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Kirgistan 2020 – ein Volk vereint gegen das drohende Chaos

Anfang Oktober 2020 führten in Kirgistan massive Proteste gegen die Fälschung der Parlamentswahlergebnisse zum Sturz der Regierung. Das Land war bereits schwer durch die Corona-Pandemie getroffen. Vor allem junge Leute versuchen nun, das Land vor einem völligen Zusammenbruch zu bewahren.

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Demonstration Bischkek Organisiertes Verbrechen
Demonstration gegen das organisierte Verbrechen in Bischkek am 9. Oktober 2020

Anfang Oktober 2020 führten in Kirgistan massive Proteste gegen die Fälschung der Parlamentswahlergebnisse zum Sturz der Regierung. Das Land war bereits schwer durch die Corona-Pandemie getroffen. Vor allem junge Leute versuchen nun, das Land vor einem völligen Zusammenbruch zu bewahren.

Folgender Artikel stammt aus dem kürzlich erschienenen Themenheft zu Zentralasien von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“. Wir übernehmen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Am 4. Oktober 2020 fanden in Kirgistan Parlamentswahlen statt. 16 Parteien bewarben sich um die 120 Sitze im Einkammerparlament des Landes. Aber die Wähler der Opposition erwartete eine Enttäuschung: Die vorläufigen Ergebnisse der zentralen Wahlkommission zeigten, dass nur vier regierungsfreundliche Parteien die Sieben-Prozent-Hürde genommen hatten. Die Parteien, die den Einzug ins Parlament geschafft hatten, waren mit einflussreichen Figuren der herrschenden politischen Elite Kirgistans im Bunde. Seither wird das Land von bürgerkriegsähnlichen Unruhen heimgesucht.

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Waren die Ergebnisse der Parlamentswahl die Hauptursache der Unruhen? Betrachten wir einmal, welche Ereignisse der Parlamentswahl vorausgegangen sind, die Einfluss auf die kirgisische Geschichte genommen haben.

Die erste Pandemie-Welle und ihre Folgen

Im Sommer erreichte Kirgistan die erste Welle der Corona-Pandemie. Im Land wurde eine der höchsten Sterblichkeitsraten weltweit registriert, die Quarantäne-Maßnahmen kostete das Land ein Fünftel seines Budgets. Kirgistan sperrte zusammen mit den Nachbarstaaten Kasachstan und Usbekistan Ende März die Grenzen des Luftraums und verhängte über das ganze Land strenge Hygieneregeln. So gab es eine Sperrstunde und zeitweise wurde der Ausnahmezustand verhängt. Das öffentliche Leben kam fast völlig zum Erliegen, ebenso stellten die Behörden ihre Tätigkeit ein – oft sprangen Freiwillige in die Bresche. Das völlige Versagen des Staates führte zu einer Protestbewegung, die bereits am 14. Juli ein Amtsenthebungsverfahren gegen Staatspräsident Sooronbai Dscheenbekow forderte und darüber hinaus verlangte, die gesamte Regierung für deren Hilflosigkeit während der Corona-Pandemie zur Verantwortung zu ziehen.

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Die Regierung versprach daraufhin, den Erkrankten und Familien verstorbener Ärzte eine Entschädigung auszuzahlen. Später stellte sich jedoch heraus, dass jeder Fall von einer speziellen Kommission begutachtet werden sollte. Die Machthaber behaupteten, viele Mediziner hätten zu Beginn der Pandemie selbst nicht die notwendigen Sicherheitsregeln befolgt – eine Beschuldigung, die bei vielen Ärzten auf Empörung stieß. Unbestritten ist, dass Kirgistans medizinisches Personal bei den Covid-19-Infektionen einen der höchsten Werte weltweit aufweist: Anfang August hatten sich bereits 2.768 Ärzte infiziert.

Freiwilligeneinsatz als Reaktion auf Regierungsversagen

Als Kirgistan von der Corona-Pandemie heimgesucht wurde, schlossen sich die Bewohner des Landes zusammen. An besonders schwierigen Tagen führte das Fehlen privater und staatlicher Erste-Hilfe-Teams dazu, dass viele Infizierte ohne medizinische Hilfe blieben und starben. Die KirgisInnen verstanden bald, dass von der Regierung keine Hilfe zu erwarten war, und griffen zur Selbsthilfe. Sie verbanden sich über die sozialen Medien und organisierten sich. Freiwillige kauften Lebensmittel für die Bedürftigen und putzten sogar die Böden in den überfüllten Krankenhäusern. Die Ärzte registrierten sich auf Twitter, um BürgerInnen und PatientInnen zu beraten. Die AktivistInnen versuchten, die Krankenhäuser mit Schutzausrüstung, Arzneien und Lebensmitteln zu versorgen.

Die Stimmung bei vielen KirgisInnen blieb skeptisch ­– die sozialen Medien waren voller kritischer Kommentare, weil die Regierung auf die Pandemie so schlecht vorbereitet schien. Die Menschen versuchten, einander zu helfen, die Führung des Landes agierte hilflos und versagte schließlich völlig. Mit dem herannahenden Winter wächst bei vielen Menschen die Angst vor einer neuen Welle des Coronavirus.

