Unsichtbare Menschen sind Menschen ohne Pass. Sie erhalten keine Arbeitsplätze, müssen schwarz arbeiten oder auf andere Weise ihren Lebensunterhalt verdienen. Ihre Kinder können weder Kindergärten noch Schulen besuchen. Sie wohnen in nicht registrierten Häusern. Sie existieren nicht.
Weltweit gibt es Menschen ohne Papiere, auch in Kirgistan. Manche haben ihre Ausweise verloren oder verbrannt, manche haben nie einen bekommen. Manche sind Flüchtlinge und haben aus diesem Grund keinen Pass. Doch die Geschichte von Taazims* Familie aus At Bashi, im Naryn Gebiet, ist anders.
17 Jahre ohne Existenz
Taazim ist 1985 geboren und seit 17 Jahren unsichtbar für ihr Heimatland. Sie ist das dritte von sechs Kindern ihrer Familie. Sie hatte eine Geburtsurkunde. Doch ihre Eltern wurden früh geschieden und die Kinder blieben bei der Mutter. Ihre alkoholabhängige Mutter konnte sich nicht um die Kinder kümmern. Taazims Kindheit war nicht glücklich.
Ihre Geburtsurkunde sah sie das letzte Mal, als sie 13 Jahre alt war. Nach der 8. Klasse verließ sie die Schule und ging zu ihrem Onkel, der als Viehhirte für einen wohlhabenden Mann arbeitete. Dort half sie mit den Tieren, molk Kühe und verkaufte die Milch.
Mit 20 heiratete Taazim. Ihr Mann Esenkul* hatte im Unterschied zu ihr eine Geburtsurkunde, aber dennoch keinen Pass. Nach der Heirat bekamen sie keinen „Sakz“, das Ehedokument, wodurch auch ihre zwei Kinder keine Geburtsurkunden erhielten.
Taazims Familie wohnt heute in einem kleinen Haus, das sie von Esenkuls Vater geerbt haben, ungefähr 2,5km entfernt vom Dorf. Neben dem Haus steht ein langer Stall für das Vieh. Die beiden haben nie als Angestellte gearbeitet, sie erhalten Geld dafür, dass sie auf das Vieh der Dorfbewohner aufpassen.
„Alles war nicht so schlimm, bis unser erstes Kind in die Schule kam. Für die Schule braucht es eine Geburtsurkunde, ohne die darf es die Schule nicht besuchen. Erst da haben wir uns Gedanken über unsere Unterlagen gemacht“, erzählt Taazim halb lächelnd.
Nur mit Hilfe von Esenkuls Bruder hat die ganze Familie schließlich erstaunlich schnell alle Unterlagen erhalten. Sie sind nun offiziell Bürger Kirgistans.
Hilfe für die Unsichtbaren
Im März 2014 hatte die dänische Organisation DCA Central Asia in Partnerschaft mit der Juristischen Klinik Adilet und der Öffentlichen Vereinigung Arysh ein zweijähriges von der Europäischen Union finanziertes Projekt in Bischkek gestartet. Sie konzentrieren sich auf die Wohnsiedlungen in der Nähe der kirgisischen Hauptstadt sowie der Stadt Osch im Süden des Landes. Im Rahmen des Projekts helfen sie Binnenmigranten und den unsichtbaren Menschen. Als unsichtbar im Sinne des Projekts gilt allerdings nur, wer nie Dokumente hatte.
Wie sieht die Arbeit der Helfer aus? Sie erklären den Betroffenen ihre sozialen und politischen Rechte, vereinfachen den Prozess der Registrierung, fördern die Teilnahme von Binnenmigranten und unsichtbaren Bürgern an den Entscheidungs- und Wahlprozessen. Kurz: sie bemühen sich, die Unsichtbaren sichtbar zu machen.
„Wir geben ihnen juristische Unterstützung und gehen mit ihnen die Prozedur durch, um Dokumente zu erlangen. Für eine Geburtsurkunde braucht man schon einen Haufen Dokumente“, sagt Gairat Atavaliev, Hauptjurist bei Adilet. Im Gegensatz zu Taazim ist er gar nicht froh über ihre Geschichte.
„Es kann sein, dass sie sich mit den Behörden arrangiert haben, wenn sie ihre Papiere so schnell erhalten haben. Um so eine Geburtsurkunde zu erhalten, braucht es normalerweise mindestens ein halbes Jahr. Wir betreuen zum Beispiel eine Familie, in der über drei Generationen hinweg etwa 20 Personen keine Dokumente hatten. Es braucht ein halbes Jahr, um die Dokumente des Großvaters zu erstellen, und dann muss der Prozess mit der nächsten Generation wiederholt werden. Insgesamt kann das also 1,5 bis 2 Jahre dauern“, betont der Jurist.
