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Kirgistan wählt Sadyr Dschaparow und entscheidet sich für eine Präsidialregierung

Die vorgezogene Präsidentschaftswahl in Kirgistan endete mit einem klaren Sieg für Sadyr Dschaparow. Die Wahl fand zeitgleich mit einem Referendum über die bevorzugte Regierungsform statt. Über 80 Prozent der Wähler entschieden sich für ein präsidentielles statt eines parlamentarischen Systems. Das Wahlergebnis ebnet den Weg für weitreichende Verfassungsänderungen.

Wahlbüro in Bischkek

Die vorgezogene Präsidentschaftswahl in Kirgistan endete mit einem klaren Sieg für Sadyr Dschaparow. Die Wahl fand zeitgleich mit einem Referendum über die bevorzugte Regierungsform statt. Über 80 Prozent der Wähler entschieden sich für ein präsidentielles statt eines parlamentarischen Systems. Das Wahlergebnis ebnet den Weg für weitreichende Verfassungsänderungen.

Nach den vorläufigen Ergebnissen nach Schließung der Wahllokale am 10. Januar wurde Sadyr Dschaparow mit 79,9 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Kirgistans gewählt, wodurch eine Stichwahl entfällt. Fast 85 Prozent der Wähler entschieden sich in einem Referendum, das zeitgleich mit der Wahl stattfand, für eine präsidentielles Regierungssystem.

In seiner Heimatregion Yssykköl erhielt Dschaparow sogar 93 Prozent der Stimmen, in der Hauptstadt Bischkek jedoch nur 50 Prozent. An zweiter Stelle steht Adachan Madumarow mit knapp sieben Prozent der Stimmen.

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Die Wahlbeteiligung war mit rund 33 Prozent gering und lag nur knapp über der für die Gültigkeit des Referendumsergebnisses erforderlichen Schwelle von 30 Prozent. Bei der letzten Präsidentschaftswahl im Jahr 2017 hatten noch 56,2 Prozent der Wähler ihre Stimme abgegeben.

Nachdem sich Raschid Tagajew Ende Dezember aus dem Rennen zurückgezogen hatte, konnten die Wähler bei der Präsidentschaftswahl zwischen 16 Männern und einer Frau wählen.

Schnellwahlen nach einer politischen Krise

Das Amt des Präsidenten ist seit dem Rücktritt von Präsident Sooronbaj Dscheenbekow am 15. Oktober unbesetzt. Dies geschah nach einer umstrittenen und schließlich annullierten Parlamentswahl im Oktober. Das scheidende Parlament verschob eine neue Parlamentswahl auf unbestimmte Zeit und veranlasste die Durchführung des Referendums über das Regierungssystem.

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Die Venedig-Kommission kritisierte auf Anfrage des Obersten Gerichts Kirgistans diesen Schritt: „Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Aussetzung der Wahlen, die mit der Notwendigkeit einer Verfassungsreform begründet wird, einer rein instrumentelle Wahrnehmung der Verfassung entspricht und nicht als im Einklang mit demokratischen Standards betrachtet werden kann.“

In einem langen Überblick über die Ereignisse, die zur Wahl führten, bezeichnet Kloop.kg die politische Krise, die im Oktober begann, als „(Nicht-)Revolution“: „Der Protest, eingeleitet von jungen Politikern und jenen, die mit den Wahlergebnissen unzufrieden waren, wurde nicht zu einer dritten Revolution und hat noch keine Änderung der politischen Elite mit sich gebracht“. Tatsächlich ging Dschaparow als größter Nutznießer aus der Krise hervor: Nachdem er am 6. Oktober aus dem Gefängnis befreit worden war, wurde er nach Dscheenbekows Rücktritt Interimspräsident und verließ das Amt erst am 14. November, um für die Präsidentschaft zu kandidieren.

Ein Wahlkampf mit einem klaren Spitzenkandidaten

Der Wahlkampf, der Anfang Dezember begann, wurde von Dschaparow klar dominiert. Während er das Amt des Interimspräsidenten bekleidete, nominierte er enge Verbündete für Schlüsselpositionen im Staat und verfügte über das mit Abstand größte Wahlkampfbudget: 67 Millionen Som (etwa 660 000 Euro), also mehr als das Budget aller anderen Kandidaten zusammen. Wie Kloop.kg feststellte, profitierte Dschaparow zudem von der Unterstützung organisierter Social-Media-Trolle, die zuvor für Mekenim Kyrgyzstan gearbeitet hatten, einen der Gewinner der annullierten Parlamentswahl.   

Laut Deutscher Welle war Dschaparow infolgedessen auf Bannern und in TV-Spots „allgegenwärtig“. Aus seiner Position als Spitzenkandidat heraus weigerte er sich, an den vom staatlichen Fernsehsender KTRK organisierten Wahldebatten teilzunehmen: „Es ist für uns alle nützlicher, Leute zu treffen. Es ist nützlicher, näher am Volk zu sein“, kommentierte er und bezeichnete die Debatten als Ort der „Diffamierung“.

Dschaparow appelliert an die benachteiligtsten Teile der kirgisischen Bevölkerung. Eine Beziehung, die er häufig mit populistischen Verweisen auf „das Volk“ als Ganzes instrumentalisiert. So erklärte er in einem Interview nach der Stimmabgabe, dass sein Wahlkampfbudget „vom Volk gesammelt“ wurde. Er beschwor auch die Möglichkeit von „konterrevolutionären Unruhen“ nach der Wahl und fügte hinzu: „Aber ich glaube, das kirgisische Volk wird das nicht zulassen“.        

