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„Kirgistan hat enormes Potenzial“- Anthropologe Boris Petric im Gespräch

Der Anthropologe Boris Petric hat ein Buch über den politischen und wirtschaftlichen Wandel in Kirgistan geschrieben. Ein Interview.

m_biremon 

Übersetzt von: daniela

Original

Boris Petric
Boris Petric

Der Anthropologe Boris Petric hat ein Buch über den politischen und wirtschaftlichen Wandel in Kirgistan geschrieben. Ein Interview.

Boris Petric, Anthropologe und Forscher am Nobert Elias Zentrum (an der Pariser Hochschule für Sozialwissenschaften – EHESS), ist der Autor von „On a mangé nos moutons – Le Kirghizstan, du berger au biznesman“ (Man hat unsere Schafe gegessen – Kirgistan, vom Schäfer zum Businessman), das im Januar 2013 erschienen ist.

Lest auch dazu: „Kirgistan, ein globalisiertes Protektorat?“

Nach zehn Jahren Forschung vor Ort erläutert er seine Laufbahn und seine Beobachtungen aus Kirgistan, und beschreibt, wie sich die kirgisische Gesellschaft im Zusammenspiel mit externen Einflüssen wieder aufbaut. Bei einer Konferenz beantwortet der Autor die Fragen der Pariser Forschungsgruppe zu Zentralasien (GRAC) (bei SciencesPo – dem pariser Institut für Politikwissenschaften).

Novastan: Sie haben vor kurzem ein Buch zur Entwicklung Kirgistans geschrieben. Das ist aber nicht ihr erstes Werk über diese Region. Was hat sie dazu gebracht, sich ausgerechnet für Zentralasien zu interessieren?

Boris Petric: Mein Interesse für Zentralasien kam eher zufällig. 1995 beendete ich gerade meinen Master in Sozialer Anthropologie an der Hochschule für Hohe Sozialwissenschaftliche Studien in Paris und sollte meinen Militärdienst absolvieren. Eines Tages hat man mich angerufen und gesagt, dass es einen freien Posten in Usbekistan gibt. Ich muss zugeben, dass ich damals nicht genau wusste, wo Usbekistan überhaupt liegt. Ich habe einen Atlas geöffnet, weil es damals ja kein Internet gab (lacht) und nachgeschaut. Dann dachte ich, warum eigentlich nicht? Daraufhin habe ich dort 18 Monate lang bei der französischen Botschaft gearbeitet. Ich war Assistent beim Kulturdienst und habe an der Universität gelehrt. Das war damals eine wirklich interessante Zeit, da die Region sich gerade erst öffnete. Ich habe dann Russisch und Usbekisch gelernt. Ich hatte sehr viel Freude an dem Leben dort, so dass ich insgesamt vier Jahre geblieben bin und meine Dissertation über Usbekistan geschrieben habe.

Welche Erfahrungen haben Sie vor Ort gemacht?

In der Anthropologie besteht Feldarbeit nicht daraus, irgendwo hinzufahren und Leute zu interviewen. Es geht darum, bei ihnen zu bleiben und eine echte Verbindung herzustellen. Ich habe Beziehungen zu verschiedenen Leuten aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten geknüpft. Zuerst war ich im Naryn-Tal, das zu Sowjetzeiten auf Viehzucht spezialisiert war, und habe dort bei einer kirgisischen Familie gewohnt. Diese hat mich herzlich empfangen, mich regelrecht adoptiert, da bei den Kirgisen die Verwandtschaft sehr wichtig ist.

Ein Markt in Naryn, Kirgisistan

Der Familienvater hat eines Tages zu mir gesagt: „Du zählst zu meinen Söhnen“. So etwas nennt man eine fiktive Verwandtschaft: Das heißt nicht, dass ich wirklich sein Sohn bin, aber mir wird ein Status in der familiären Welt verliehen. Ich habe also mehrere Jahre lang in diesem Dorf mit mehreren Familien Beziehungen gepflegt, aber auch mit Leuten auf anderen Ebenen. Besonders mit Askar Salimbekow, einem wirtschaftlich und politisch wichtigen Mann, habe ich auch viel Zeit verbracht. Ein Anthropologe sammelt bei seiner Forschung die Daten auf direktem Wege. Dafür benutzt er hauptsächlich die teilnehmende Beobachtung und analysiert anhand direkt erhaltener Daten. Ich arbeite nicht mit Daten, die von anderen produziert wurden. Ich lese, was andere machen, aber die Hauptquelle für meine Informationen liegt in meiner Erfahrung und meinen Beobachtungen. Das ist die Besonderheit der Anthropologie.

