unnachgiebigen Willen nur zu reizen und machte ihn in seinen Unternehmungen noch schneller und kühner, bis schließlich alle Hindernisse auf dem Weg zum gewünschten Ziel vor seiner Energie zermalmt wurden.“
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Von den zaristischen Truppen aus dem Norden bedrängt, wanderten die Qasymovs in das vom Khanat Kokand kontrollierte Gebiet aus. Dieses erreichte zu dieser Zeit seine maximale Größe, auch aufgrund der aktiven Expansion in der kasachischen Steppe. Hier führte Kenesary, laut den Memoiren seines Sohnes Ahmet Kenesarin, „ein beschauliches Leben unter der Führung von Ishan Rahman-Izler“.
Im Allgemeinen wurde der Krieg mit den Russen bis 1836 hauptsächlich von Kenesarys älterem Bruder Sarjan geführt, der auch an Feldzügen auf Seiten von Kokand teilnahm. Als jedoch der Taschkenter Gouverneur des Khans die Ermordung von Sarjan (und einige Jahre später des Vaters Qasym) anordnete, musste Kenesary nach Chiwa und von dort in seine heimatlichen Nomadenlager in der Mittleren Horde fliehen.
Im November 1837 führte Kenesary seinen ersten großen unabhängigen Angriff auf eine Kosakenabteilung durch, die eine Karawane begleitete. Als Reaktion darauf organisierten die zaristischen Behörden eine Strafexpedition in kasachische Dörfer. Ein Jahr später griff Kenesary mit einer Armee von mehreren tausend Mann die Festung Akmolinsk [heute Astana, Anm. d. Ü.] an. Danach nahmen, wie Sereda schreibt, „die Unruhen in den Steppen einen deutlicheren, alarmierenden und chronischen Charakter“ an.
Kenesary nutzte geschickt die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verwaltungen der Generalgouvernements Orenburg und Westsibirien (das Land der Mittleren Horde war zwischen diesen Regionen des Reiches aufgeteilt) und erwies sich als hervorragender Taktiker. Er kämpfte lange Zeit erfolgreich gegen den russischen Einfluss auf einem ziemlich großen Gebiet: Seine Truppen operierten in den Kökşetau- und Ūlytau-Bergen, in den Tälern der Flüsse Torğaı und Irgiz, am Aralsee sowie am unteren und mittleren Syrdarja.
Der Aufstand breitete sich auf fast das gesamte Land der Mittleren Horde sowie auf Teile der Ländereien der Jüngeren und Älteren Horde aus. Darüber hinaus kämpfte Kenesary nicht nur gegen die Truppen des Zaren, sondern auch mit seinen Stammesgenossen, die der russischen Krone treu blieben: Wie seine Feinde, die Kosaken, plünderte er jene Dörfer vollständig aus, die sich ihm nicht unterwarfen.
Irgendwann zwangen die Strafmaßnahmen der Behörden den zukünftigen Khan, erneut bei den Kokandern Zuflucht zu suchen. Doch auch diesmal verriet ihn die lokale Elite: Auf Befehl des Gouverneurs von Taschkent wurden nicht nur das Familienoberhaupt Qasym, sondern auch Kenesarys zwei Frauen, sein Sohn und seine Tochter getötet. Da er keine Hoffnungen auf Unterstützung in Kokand und Chiwa hatte (der lokale Herrscher weigerte sich, mit Russland zu kämpfen), beschloss Kenesary, Frieden zu schließen. Er bat die zaristische Verwaltung um Amnestie und erklärte, er habe einzig und allein wegen der Repressionen gegen friedliche Nomaden zu den Waffen gegriffen.
