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China und Kirgistan: Der böse Nachbar?

Eine 858km lange Grenze trennt China von Kirgistan, drei Grenzübergänge brechen die Barrieren aus hohen Bergen und verschneiten Kämmen und hunderte von Lastwägen nehmen regelmäßig die schwere Fahrt in Kauf, um chinesische Produkte nach Zentralasien einzuführen. China zählt zu Kirgistans wichtigsten Handelspartnern, doch trotzdem: Ein großer Teil der kirgisischen Bevölkerung begegnet seinem großen Nachbarn mit Misstrauen und Argwohn.

Grenze China Kirgistan
Am Torugart Grenzübergang zwischen China und Kirgistan.

Eine 858km lange Grenze trennt China von Kirgistan, drei Grenzübergänge brechen die Barrieren aus hohen Bergen und verschneiten Kämmen und hunderte von Lastwägen nehmen regelmäßig die schwere Fahrt in Kauf, um chinesische Produkte nach Zentralasien einzuführen. China zählt zu Kirgistans wichtigsten Handelspartnern, doch trotzdem: Ein großer Teil der kirgisischen Bevölkerung begegnet seinem großen Nachbarn mit Misstrauen und Argwohn.

Laut dem Observatory of Economic Complexity (2013) ist China Herkunftsland für 34% von Kirgistans Importen, für einen Gesamtwert von 2.48 Milliarden US-Dollar. Das sind 500 Millionen mehr als aus Russland kamen. Trotz der vielen Möglichkeiten für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Intensivierung bilateraler Beziehungen hält Kirgistan seinen östlichen Nachbarn auf Abstand und nähert sich stattdessen zunehmend Russland, nicht zuletzt durch seinen Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion (EEU). Auch die kirgisische Bevölkerung steht China mit großem Misstrauen gegenüber.

Es war einmal…

Wie viele Analysen Zentralasiens beginnt auch diese nach dem Fall der Sowjetunion, Allzweck-Einleitung für Forschung im postsowjetischen Raum. Sie beschreibt den Moment kirgisischer Unabhängigkeit, mit dem das kleine Bergland auf dem Radar chinesischer Außenpolitik erschien. Diese konzentrierte sich in den ersten Jahren nach vorwiegend auf sicherheitsbedingte Probleme, wie das der umstrittenen Grenzen, weitete sich aber schnell auch auf wirtschaftliche Themengebiete aus. Heute ist China der größte Investor in den Bereichen der Infrastruktur und des Handels in Kirgistan.

Die chinesische Außenpolitik basiert vor allem auf den Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz, die 1954 entwickelt wurden. Sie bestehen aus dem gegenseitigen Respekt für territoriale Integrität, dem Verzicht auf Aggression, dem Nicht-Eingreifen in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, Gleichberechtigung sowie gegenseitigem Nutzen, und friedlicher Koexistenz. China verspricht damit, keine Hegemonie zu entwickeln und in seiner Außenpolitik stets gegenseitiges Interesse im Vordergrund zu halten.

Tian Shan China Kirgistan

Die regionale Entwicklung und Stabilisierung Zentralasiens hat demnach keine Expansion der Landesgrenzen oder des politischen Einflusses zum Ziel, sondern vielmehr die Vermeidung eines Spillover-Effekts im Falle lokaler Unruhen oder Aufstände. „Wenn Leute an Chinas Einfluss in der Region denken, denken sie meistens an die vielen Investitionen – aber es ist auch wichtig, diese mit den politischen Ereignissen zu verbinden“, bestätigt William Beacom, Gastwissenschaftler am Central Asian Studies Institute der Amerikanischen Universität Zentralasiens (AUCA) und Sachs Global Forscher an der Princeton Universität, im Interview mit Novastan.