Ihr Buch beginnt mit einer Anekdote, in der Sie davon berichten, wie die Dorfbewohner vor der Ankunft von Touristen ihre traditionellen Gewänder anziehen. Was denken Sie, sind die Konsequenzen des Tourismus und der Installation von NGOs in Kirgistan? Inwiefern sind die Kirgisen dazu bereit, auf ihre Identität zu verzichten, um der westlichen Welt zu gefallen?

Eine Anekdote ist zum Verständnis einer Gesellschaft dann interessant, wenn sie exemplarisch eine Tendenz aufzeigt. Der Tourismus wird sicher zu einer der Kernaktivitäten des Landes werden. Ich würde aber allgemeinere Fragen zu den Veränderungen stellen, die die durch den Tourismus entstandenen, sozialen Verbindungen, mit sich brachten. Alle Experten, die sich mit Tourismus in anderen Gesellschaften beschäftigen, haben einen großen Wandel beschrieben. Sie zeigten besonders, wie Währungsaustausch soziale Verbindungen auf den Kopf stellt. In meinem Buch erwähne ich die Tätigkeiten einiger NGOs, die Programme zur Entwicklung des sogenannten gerechten oder nachhaltigen Tourismus führen und versuchen, Tradition und Authentizität zu bewahren. Ich persönlich denke, dass das mehrdeutig ist: Man versucht dabei, Kirgisen einem Bild anzupassen, das dem der westlichen Welt entspricht, ohne bisherige Veränderungen dabei zu berücksichtigen. Der westliche Tourist will etwas Exotisches, Authentisches, er will Jurten und traditionelle Gewänder– sehen, selbst wenn dies nicht mehr der Realität entsprechen. Und die Kirgisen sind überrascht, dass diese Leute aus dem Westen das Leben der Schäfer, das „shepherd life“ erleben wollen, obwohl es nur noch wenige Schäfer im Land gibt.

Das heißt nicht, dass die Kirgisen ihre Identität verlieren. Die Kirgisen verändern sich ab dem Moment, wo neuer sozialer Austausch geschieht. Es etabliert sich ein neues soziales Verhältnis, bei dem sich manchmal recht komische Vorgänge abspielen. Das gilt für Kirgistan, aber auch für alle anderen Gesellschaften, in denen der Tourismus eine zentrale Stellung einnimmt. Der Anthropologe Nigel Barley hat ein fantastisches Buch über eine Gesellschaft Süd-Ost-Asiens geschrieben Darin zeigt er auf, wie der Tourismus das soziale Verhalten einzelner Personen komplett verändert hat.

In Ihrem Buch ist von einem naiven Bild Kirgistans, „mit magischen Landschaften, wo wunderschöne kahle Berge von nomadischen Reitern bereist werden“ die Rede. Ein anderes, viel negativeres Bild könnte allerdings ein verfallenes und korruptes Land aufzeigen. Ihre Ankunft in Kirgistan war bestimmt ein Schock: Sie haben ein vollkommen neues Land entdeckt. Wie würden Sie in einigen Sätzen die Realität des Landes, wie Sie es vorgefunden haben, beschreiben?

Ich lade Sie ein, mein Buch zu lesen: Das ist eine Facette Kirgistans. Ich meine, es gibt dort tatsächlich wundervolle Landschaften, tatsächlich leben dort noch ein paar hundert Leute zu verschiedenen Jahreszeiten in Jurten. Aber die Viehzucht und dieser Lebensstil sind nicht mehr so zentral, wie man glauben möchte. Meine Verantwortung als Sozialwissenschaftler besteht darin, dass ich die soziale Wirklichkeit und die Art, wie die Leute leben, beschreibe und analysiere. Meine Rolle besteht nicht darin, Mythen über traditionelle Gesellschaften, die nicht mehr existieren, aufrechtzuerhalten. Unter einigen Aspekten haben die Kirgisen einen durchaus modernen Lebensstil, bei dem jeder ein Handy besitzt, viele Internetzugang haben, die Musikgeschmäcker auch von verschiedenen Einflüssen bestimmt sind usw. Das macht die Vorstellungswelt dieser Gesellschaft sehr zeitgenössisch undentspricht nicht dem Bild von einer isolierten, traditionellen Gesellschaft, die vom Rest der Welt abgeschnitten ist.

Eines der Klischees zur kirgisischen Gesellschaft
Die junge Generation in Kirgisistan: Tilek Mamutow, Manager bei Google

Um Ihr Buch zu schreiben, haben Sie von 2001 bis 2011 vor Ort geforscht. Haben Sie eine Entwicklung bemerkt?