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Kenesary schrieb an General Grigorij Gens, den Leiter der Orenburger Grenzkommission, die sich mit den Angelegenheiten Kasachstans befasste: „Obwohl wir seit einiger Zeit vom wahren Weg abgekommen sind und mit den Russen der sibirischen Linie gestritten haben, haben wir nun den wahren Weg gefunden. Wir bereuen und möchten ihm folgen.“
Nach der Amnestie hatte Kenesary jedoch keine Eile, sich einem friedlichen Leben zu widmen, wie es die russischen Behörden erwartet hatten. Im Gegenteil, sein Aufstand flammte mit neuer Kraft auf. Offiziell wurde er beim Qurultaı als Khan aller Kasachen anerkannt (in Wirklichkeit fand dies bei der lokalen Elite keine allgemeine Unterstützung), und er versuchte, auf internationaler Ebene mit dem Emir von Buchara über gemeinsame Aktionen gegen das Khanat Kokand zu verhandeln.
Ahmet Kenesarin zufolge „wollte und hoffte Kenesary, sich auf Russland im Rücken zu stützen, an Kokand Rache für den Mord an seinem Vater und seinen Brüdern zu nehmen, die Große Horde [Ältere Horde, Anm. d. Ü.] von Kokand zu trennen und sogar das Khanat zu erobern.“
Doch in St. Petersburg wollte man nicht, dass eine unabhängige politische Figur in der Steppe auftauchte. Man begann zu befürchten, der Khan könnte vom Untertan Russland zu einem Bucharas wechseln. Als Kenesarys Leute erneut begannen, die den Russen unterworfenen Dörfer auf seine Seite zu ziehen und ihnen verboten, Steuern an die kaiserliche Staatskasse zu zahlen, und als seine Truppen nach Westen bis an die Flüsse Embi und Ural vordrangen und die Kokander nach Süden zurückdrängten, kehrten die zaristischen Behörden zu einer Strafpolitik zurück. Die Grenzkommission erklärte den Khan zum Rebellen und setzte eine Belohnung von 3.000 Rubel auf seinen Kopf aus.
Dennoch blieben jahrelange Versuche, die Steppe zu befrieden, ergebnislos. Kenesary forderte von den zaristischen Behörden die Rückgabe der beschlagnahmten Nomadenlager und die Anerkennung eines unabhängigen kasachischen Staates, der nicht dem Russischen Reich unterstand, sondern lediglich mit ihm verbündet war. In St. Petersburg war man jedoch nicht zu Kompromissen bereit – die zaristischen Truppen errichteten in der Steppe eine Reihe von Befestigungen und brachten zusammen mit den der russischen Regierung treu ergebenen kasachischen Sultanen das Blatt allmählich zu ihren Gunsten. Kenesary musste sich nach Süden zurückziehen, in Richtung der Flüsse Sarysu und Şu.
Hier befanden sich die Nomadenlager der Älteren Horde, deren Sultane 1846 ebenfalls der russischen Krone die Treue schworen. Einige von ihnen mobilisierte Kenesary jedoch für den Krieg gegen Kokand und versprach, mit den eroberten Ländern zu bezahlen. Trotz der Einnahme mehrerer Festungen in Kokand zog sich Kenesary, dessen Truppen mit Cholera infiziert waren, bald weit nach Südwesten, jenseits des Flusses Ili, zurück. Von hier aus unternahm er einen Feldzug gegen die Kirgisen oder Kara-Kirgisen, wie die Russen sie damals nannten.
Kenesary verliert den Kopf
Zunächst versuchte Kenesary erfolglos, ein Bündnis mit den Chinesen auszuhandeln. Er hegte die Hoffnung, nach der Sicherung der Etappe die gesamten Ältere Horde und die benachbarten Kirgisen hinter sich zu sammeln und anschließend erneut gegen Kokand in den Krieg zu ziehen. Denn der Gedanke an Rache für den Verrat ließ den Khan nicht los.
Die Kirgisen selbst waren jedoch keineswegs erpicht darauf, sich dem rastlosen Khan anzuschließen. Und dieser Umstand sollte nicht überraschen, da sich die Mehrheit der Kasachen zu diesem Zeitpunkt geweigert hatte, ihm zu folgen. Einige der kirgisischen Stämme unterstanden direkt Kokand, während andere 1842 Ormon Khan, den einflussreichsten Feudalherren in der Gegend um den Ysyk-Köl, als obersten Herrscher anerkannten. Und obwohl auch in dieser Frage keine Einigkeit unter den Kirgisen herrschte, änderte sich die Situation, als die Gefahr einer Invasion von außen aufkam.
