Startseite      Vom Häftling zum Regierungschef: Kirgistans neuer Ministerpräsident mit zweifelhafter Legitimität

Vom Häftling zum Regierungschef: Kirgistans neuer Ministerpräsident mit zweifelhafter Legitimität

Während sich Kirgistan seit dem 5. Oktober in einer revolutionären Situation befindet und die Parlamentswahlen angefochten wurden, kam das Parlament am 10. Oktober zusammen, um den frisch aus dem Gefängnis befreiten Sadyr Dschaparow zum Premierminister zu wählen. Seine Wahl wird weithin wegen ihrer Rechtmäßigkeit kritisiert, und sein Status als Premierminister erscheint fragil.

Dschaparow wird kirgisischer Premier
Der umstrittene kirgisische Politiker Sadyr Dschaparow ist in Folge der turbulenten Wahl 2020 zum Premierminister ernannt worden.

Während sich Kirgistan seit dem 5. Oktober in einer revolutionären Situation befindet und die Parlamentswahlen angefochten wurden, kam das Parlament am 10. Oktober zusammen, um den frisch aus dem Gefängnis befreiten Sadyr Dschaparow zum Premierminister zu wählen. Seine Wahl wird weithin wegen ihrer Rechtmäßigkeit kritisiert, und sein Status als Premierminister erscheint fragil.

Am 10. Oktober traf sich das Parlament in der Ala-Artscha-Staatsresidenz südlich von Bischkek, um Sadyr Dschaparow mit einer fast unveränderten Regierung zum Interimspremierminister zu wählen, berichtete mitunter das kirgisische Medium Kaktus.

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Seit dem Morgen des 10. Oktober befindet sich die Hauptstadt, nach der Entscheidung von Präsident Sooronbai Dscheenbekow, im Ausnahmezustand, und die Armee wurde dorthin entsandt, um eine instabile und gewalttätige Situation zu stabilisieren, die seit der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober einen Toten und mehrere hundert Verwundete hervorgebracht hat.

Eine Wahl von zweifelhafter Legalität

Die Herausforderung bei dieser Ernennung bestand darin, einen Premierminister verfassungsgemäß zu wählen, der in der Lage ist, das Land aus der Krise zu führen. Es gab zuvor mehrere Versuche, das Parlament einzuberufen und eine Abstimmung zur Legitimierung einer neuen Regierung durchzuführen. Sie blieben jedoch erfolglos, da das für die Gültigkeit der Abstimmung erforderliche Quorum von 50 Prozent der Abgeordneten nicht erreicht worden war. Von den 120 Abgeordneten des Dschogorku Kengesch, des kirgisischen Parlaments, waren 51 am Samstag, dem 10. Oktober, in der Staatsresidenz anwesend und 10 stimmten in Vertretung ab. Insgesamt 61 Stimmen, etwas mehr als die Hälfte der Abgeordneten.

Der altgediente Politiker Felix Kulow stellt die Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens in Frage und erklärt, dass die Hälfte der 120 Abgeordneten tatsächlich anwesend sein muss, damit die Abstimmung gültig ist. Darüber hinaus behauptet die Abgeordnete Aida Kasymaliyewa auf ihrer Facebook-Seite, dass sie die Versammlung vor der Abstimmung verlassen habe. Somit habe es keine Mehrheit der Abgeordneten gegeben, sie wurde aber dennoch als Wählerin gezählt. Folglich seien die Abstimmung und die Ernennung von Sadyr Dschaparov nicht rechtmäßig. Sie behauptet auch, dass sie von ihren Kollegen bedroht wurde, an der Abstimmung teilzunehmen. Die Adilet-Rechtsklinik, eine Gruppe kirgisischer Juristen, behauptet auch, dass Dschaparow Wahl zum Premierminister wegen „eklatanter Verstöße gegen die Verfassung und die Gesetzgebung, vor allem wegen des fehlenden Quorums“ nicht rechtsgültig sei.