Zum ersten Mal war ich 1996 in Kirgistan. Das Land hat sich in zwanzig Jahren extrem verändert. Das betrifft erst mal die Zusammensetzung der Bevölkerung. Viele Stadtbewohner haben sich entschieden, das Land zu verlassen: Russen, Ukrainer, Juden, Koreaner -eine ganze Reihe von Bürger, die sich in dem eher nationalistisch ausgerichteten, neuen Sozialvertrag nicht wiederfanden. Anschließend hat es auch eine massive Landflucht gegeben, mit einer zunehmenden Urbanisierung. Es hat also radikale Veränderungen in der Verteilung des Raumes gegeben. Ganze Dörfer haben sich geleert, teilweise sogar mittelgroße Städte, wobei sich die Hauptstadt Bischkek und Osch, die Großstadt im Süden, ständig vergrößert haben.

In „On a mangé nos moutons“ beschreiben Sie ein Kirgistan, das vielen externen Einflüssen unterliegt. Es stimmt, dass der kirgisische Staat viele Fehlfunktionen hat, dass die territoriale Integrität ständig von Umstürzen bedroht wird, und dass die Zivilgesellschaft am Rande der Implosion steht. Dennoch könnte man dem Buch vorwerfen, dass es der Widerstandsfähigkeit der Kirgisen nicht genug Platz einräumt. Im Laufe der Geschichte haben sich nach schlimmeren Situationen wie der heutigen ( mongolische und kalmückische Invasionen, russische Eroberung, dann das „Urkun“ 1916 und die Entkulakisierung unter Stalin in den 1930ern) die Kirgisen immer gut erholt. Was halten Sie davon?

Ich habe nicht das Gefühl, das mein Buch negativ über Kirgistan berichtet. Es ist nicht mein Problem und meine Rolle, eine positive oder negative Bewertung zu diesem Land abzugeben. Ich bin Sozialwissenschaftler und untersuche das Funktionieren einer Gesellschaft. Ich glaube die Spitzfindigkeit der Kirgisen zu würdigen, indem ich zeige, wie weit sie sich an ihre neue soziale Realität anpassen können. Sie unterliegen nicht der Geschichte, trotz der vielen ausländischen Mächte in ihrem Land. Sie sind wandlungsfähig und nutzen die verschiedenen Einflüsse, um sie besser zu ihrem Nutzen zu unterwandern. Ich halte sie auch in Ehren, indem ich diese soziale Intelligenz aufzeige. Bei einer Analyse des großen, mündlichen Epos „Manas“, der heute den Kirgisen als sozialer Zement dient, bemerkt man, dass es sich da um einen Führer handelt, der internationale Präsenz wie eine unumgehbare Realität darstellt. Man muss mit ihr arbeiten, aber versuchen, sie zu bändigen, versuchen, eine neue Allianz mit ihr zu schaffen, statt sie militärisch zu bekämpfen und in der Konfrontation zu verschwinden. In meinem Buch versuche ich zu zeigen, dass die Kirgisen heute in der gleichen Situation sind: Sie müssen mit militärischer Präsenz aus Russland, den Vereinigten Staaten, China und aus anderen Richtungen klar kommen. Sie akzeptieren diese Lage und nutzen gleichzeitig sehr feine Strategien, um alle zu manipulieren. So schaffen sie eine Form der Souveränität ohne dabei von einer einzigen Macht abhängig zu sein.

Es wäre interessant, die Erkenntnisse aus ihrem Buch mit anderen fragilen Nachbarländern zu vergleichen -zum Beispiel mit Tadschikistan, das bestimmt einen noch größeren materiellen und moralischen Zerfall erlebt. Was unterscheidet Ihrer Erfahrung nach Kirgistan von seinen Nachbarn?

Der Vergleich ist interessant, wenn man aufhört, diese Länder nur anhand der großen kulturellen Gegensätze zu vergleichen (Nomaden/ sesshafte Völker; Turkvölker/persischer Einfluss usw.). Ich denke, es ist interessanter, die entscheidende Bedeutung ihres Verhältnisses zu Ressourcen zu betrachten. Länder wie Kasachstan und Usbekistan, die viele Ressourcen besitzen, sind ihrem eigenen Weg gefolgt, während Kirgistan und Tadschikistan, die wenige Ressourcen haben und geographisch eingeschlossen sind, viel mehr Verbindungen zu der Außenwelt haben. Dieser historischer Kontext, diese geographische Konfiguration sind wichtig und müssen miteinbezogen werden – viel mehr als kulturelle Unterschiede -, wenn man die Situation dieser Länder zu verstehen versucht.

Wo sehen Sie Kirgistan in der Zukunft?