Mutmaßliche Verstöße am Wahltag

Nach der gekippten Parlamentswahl schien die Überwachung von Verstößen während des Wahlvorgangs besonders heikel. Wie schon im Oktober schickte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nur eine begrenzte Beobachtungsmission mit 13 Experten und 22 Langzeitbeobachtern zum Urnengang. Ihrerseits ist „eine systematische Beobachtung der Stimmabgabe, der Auszählung oder der Tabellierung der Ergebnisse am Wahltag nicht vorgesehen.“

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In Erweiterung einer im Oktober gestarteten Initiative schickte das unabhängige Online-Medium Kloop.kg jedoch rund 1.500 Beobachter zu den Wahllokalen im ganzen Land und berichtete den ganzen Tag über den Wahlprozess. In seiner Live-Berichterstattung über den Wahltag dokumentierte die Online-Zeitung vermeintliche Manipulationen des Wahlergebnisses. Im Gegensatz zur Wahl im Oktober mussten die Wähler an ihrem Wohnort abstimmen, was den organisierten Transport von treuen Wählern zu strategischen Wahllokalen reduzierte.

Es gab auch weniger Stimmenkauf als im Oktober, was ebenfalls eine Erklärung für die niedrige Wahlbeteiligung sein könnte, wie der politische Experte Azim Azimov auf Twitter erklärte. Auch der Leiter der Wahlkommission teilte diese Ansicht und merkte an, dass „der Hauptfaktor, der die Wahlbeteiligung beeinflusste, der Stimmenkauf war“. Beobachter berichteten jedoch von Fällen, in denen Wählern Geld ausgehändigt wurde und dritte Parteien oder Mitglieder von Wahlkommissionen separate Listen mit „loyalen“ Wählern führten.  

Die meisten anderen Probleme betrafen die Verletzung des Wahlgeheimnisses in zahlreichen Wahllokalen. In solchen Fällen war der Abstand zwischen Drittpersonen und den Wahlurnen zu gering, Mitglieder der Wahlkommission schauten Wählern über die Schulter, machten Fotos vom Stimmzettel und gaben manchmal sogar selbst deren Stimme ab.

Darüber hinaus berichtet Kloop.kg von Hunderten nicht funktionierender elektronischer Wahlurnen. Das elektronische Wahlsystem und die biometrische Wähleridentifikation wurden 2015 erstmals in Kirgistan eingesetzt und soll die krassesten Formen des Wahlbetrugs verhindern. Schließlich wurde die Arbeit der Beobachter in mehreren Fällen von Mitgliedern der Wahlkommission oder von der Polizei behindert und manchmal wurden ihre Telefone konfisziert.

Trotz dieser Unregelmäßigkeiten meint Politexperte Azim Azimov, die Wahl sei deutlich weniger manipuliert worden als die Präsidentschaftswahlen 2011 und 2017. „Sadyr Dschaparow triumphiert heute, aber er ist ein Koloss auf tönernen Füßen. Sein Sieg ist nicht einmal ein Vorschuss, sondern eine zinsreiche Verschuldung“, kommentierte er auf Twitter.      

Was erwartet Kirgistan?

In einer Pressekonferenz am späten Abend des 10. Januar sagte Dschaparow, er glaube, die Wahl sei fair gewesen: „Bevor ich an die Macht kam, glaubte ich nicht an die Ehrlichkeit von Wahlen. Aber nachdem ich die Arbeit der ZWK (Zentrale Wahlkommission) untersucht habe, bin ich überzeugt, dass dort alles ehrlich abläuft.“ Er versprach außerdem, ein faires Justizsystem aufzubauen und die Korruption zu bekämpfen, wobei er sich auf die Forderungen der Oktoberproteste nach Lustration berief: „Alle Arbeit wird offen und transparent durchgeführt werden. Wir werden keine politische Verfolgung dulden und werden keine Gesetzesbrecher schützen. Wir müssen uns von alten Bürokraten und korrupten Beamten säubern. Das ist die Forderung des Volkes.

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Während die jetzige Wahl das Ergebnis von Protesten im Oktober war, behaupteten mehrere Mitglieder der Übergangsregierung, sie würden eine Wiederholung dieses Szenarios verhindern. So sagte der Interims-Premierminister Artjom Nowikow nach seiner Stimmabgabe: „Die Regierung ist auf mögliche Provokationen vorbereitet. Ich nutze diese Gelegenheit, um alle Kandidaten im Wahlkampf aufzurufen, die Ergebnisse zu akzeptieren, wie auch immer sie ausfallen mögen, um politischen Willen und Verantwortung gegenüber dem Land und den Bürgern zu zeigen“.

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Die Wahlen markieren eine neue Etappe des im Oktober begonnenen politischen Übergangs. Nach seinem Amtsantritt als Staatsoberhaupt plant Dschaparow eine weitreichende Verfassungsreform, die seine Befugnisse wahrscheinlich auf Kosten des Parlaments ausweiten wird. Ein entsprechendes Verfassungsprojekt war bereits im November vorgeschlagen und von der Opposition als autoritäre „Khanstitution“ bezeichnet worden.

Dennoch könnte eine solche Machtkonzentration in Ermangelung angemessener sozioökonomischer Reformen zu einem „weiteren Zyklus“ von Revolutionen führen und „eine Normalisierung von Revolten und gewaltsamen Machtübernahmen“ fördern, wie die Soziologin Asel Doolotkeldieva am Morgen auf Twitter schrieb. „Ich bin traurig zu sehen, dass die Menschen große Hoffnungen in Dschaparow und einen starken Präsidenten setzen. Sie verstehen nicht, dass eine unbegrenzte, unkontrollierte Präsidentschaft eine Quelle der Instabilität und des wirtschaftlichen Niedergangs war und sein wird…

Florian Coppenrath
Redaktionsleiter, Novastan Deutsch

Valentine Baldassari
Redakteurin bei Novastan English

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