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Gerade die zwei kirgisischen Revolutionen 2005 und 2010 wurden von China mit Besorgnis beobachtet. Das an Kirgistan grenzende uigurische autonome Gebiet Xinjiang ist eines der größten Sorgenkinder. Umschwungsstimmung in Kirgistan könnte aus chinesicher Sicht leicht über die Berge schwappen und die Uiguren mitreißen. Mit wirtschaftlichen Fördergeldern und Infrastruktur-Projekten versucht die chinesische Regierung daher, die Entwicklung Kirgistans zu stabilisieren und somit durch wirtschaftliche Sicherheit auch eine solche politische zu schaffen.

Chinesische Immigration und gegenseitige Abhängigkeit

Die vielen Fördermittel, die über die Grenze der beiden Länder fließen, bringen nicht nur neue Zugschienen und moderne Gebäude mit sich, sondern vermehrt auch chinesische Einwanderer, die auf lokalen Märkten Arbeit finden. Die chinesische Regierung unterstützt diese Entwicklung mit einer Liberalisierung der Wirtschaftstätigkeit und anderen favorablen Bedingungen. Da die Fördergelder meistens nicht an strenge wirtschaftliche, politische oder auch soziale Konditionen gebunden sind (wie so oft der Fall mit ihren russischen, US-amerikanischen oder unionseuropäischen Äquivalenten), bietet die chinesische Unterstützung eine willkommene Alternative für die kirgisische Regierung.

Laut Beacom kommen die chinesischen Fördermittel meist in Form eines Darlehens nach Kirgistan – mit Garantie auf Rückzahlung. Die stark verschuldete chinesische Regierung ist auf eine solche Form der Geldgewinnung angewiesen, genauso sehr wie Kirgistan auf die finanzielle Unterstützung: „Kirgistan, von allen zentralasiatischen Staaten, ist am begierigsten darauf, chinesische Schulden übernehmen.“

Bazaar Markt Bishkek Kirgistan

China rechnet damit, das investierte Geld mit Zinsen zurückbezahlt zu bekommen – und wenn nicht, kann es nicht schaden, dass die meisten Förderdarlehen mit Sicherheiten unterlegt sind. „Es wird vermutet, dass jeder Kredit mit einer Art Sicherheit verbunden ist – Land, um genau zu sein. Dies könnte auch teils erklären, warum China bei der Beilegung des kirgisisch-chinesischen Grenzstreits so viel Land für sich beanspruchen könnte“, erläutert Beacom eine der gängigen Theorien.

Von Ablehnung und Zukunftsängsten

Im Gegenteil zur kirgisischen Regierung ist die Bevölkerung jedoch größtenteils gegen jede Form chinesischer Einmischung in heimische Angelegenheiten. China engagiert sich für die Entwicklung der kulturellen und zwischenmenschlichen Beziehungen, so wurden in den letzten Jahren drei Confucius-Institute und vier Klassenräume eröffnet. Trotzdem sind misstrauen und Vorsicht weit verbreitet und der Großteil des Engagements bleibt auf staatlicher Ebene hängen.

In Zeiten wachsenden Nationalismus finden chinesische Investitionen in dem Bergstaat weniger und weniger Halt, sowie auch chinesische Migranten mit zunehmender Feindlichkeit zu kämpfen haben. Einheimische sehen die Einwanderer zunehmend als Bedrohung am Arbeitsmarkt. Investitionen der chinesischen Regierung agieren somit schnell nur auf Basis einer politischen Lizenz – keineswegs jedoch einer sozialen.

Laut dem angehenden Politologen und Wissenschaftler Samuel C. Ide können kirgisische Meinungen über den chinesischen Nachbarn in drei grobe Tendenzen aufgeteilt werden- die allgemeine Meinung hängt somit davon ab, welche Position Kirgistan in Zentralasien einnimmt; welche Beziehungen Kirgistan mit außenstehenden Ländern unterhält; und inwieweit der kirgisische Nationalismus das Verhalten und die Meinungen der Bevölkerung prägt. Unter diesen Einflüssen kämpfen kirgisische Souveränität und Nationalstolz in ständiger Wiederholung gegen Vorteile und Risiken chinesischer Investitionen an.