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Nach einer Rede von Dschaparov über sein politisches Programm und Fragen von Abgeordneten nahmen die 51 anwesenden gewählten Vertreter durch Handzeichen einstimmig seine Kandidatur für das Amt des Übergangspremierministers an, ebenso wie seinen Vorschlag zur Bildung einer Regierung, die der vorherigen fast identisch ist. Die anwesenden Fraktionen entsprachen der alten Regierungskoalition. Wie Kaktus ausführte, nahm kein Abgeordneter, der offen gegen die Nominierung von Dschaparow war, an der Sitzung teil. Allerdings ist Dschaparow noch nicht vollständig als Premierminister eingeführt worden, da der Präsident das Nominierungsdekret noch nicht unterzeichnet hat, was meistens eine reine Formalität darstellt.

Sadyr Dschaparow, 15 Jahre Politik auf dem Tacho

Sadyr Dschaparow, geboren 1968 im Norden der Region Yssyk-Köl, schloss 1991 sein Sportstudium in Bischkek ab. Er war zunächst Direktor einer Kolchose und dann eines kleinen Erdölvertriebsunternehmens, Nurneftgaz, bevor er während der Revolution 2005 an der Seite von Kurmanbek Bakijew in die Politik eintrat. Letzterer wurde im Anschluss zum Präsidenten gewählt. Dschaparow wurde dann zum Abgeordneten und diente später als Berater des Präsidenten und Direktor der Agentur für Korruptionsprävention. Nach seinem Verschwinden während der Revolution von 2010, die Kurmanbek Bakijew stürzte, kehrte der Politiker bei der ersten postrevolutionären Wahl von 2010 als Abgeordneter der Ata-Dschurt-Partei an der Seite des aus dem Süden des Landes stammenden politikers Kamtschibek Taschijew zurück.

Im Jahr 2012 setzte sich Dschaparow für die Verstaatlichung der wichtigsten Goldmine des Landes, Kumtor, in seiner Heimatregion Yssyk-Köl ein. Er nahm an Demonstrationen teil, bei denen versucht wurde, das Parlament in Bischkek einzunehmen. Bei einer ähnlichen Aktion in Karakol nahm er mit weiteren Demonstranten den Gouverneur der Region als Geisel, wofür er anschließend von der Polizei gesucht wurde. Dschaparow floh aus dem Land und lebte auf Zypern im Exil, bevor er 2017 in seine Heimat zurückkehrte, wo er an der kasachisch-kirgisischen Grenze verhaftet und später zu 11 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Dschaparow war bis in die Nacht vom 5. auf den 6. Oktober im Gefängnis, als das Parlament im Rahmen einer Demonstration gegen gefälschte Wahlen zugunsten regierungsnaher Parteien gestürmt wurde. Einige Demonstranten, die sich für die Sache Dschaparows einsetzten, forderten vor dem Hauptquartier des Staatlichen Komitees für Nationale Sicherheit (GKNB) seine Freilassung. Diese wurde sofort von einem Aufruf seiner Anhänger begleitet, ihn zum Präsidenten oder Premierminister zu ernennen.

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Wie das kirgisische Medium Kloop berichtete, erhielt Dschaparow bereits am Abend des 6. Oktober die Unterstützung von Abgeordneten, die versuchten, ihn zum amtierenden Premierminister zu ernennen, ohne jedoch das Ernennung erforderliche Quorum erreicht au haben. Bereits am 8. Oktober zeigte Kaktus, dass viele Fake-Profile in sozialen Medien, die zuvor Unterstützung für den kirgisischen Präsidenten und die Partei Mekenim Kirgistan ausdrückten, bereits am 6. Oktober begannen, sich für Dschaparow einzusetzen. Kloop geht auch auf die Verbindungen zwischen Dschaparow und der Familie Matraimow ein, die im Zentrum eines riesigen Korruptionsskandals steht und der Hauptunterstützer von Mekenin Kirgistan ist. Dschaparow hat jegliche Verbindungen zum Präsidenten Soroonbai Dscheenbekow und der Familie Matraimow bestritten und versichert, dass dessen Hauptvertreten, Raimbek Matraimow, bereits wegen Korruption von der Polizei gesucht wird.

Wie Kloop berichtete, hatte bereits im März dieses Jahres eine Demonstration für die Freilassung von Dschaparow zu Spannungen in der Hauptstadt geführt. Auch diesmal waren einige seiner Unterstützer besonders aggressiv und bedrohten teilweise Journalisten. Laut mehreren Medienberichten waren sie auch für gewalttätige Zusammenstöße mit Teilnehmern an alternativen Demonstrationen auf dem Hauptplatz von Bischkek am 9. Oktober verantwortlich.