Geburt ohne Dokumente
In den meisten Fällen sind es Kinder, die nach der Geburt gar nicht erst Dokumente erhalten. Laut internationalem Recht sind die Kliniken und Geburtshäuser verpflichtet, bei jeder Geburt wenigstens eine medizinische Geburtsurkunde auszustellen. Doch oft geschieht das nicht.
Außerdem wird die Urkunde ohne die Dokumente der Eltern nur „dem Worte der Mutter nach“ ausgestellt, was meist nicht reicht, um Zugang zur Staatsbürgerschaft zu haben. „Im Moment arbeitet im Ministerium für soziale Entwicklung eine Arbeitsgruppe an der Verbesserung dieses Verfahrens, doch wir wissen nicht, wie dort der aktuelle Stand ist“, erklärt Gairat Atavaliev.
Die Zahl der Unsichtbaren in Kirgistan ist immer noch nicht klar. „Zahlen gibt es nur im Rahmen der Projekte, es gibt keine Einschätzung der allgemeinen Zahl nicht registrierter Einwohner. Das Problem ist ohne Zahlen für den Staat auch weniger sichtbar“, stellt Nurya Temirova von Arysh fest.
Internationale Erfahrungen
Die Problematik betrifft nicht nur Kirgisistan, sondern auch andere postsowjetische Länder. Gairat Atavaliev von Adilet berichtet von internationalen Erfahrungen mit Unsichtbaren.
„Tadschikistan hat dasselbe Problem, und weiß im Moment auch nicht, wie es das handhaben soll. In manchen Subjekten der Russischen Föderation hat es auch schon Konferenzen und Aktionen zur Registrierung von Roma gegeben. Dort, wie auch in Georgien, gibt es eine vereinfachte Prozedur: die Dokumente einer Person können nach dem beglaubigten Wort zweier Nachbarn erstellt werden. Das Wort dieser Nachbarn steht dann allerdings unter strafrechtlicher Garantie – sie können strafrechtlich belangt werden, wenn sich herausstellt, dass sie gelogen haben“.
Das Problem ist nicht neu, aber aktueller denn je
Diese Frage war in Kirgistan immer aktuell, aber 2014, als Kirgistan begann, die biometrischen Daten möglichst aller Bürgern zu sammeln, ist es besonders aktuell geworden. Im Prozess der biometrische Registrierung wurde festgestellt, dass allein in Bischkek ungefähr 20.000 Menschen keine Staatsangehörigkeit haben.
“Wir arbeiten seit 2009 daran, nachdem das Problem im großen Stil ans Licht gekommen war. 2013 haben wir eine Forschung dazu begonnen, wie viele Betroffene es gibt, die sich erst mal nur auf die Wohnsiedlungen um Bischkek erstreckte“, erklärt Nurya Temirova.
„Das Problem zieht sich über die Generationen und wird so immer größer. Aktuell läuft die Kampagne für die Sammlung biometrischer Daten und ohne Dokumente kann man sich nicht registrieren und wird so auch nicht wählen können. Menschen ohne Registrierung haben keinen Zugang zu ihren politischen und sozialen Rechten.“
Emil Kalmatov von DCA sieht die gestiegene Bedeutung einer Registrierung aller Unsichtbaren in den verbesserten staatlichen Dienstleistungen: „Die Thematik ist auch aktuell, da der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen sich generell verbessert hat, Menschen ohne Dokumenten jedoch verwehrt bleibt. Im Prinzip war es immer ein aktuelles Thema. Im Moment wird das „Edinii Reestr Naselenia“ (Einheitliches Bevölkerungsregister) erschaffen, das eine Garantie für bessere Dienstleistungen sein soll. Dadurch wird auch das Problem der Unsichtbaren sichtbar.“
Kampf gegen die Korruption
Ähnlich bewertet Gairat Atavaliev die Situation. „Das Problem wird gerade jetzt besonders behandelt, da es mit der Zeit immer weiter wächst, und schnell riesige Ausmaße annehmen könnten. Denn die Kinder von Unsichtbaren werden auch ohne Dokumente geboren, usw. Jetzt muss der Registrierungsprozess geändert werden. Und viele Menschen haben keinen Zugang zu den Informationen bezüglich der Registrierung. Außerdem fördert dieses Problem auch die Korruption im Land, da man statt mit Dokumenten auch über Bestechung Zugang zu vielen Dienstleistungen erhält“.
Dass für die Unsichtbaren oft Korruption und Bestechung die einfachste Lösung sind, zeigt auch die Geschichte von Taazim. Sie ist eines von vielen Beispielen. Organisationen wie DCA, Arysh und Adilet setzen sich dafür ein, dass sie und andere Unsichtbare ihre Rechte in Zukunft auf legalem Weg wahrnehmen können.
Nuriipa Abdumalik Kyzy
Autorin für Novastan.org, Bischkek
Redigiert von Luisa Podsadny
*Die Namen wurden geändert