Der Platz Kirgistans in Zentralasien

Als einzige dieser drei Tendenzen trägt die Position Kirgistans innerhalb Zentralasiens positiv zum Stimmungsbild bei. Dank der direkten Grenze zu China und den relativ lockeren Zollregelungen wurde Kirgistan nach dem Fall der Sowjetunion schnell zu einer Art Korridor für chinesische Produkte auf dem Weg nach Zentralasien, vor allem nach Usbekistan. Das war nicht immer so – in Sowjetzeiten wurde China als politischer Feind instrumentalisiert, insbesondere während des chinesisch-sowjetischen Zerwürfnisses der späten 1950er bis 1980er.

Schützengräben Kirgistan

Nach der ersten Zusammenkunft der Shanghai-5 (China, Kirgistan, Kasachstan, Russland und Tadschikistan) im Jahr 1996 und der Lösung der Grenzprobleme zwischen Kirgistan und China 1999 bestand jedoch schließlich die Möglichkeit einer intensiveren Partnerschaft. 2001 wurde die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SZO) gegründet, der Handel begann zu blühen, und Kirgistan nahm seine Stellung als Korridor nach Zentralasien ein.

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Laut aktuellen Schätzungen werden heutzutage 75% aller chinesischen Importe nach Kirgistan in Drittländer weiter exportiert. Dieser Landweg spielt einerseits der chinesischen Regierung in die Hände, die ihre Export- und vor allem auch Importwege diversifizieren möchte. Außerdem bedeutet der Beitritt Kirgistans zur Welthandelsorganisation (World Trade Organisation, WTO) 1998 als damals erstes und einziges Land in Zentralasien eine Erleichterung der Handelsbedingungen und gewisse Vorteile im Weiterexport der Waren, zumal auch China Teil der internationalen Organisation ist. Der Beitritt der anderen zentralasiatischer Länder (mit Ausnahme Usbekistans und Turkmenistans) zur WTO, sowie Kirgistans erhöhte Zolltarife durch den Beitritt zur EEU, verringerten die bevorzugte Position Kirgistans in Zentralasien.

Kirgistan und die Welt – unter dem Einfluss von Giganten

Nicht nur China interessiert sich für das kleine Land in Zentralasien. Besonders Russland stärkt seine Beziehungen mit Kirgistan beständig. Die neue Wirtschaftsunion, eine lange, gemeinsame Geschichte, das Erbe jahrzehntelanger sowjetischer Propaganda, sowie kulturelle und linguistische Nähe erleichtern dem nördlichen Giganten die Arbeit. Die mehrheit der kirgisischen Bevölkerung zieht eine Annäherung an Russland jener an China vor, Russland wird viel häufiger als Wohltäter wahrgenommen als sein südliches Gegenstück. Laut der letzten Umfrage des International Republican Institute sieht jeweils etwa ein Drittel der  kirgisischen Bevölkerung China als einen Partner und eine Bedrohung. Gegenüber Russland liegen die Werte bei jeweils 96 Prozent und einem Prozent.

Der kirgisische Nationalismus

Letztlich beeinflusst auch der kirgisische Nationalismus stark die allgemeine Meinung über China. Kirgistan erlebt einen noch nie dagewesenen Aufschwung von Nationalismus, besonders seit den Ereignissen 2010 und dem Umsturz der Bakiev-Regierung. Der starke Nationalstolz zeigt sich unter anderem in häufigen Debatten über Kirgisisch als allgemeine Unterrichtssprache (jetzt oftmals noch Russisch), regelmäßige Spannungen rund um „Kumtor“, die größte Goldmine des Landes, die von einer kanadischen Firma betrieben wird, Ausbeutung nationaler Symbole wie der kirgisische Held Manas oder lokaler Küche, und auch in lebhaften Diskussionen über die Rolle des Islams in Kirgistan. Inmitten der vielen Ethnizitäten und Volksgruppen Kirgistans ist dieser Nationalismus besonders explosionsgefährdet.