So schreibt der sowjetische Historiker Begimal Jamgerchinov: „Erst während der Offensive von Sultan Kenesary gegen die Kirgisen schlossen sich alle kirgisischen Stämme, mit Ausnahme jener aus dem Süden, hinter Ormon Khan zusammen, was seiner Macht einen gewissen Anschein verlieh.“
Nachdem er die an der Grenze zu China lebenden Kirgisen unterworfen hatte, ging Kenesary gegen die „wilden Steinkirgisen“ vor (wie die im Tien Shan lebenden kirgisischen Stämme in russischen Quellen aufgrund ihrer „Kriegslust, ihres Mutes und ihrer Grausamkeit“ genannt wurden). Sein Ziel war es, sie seiner Macht zu unterwerfen, nach Kokand zu gehen und sich dort selbst zum Khan auszurufen.
Eine ähnliche Interpretation gibt Sereda. Andererseits heißt es in dem von Jamgerchinov zitierten Manuskript „Kasachisch-kirgisische Ereignisse“, Kenesary habe zuvor eine Botschaft an Ormon Khan geschickt mit dem Vorschlag, seine Vorherrschaft anzuerkennen und nach der Vereinigung gegen die Russen vorzugehen. Doch was auch immer Kenesarys weitere Absichten waren, Ormon Khan weigerte sich, sich ihm zu unterwerfen – er hielt sich der Macht des Khans würdiger und kümmerte sich nicht um die Pläne des kasachischen Anführers.
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Ormon Khan erkannte, dass ein Krieg unvermeidlich war. Er knüpfte, da er bereits die Unterstützung der Bevölkerung Kokands im bevorstehenden Konflikt genoss, auch Kontakte zu den zaristischen Behörden. Im Wesentlichen sah sich Kenesary nun einer ganzen Koalition gegenüber, obwohl die gesamte Last des Krieges zu diesem Zeitpunkt auf den Kirgisen lag und, was wichtig war, ihre Führer alle Entscheidungen unabhängig trafen.
Im Frühjahr 1847, als Kenesarys Armee auszog, um die umliegenden Dörfer zu verwüsten, fand sich der Khan selbst mit mehreren tausend Kämpfern auf einem Hügel am linken Ufer des Şu, vier Kilometer von der Stadt Tokmok entfernt, vom Feind umzingelt. Der Khan hielt mehrere Tage lang die Verteidigung, wurde dann aber, von einem Teil seiner Armee im Stich gelassen und so besiegt, gefangen genommen und hingerichtet.
Sereda berichtet folgende blutige Einzelheiten: „Nachdem die wilden Steinkirgisen Kenesary getötet hatten, schlugen sie ihm den Kopf ab und trugen ihn, auf eine Pike gesteckt, durch die Dörfer, um die verängstigten Bewohner zu beruhigen; Kenesarys Leiche wurde aus Rache den Frauen übergeben, die sie in kleine Stücke schnitten.“
Auch andere Quellen berichten von einer „qualvollen Hinrichtung“, doch was den Kopf des Khans betrifft, gibt es Zweifel: Es ist nicht ganz klar, ob die Versendung dieser schrecklichen Trophäe nach Russland auf Initiative der Sieger erfolgte oder ob die zaristischen Behörden einfach sicherstellen wollten, dass der Rebell, der ihnen so viel Ärger bereitet hatte, wirklich tot war. Auch Sadyr Dschaparow beharrt auf letzterer Version.
Andererseits schrieb der kirgisische Feudalherr Dschanatai Karabekow an den Generalgouverneur von Westsibirien, Pjotr Gortschakow: „Er versprach uns ein Lösegeld […] wie wir wollten … aber wir … wurden von den Kaufleuten überzeugt und stellten fest, dass ein großer Staat wie Russland sicherlich nicht ohne eine Belohnung für die Tötung des Lügners und Rebellen Kenesary gehen würde, und so ließ ich ihn nicht mein Gesicht sehen und befahl meinem Verwandten Kodschibek, ihm den Kopf abzuschlagen.“
Die Belohnung fiel indes enttäuschend aus. Kaligulla Alibekow, der den Kopf zu Gortschakow nach Omsk brachte, erhielt vom Generalgouverneur „eine silberne Medaille, die er an einem St.-Georgs-Band um den Hals tragen sollte“.