Parlamentswahl im Schatten der Pandemie

Viele Bürger schlugen angesichts der Pandemie und ihrer Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft vor, die turnusgemäßen Parlamentswahlen auf 2021 zu verschieben, die Regierung lehnte dies jedoch ab. Der zerrüttete Zustand der Gesellschaft spiegelte sich in einem Wahlkampf wieder, in dem reichlich kompromittierendes Material in den Massenmedien eingesetzt wurde. Rund 500.000 von 2,8 Millionen WählerInnn beantragten im Vorfeld der Wahlen Abmeldeformulare und ließen sich in anderen Wahllokalen registrieren. An sich ist diese Form gesetzlich erlaubt, aber wenn so viele Menschen davon Gebrauch machen, drängt sich der Verdacht auf Wahlfälschung auf.

In den sozialen Medien wurde lebhaft über den Preis für eine Stimme diskutiert – Schätzungen reichten von 1.500 bis 5.000 Som (umgerechnet 16 bis 52 Euro). Kein Wunder, dass das Misstrauen von Tag zu Tag zunahm. Mitteilungen darüber, dass die Parteien Wähler aus den Regionen oder Dörfern herbeibrachten und in den Bezirken der Hauptstadt Bischkek und in Osch registrieren ließen, tauchten Anfang August sowohl im Internet als auch in den Massenmedien auf. Am Wahltag, dem 4. Oktober, waren die sozialen Medien voll mit Klagen von WählerInnen über angebliche Bestechung durch die regierungsnahen Parteien „Birimdik“ („Einheit“) und „Mekenim Kirgistan“ („Mein Vaterland Kirgistan“), aber auch über Unregelmäßigkeiten in den Wahllokalen selbst.

Staatsstreich oder friedliche Übergabe der Macht?

Nach Bekanntgabe der ganz offensichtlich gelenkten und damit inkorrekten Ergebnisse kamen die Parteiführung und ihre Mitstreitenden zu einem zunächst friedlichen Treffen zusammen. Unter ihnen befanden sich viele junge Menschen, die über die Resultate verzweifelt waren. Gegen Abend schlug das Treffen in einen massenhaften Zusammenstoß zwischen den am Treffen Beteiligten und den Ordnungskräften um.

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Nachdem die Protestierenden das Parlamentsgebäude demoliert und angezündet hatten, hob die zentrale Wahlkommission die Endergebnisse der Wahlen auf und das Parlament stimmte für die Ernennung Sadyr Schaparows, der zu diesem Zeitpunkt inhaftiert war, zum Ministerpräsidenten. Er wurde in der Nacht zum 6. Oktober aus einer Strafkolonie befreit, als in Bischkek das Chaos herrschte. Gemeinsam mit Schaparow wurde der ehemalige Staatspräsident Almasbek Atambajew aus dem Gefängnis befreit (Er war am 23. Juni 2020 wegen Korruption zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden). Zehn Tage später erklärte Staatspräsident Sooronbai Dscheenbekow seinen Rücktritt; Schaparow übernahm kommissarisch auch dessen Amt.

Bischkek erneut von Freiwilligen gerettet

Viele Menschen, die mit den Ergebnissen der Parlamentswahl unzufrieden waren, gingen weiterhin auf die Straße, es kam zu schweren Ausschreitungen. Trotz der Sperrstunde und des am 9. Oktober verhängten Ausnahmezustands verschwanden uniformierte Polizisten praktisch von den Straßen der Hauptstadt. Die Kirgisen nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand, da sie keine Alternativen mehr sahen. Für Sicherheit und Ordnung, besonders nachts, sorgten seither zahlreiche Freiwillige. Einige schützten bestimmte Orte, zum Beispiel die Staatsanwaltschaft oder Regierungsgebäude. Andere patroullierten durch die Straßen in Gruppen von drei bis fünf Personen.

Unsichere Zukunft

Das Jahr 2020 ist weltweit ein besonders schweres Jahr – Kirgistan bildet da keine Ausnahme. Während der Pandemie durchlebte das Land seinen nächsten staatlichen Umsturz. Wir, die BewohnerInnen von Kirgistan, gingen gemeinsam durch die Quarantäne. Heute, wo das Land wieder im Chaos zu versinken droht, vereinigen sich die KirgisInnen erneut, um die Hauptstadt vor Gewalt und Plünderung zu bewahren.

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Das Vertrauen in die Staatsmacht ist sehr gering. Aber wir sind überzeugt, dass wir es schaffen werden, die Krise zu überwinden, wenn wir alle zusammenstehen.

Aigerim Turgunbaeva
für OST-WEST Europäische Perspektiven
Aus dem Russischen übersetzt von Friedemann Kluge

Aigerim Turgunbaeva, geboren 1987, arbeitet nach einem Studium an der Diplomatischen Akademie des kirgisischen Außenministeriums als freie Journalistin in Bischkek und berichtet unter anderem für „Al Jazeera“, „The Diplomat“, „Sputnik Kirgistan“ und „Global Voices“.     

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