Manas Kirgistan Volksheld

Dieser Nationalismus zeigt sich auf zwei Arten: Einerseits existiert die Idee, dass China eine Gefahr für die Zukunft Kirgistans darstellt und angehalten werden muss. Andererseits sehen viele die Investitionen als förderlich, da auch die Wahrung nationaler Souveränität ein wichtiges Prinzip der chinesischen Aussenpolitik ist. . Oftmals überwiegt jedoch die erste Ansichtsweise. Die chinesischen Fünf Prinzipien mussten außerdem in den letzten Jahren mit Interessenskonflikten kämpfen: „Auf jeden Fall gab es in den letzten zehn Jahren große Spannungen in der chinesischen Außenpolitik – sowie Chinas Interesse am und im Ausland wächst, wächst auch die Spannung zwischen der Aufrechterhaltung der nationalen Souveränität fremder Länder und Chinas eigenem Interesse“, erklärt Beacom.

In den letzten Jahren entwickelten sich eine exzessive Paranoia und auch Verschwörungstheorien. So gibt es zum Beispiel die Idee, dass die chinesische Regierung absichtlich Männer nach Kirgistan schickt, um kirgisische Frauen zu heiraten, um so langsam, nach und nach, das Land zu erobern – von innen. China wird nicht nur als akute Gefahrenquelle angesehen, sondern auch als verheerende Gewalt über die Zukunft.

Die Zukunft: ein chinesisches Kirgistan?

Doch auch wenn viele Angst vor einer chinesischen Übernahme haben – die chinesische Expansion ins Ausland steht dennoch vier wichtigen Schranken gegenüber. Erstens ist die chinesische Migration in Entwicklungsländer als ein Kurzzeit-Phänomen anzusehen. „Chinesische Migranten folgen ihrem Geschäft – das ist eine sehr wirtschaftliche Entscheidung“, erklärt Beacom. Meist ist ihre Auswanderung das Resultat einer abrupten Veränderung in ihrem heimischen Arbeitsmarkt und die Beschäftigung in den umliegenden Ländern, darunter auch Kirgistan, soll Abhilfe verschaffen. Die chinesische Regierung arbeitet außerdem schrittweise an besseren Integrationsmechanismen für interne Migration – eine Maßnahme, die den Umzug ins Ausland noch weiter verringern sollte.

Zweitens spielt der Empfang in den jeweiligen Zielländern eine wichtige Rolle. Nationalismus, Angst und Misstrauen, so wie es in Kirgistan der Fall ist, hindern weiteren Zufluss. Eine weitere Barriere für chinesische Migration liegt in der zukünftigen Entwicklung der Volksrepublik China verborgen. Da Migration und Investition zwei voneinander abhängige Erscheinungen sind, setzt eine kontinuierliche chinesische Einwanderung voraus, dass auch die Investitionen nicht abbrechen. Unendliche (wirtschaftliche) Möglichkeiten sind also die Grundvoraussetzung – eine unrealistische Vision der Zukunft. Hinzu kommt, dass chinesische Wirtschaftsprojekte im Ausland noch jung sind – es wäre nicht das erste Mal, dass manche von ihnen schlussendlich in einem typischen Boom-and-Bust-Cycle zum Stillstand kommen.

Nicht zuletzt spielt auch die politische Situation in Kirgistan eine wichtige Rolle. Wie viel Instabilität und Unruhen ertragen chinesische Investitionen? Eventuelle Aufstände oder politische Unruhen bleiben außerhalb der chinesischen Reichweite. Angesichts solcher Passivität des Staates sind chinesische Investoren dazu gezwungen, zwischen wirtschaftlichem Ertrag und potenziellem Risiko abzuwiegen, dessen Abwesenheit die chinesische Regierung ihren Staatsangehörigen nicht garantieren kann – oder will.

 

Vanessa Graf
Landesdirektorin der Redaktion
Bischkek, Kirgistan

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