Leben nach dem Tod
In der russischen, sowjetischen und modernen kasachischen Geschichtsschreibung wurde Kenesary immer wieder neu bewertet. Während der Aufstand des Khans in vorrevolutionären Zeiten eindeutig als traditioneller „Diebesaufstand“ angesehen wurde, der die Expansion des Reiches nach Süden zugegebenermaßen lange verzögerte, bemühte man sich unter den Bolschewiki, ihm sowohl einen klassenbezogenen als auch einen antikolonialistischen Charakter zu verleihen.
Angeblich erhoben sich die verarmten Kasachen gegen russische Großgrundbesitzer, Kapitalisten und andere „Bourgeois“. Gleichzeitig kamen Vorwürfe auf, die Familie Qasymov habe aus egoistischen Motiven gehandelt. Der Khan und seine Brüder hätten aus Groll über die Weigerung der zaristischen Behörden, sie als Sultane einzusetzen, zu den Waffen gegriffen. Und Kenesary selbst sei in erster Linie von persönlichem Ehrgeiz und nicht von der Sorge um das kasachische Volk getrieben gewesen.
In der Nachkriegszeit erreichte die Kontroverse um Kenesary ihren Höhepunkt: Der Historiker Ermuhan Bekmahanov versuchte zu beweisen, dass die vom Khan angeführte Bewegung durch die Verzögerung der Kolonisierung eine fortschrittliche Rolle in der Geschichte Kasachstans gespielt hatte. Er wurde des „bürgerlichen Nationalismus“ beschuldigt und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach dem Tod Josef Stalins gelang es seinen Kollegen, den Gelehrten zu rehabilitieren und seine Freilassung zu erwirken.
Einer anderen Ansicht zufolge war der Kenesary-Aufstand zunächst nur ein antikolonialer Befreiungskampf der Kasachen gegen Russland und Kokand, artete aber später in feudale Konflikte aus, wie die Invasion kirgisischer Gebiete zeige. Dennoch herrschte in den späten Sowjetjahren eine allgemein negative Einschätzung vor: Der Aufstand sei zwar durch die zunehmende koloniale Unterdrückung durch die zaristische Verwaltung provoziert worden, aber reaktionärer und monarchistischer Natur gewesen, und seine Anführer hätten in keiner Weise die Interessen ihres eigenen Volkes vertreten.
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Im modernen Kasachstan wird Kenesary Qasymūly eindeutig als Nationalheld wahrgenommen, und seine Kriege gegen innere und äußere Feinde gelten im Allgemeinen als gut begründet. Besonders hervorgehoben wird die Tatsache, dass der Aufstand eine landesweite Anstrengung war, obwohl diese Behauptung, gelinde gesagt, recht gewagt erscheint. Es wird darauf hingewiesen, dass „die Mehrheit der Bevölkerung aller drei Horden“ an der vom Khan angeführten „nationalen Befreiungs- und Antikolonialismusbewegung“ teilnahm und nur die Haltung des von den Privilegien des Zarismus verführten Teils des Adels zur Niederlage des Aufstands führte.
Und doch wird Kenesarys übermäßige Grausamkeit gegenüber seinen abweichenden Landsleuten und den Kirgisen ebenfalls anerkannt. Das Eingeständnis gewisser Fehler Kenesarys gibt Anlass zur Hoffnung, dass diese reale und zweifellos außergewöhnliche Figur nicht letztlich zum Mythos des idealen Freiheitskämpfers verkommt. Denn je mehr Mythen sich um die Ereignisse jener Jahre ranken, desto weniger wird Kenesary selbst dahinter sichtbar sein.
Pjotr Bologow für Fergana News
Aus dem Russischen (und gekürzt) von Robin Roth
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Der letzte kasachische Khan: Leben und Tod von Kenesary Qasymūly