Ich denke, Kirgistan ist ein Land mit einem riesigen Potenzial: Es hat Ressourcen, die es nutzen kann, insbesondere Wasser. Man kann sich auch vorstellen, dass geologische Studien dort in der Zukunft noch Überraschungen bringen können. Außerdem ist das Bildungsniveau recht hoch, und die Grenze mit China bietet recht viele Möglichkeiten. Eines ist mir übrigens bei meiner Forschung aufgefallen: Diese Gesellschaft wendet sich immer mehr dem chinesischen Riesen zu. Das kann sich genauso gut als eine Chance wie auch als ein großes Integritätsproblem für diese kleine Fünf-Millionen-Gesellschaft gegenüber den 400 Millionen Chinesen entpuppen!

Was waren die Ziele Ihrer Studie?

Das Ziel meines Buches ist, eine Gesellschaft, die sich in einer besonderen historischen Situation befindet, zu verstehen und zu analysieren. Die frühere Hauptressource, die Merinoschaftzucht, ist zusammengebrochen. Ich erzähle also die Geschichte von Frauen und Männern, die sich bei diesem Zusammenbruch neu organisieren. Ich analysiere insbesondere die Logiken, nach denen sich soziales Leben wieder neu organisiert. Diese Entwicklungen haben Auswirkungen auf das politische Leben. Es ging also auch darum, die Komplexität des sozialen Austausches, den die Kirgisen seit nun zwanzig Jahren aufbauen, zu verstehen: Dazu gehören alle neuen Formen sozialer Verbindungen, die mit der Globalisierung verbunden sind, und die auf die Entwicklung dieser Gesellschaft einwirken.

In Ihrem Buch erzählen Sie viele oft humorvolle Geschichten über Ihre Erlebnisse in Kirgistan. Hätten Sie eine letzte Anekdote, die Sie mit uns teilen möchten, um dieses Interview zu beenden?

Ich erzähle Ihnen vielleicht eine Anekdote, die ich nicht in mein Buch eingebaut habe, die aber das besondere Verhältnis der Kirgisen zum Ausland gut widerspiegelt. Bei der Ankunft während eines meiner Aufenthalte in Kirgistan versuchte ich, direkt am Flughafen ein Visum zu erhalten. Der Beamte, der dieses wichtige Dokument ausstellt, gab eine einzige Summe als Preis an, die in Dollar und Euro gleich lautete. Ich bemerkte natürlich, dass das zwischen den beiden Währungen einen großen Unterschied ausmachte. Er sagte, wenn ich Geld wechseln möchte, müsse ich nur über die Grenze; ein Zollbeamter könne mich dahin begleiten. So ging ich mit einem jungen Zollbeamten los, um Geld zu wechseln. Wir bauten durch den Humor also eine sogenannte „scherzhafte“ Beziehung auf. In einigen Gesellschaften ist das Scherzen ein Weg, um soziale Verbindungen zu schaffen.

Das ganze passierte während der SARS-Epidemie, und der Zollbeamte trug eine Maske. Irgendwann nahm er seine Maske ab, um mit mir zu sprechen. Er sprach mich auf Raymond Domenech, den Trainer der französischen Fußballnationalmannschaft an. Wir waren uns sympathisch, und er schlug mir vor, die Grenze sehr schnell für zwanzig Dollar zu überqueren. Nach einer Verhandlung, in der Scherzerei eine wichtige Rolle spielte, ließ er mich für fünf Dollar durch. Ich habe mich auf dieses kleine Spiel eingelassen, um eben solche sozialen Erfahrungen zu erleben, die für das Verhältnis zu Ausländern in diesem Land bezeichnend sind.

Diese Erfahrung ist aufschlussreich, um zu verstehen, welche Verbindung die kirgisische Gesellschaft zur Außenwelt pflegt. Das Verhältnis zu Ausländern ist dort recht einfach, während in Usbekistan die Kontrolle und der Verdacht gegenüber Ausländern allgegenwärtig sind. Ich denke, diese Art von Verhandlung wäre bei einem usbekischen Grenzbeamten undenkbar gewesen. Solche Situationen habe ich Dutzende Male erlebt. Wenn sie sich wiederholen, kann man daraus Schlüsse ziehen, die das Funktionieren einer Gesellschaft darlegen. Das macht den ganzen Charme eines Landes aus, in welchem man die feine Kunst des Verhandelns und des Tauschens beherrschen muss.

Marion Biremon
Studentin des Doppelbachelors SciencesPo – Sorbonne
Korrektorin für Francekoul

Übersetzung:
Florian Coppenrath
Daniela Neubacher

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