Am nächsten Tag, nach der Ausrufung des Ausnahmezustands und dem Einmarsch der Armee in die Hauptstadt, wurde Dschaparow schließlich zum Premierminister ernannt. Zeitgleich wurden mehrere Gegner, darunter der ehemalige Präsident Almasbek Atambajew, verhaftet. Am Abend des 10. Oktober feierten Gruppen, die Dschaparow unterstützen, die Ernennung vor dem Regierungssitz und ignorierten dabei die geltende Ausgangssperre.

Sein Programm als Premierminister

In einer Rede vor dem Parlament sagte Dschaparow, die Ereignisse der letzten Tage seien „kein Staatsstreich, sondern eine friedliche Erneuerung„, da weder die Regierung noch der Präsident geflohen seien. Auf der Pressekonferenz im Anschluss an die Abstimmung brachte er die Wahlergebnisse vom 4. Oktober mit dem „Parteiensystem, das ein Geschäftssystem ist“ in Verbindung, indem er ausweichend die weit verbreitete Korruption als Ursache der Ereignisse beschuldigte und versprach, an die Macht zu kommen, um „die Korruption auszumerzen und das Vertrauen des Volkes wiederherzustellen„.

Er sagte, er habe sich vor der Parlamentsabstimmung mit dem Präsidenten getroffen und dieser habe ihm versprochen, innerhalb von zwei oder drei Tagen zurückzutreten. Die von Kaktus kontaktierte Sprecherin des Präsidenten blieb jedoch ausweichender und kündigte an, dass der Präsident zurücktreten werde, sobald das Land vollständig zur Rechtsstaatlichkeit zurückgekehrt sei.

Das Programm, das der neue Interims-Premierminister dem Parlament vorgelegt hat, stellt die Stabilisierung der Lage im Land und die Verteidigung von Investoren und kleinen und mittleren Unternehmen in den Vordergrund. Zu den zehn Prioritäten, die er ausgerollt hat, gehört auch die „Revision der Abkommen über die Entwicklung der Minen Dscheruj, Kumtor und anderer Minen„, in Übereinstimmung mit seinen früheren Forderungen. Eine Verstaatlichung von Kumtor sei jedoch nicht mehr notwendig, da seiner Meinung nach nicht mehr viel Gold übrig bleibe, sagte er den Abgeordneten.

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Dschaparow hielt es auch für notwendig, das Wahlsystem von einer Verhältniswahl zu einer Mehrheitswahl zu ändern, was eine Revision der Verfassung voraussetzt. Er sagte, dass es nach letzterer, die weit über die Formsache der Abstimmung hinauszugehen scheint, „einen Präsidenten und keinen Premierminister geben wird, es wird ein System von Kurultaj (traditionelle kirgisische Versammlung, Anm. d. Red.) geben. Ich glaube, dass, wenn der Parlamentarismus fortbesteht, die Zahl der Abgeordneten auf 75 oder sogar 50 reduziert wird„. Er ließ auch Zweifel am Datum der neuen Parlamentswahlen, die nach dem 6. Dezember stattfinden könnten, und machte die Abhaltung dieser Wahlen von einer Verfassungsrevision abhängig. Er versicherte jedoch, dass er nicht an ihnen teilnehmen wolle.

Auf die Frage nach seiner Bereitschaft, bei den Präsidentschaftswahlen zu kandidieren, antwortete Dschaparow, dass „wenn viele Kirgistaner mich unterstützen und mich bitten, Präsident zu werden, dann werde ich zu den Wahlen gehen„. Im Falle des Rücktritts von Dscheenbekow und in Abwesenheit eines parlamentarischen Sprechers – letzterer ist am 10. Oktober zurückgetreten – könnte Dschaparow als Premierminister tatsächlich Interimspräsident werden, wie der kirgisische Zweig der russischen Medien Sputnik erklärt.

Pia de Gouvello
Florian Coppenrath

Aus dem Französischen von Arnaud Enderlin

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Kommentieren (1)

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Karl, 2020-10-22

Japarov hat Al-Jazeera ein Interview gegeben. Er spricht kirgisisch, dass ganze ist englisch untertitelt.

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