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Die Coronakrise als „Chance“ für die regionale Integration Zentralasiens? – ein Interview mit Catherine Poujol

Angesichts der Krise um das Coronavirus könnte Zentralasien eine neue Außenpolitik entwickeln und die Beziehungen zu China nachjustieren, so Catherine Poujol im Interview mit Novastan.

Die Direktorin des IFEAC schätzt die Bedeutung der Coronakrise für Zentralasien im Interview ein

Angesichts der Krise um das Coronavirus könnte Zentralasien eine neue Außenpolitik entwickeln und die Beziehungen zu China nachjustieren, so Catherine Poujol im Interview mit Novastan.

Während Zentralasien mit dem Coronavirus zu kämpfen hat, versucht sich Catherine Poujol, Direktorin des französischen Instituts für Zentralasienforschung (IFEAC) an einer Analyse der ersten sichtbaren Folgen der Pandemie, ihrer Auswirken auf die internationalen Beziehungen der Region, und der Bedeutung der Arbeit des IFEAC für die Zeit nach der Krise.

Novastan: Zentralasien ist aufgrund der Entfernung zu den Ozeanen weit von den Haupthandelsrouten der Welt entfernt. Denken Sie, dass die zentralasiatischen Staaten sich angesichts der Krise durch protektionistische und nationalistische Maßnahmen abschotten werden?

Catherine Poujol: Zentralasien ist von den Ozeanen weit entfernt. Die meisten Staaten der Region sind Binnen- oder sogar doppelte Binnenstaaten. Nicht ohne Grund erhofft sich Zentralasien mit dem gigantischen Vorhaben der Neuen Seidenstraße, der Belt and Road Initiative von 2013, als Brücke zwischen China und Europa einen Schub in der Infrastruktur und Entwicklung. Es ist noch zu früh, um einen Ausblick auf die kommenden Jahre zu werfen, aber es scheint mir wahrscheinlich, dass die verständlichen Reaktionen der zentralasiatischen Staatschefs dem Wunsch folgen, die Ernährungssicherheit und Selbstversorgung ihrer Länder zu sichern – dies eine Politik des Protektionismus und Nationalismus zu bezeichnen, bleibt Ihnen überlassen.

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Es stimmt, dass Kasachstan aus Angst vor Mangel die Weizenlieferung nach Kirgistan ausgesetzt hat, aber wenn die Krise vorrüber ist, kann man sich vorstellen, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Nachbarn wiederhergestellt werden. Ebenso werden alle zentralasiatischen Staaten verstanden haben, dass sie trotz ihrer Bemühungen nicht autark sind und sich um neue, privilegierte Beziehungen in ihrer unmittelbaren regionalen Nachbarschaft (etwa mit Afghanistan) bemühren müssen, anstatt mit „verdächtigen“, oder weit entfernten Staaten. Dies könnte dem zuvor als irrelevant erachteten regionalen Integrationsprozess eine Chance geben.

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Eine Ablehnung Chinas gegenüber ist für die Zeit nach der Gesundheitskrise nicht zu erwarten, immerhin kommt es seit fast dreißig Jahren immer wieder zu spontanen Ausbrüchen der Sinophobie. Diese verhinderten weder, dass lokale Märkte von billigeren chinesischen Produkten geflutet wurden, noch, dass sich die Regierungen Kirgistans und Tadschikistans bei chinesischen Banken stark verschuldeten. Im selben Zug rühmt sich Tadschikistan, keine Covid-19-Erkrankungen zu verzeichnen (trotz ausbleibender Ausgangssperre und ohne Ausruf eines gesundheitlichen Krisenzustands) und erhöhte den Handel mit der Volksrepublik China von Januar auf Februar 2020 um 35 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum .

Auf der anderen Seite werden sich fehlende Tests und (für 2021 erhoffte) Impfstoffe revanchieren und auf die Rückkehr der Touristen, Händler und Flugzeuge auswirken – wie überall auf dem Planeten.

Dass die Spannungen zwischen China und dem Rest der Welt zunehmen, scheint auch für Zentralasien der Fall zu sein, wie Zwischenfälle in Kasachstan und Kirgistan kürzlich zeigten. Wie sehen Sie infolge der Krise die Entwicklung der Außenpolitik der zentralasiatischen Staaten?

Nicht nur Turkmenistan, das seit 1995 das Konzept der „permanenten Neutralität“ praktiziert, sondern alle zentralasiatischen Staaten sind bekannt für ihren Pragmatismus und ihre Politik der vielen Vektoren. Ich denke, dass die Beziehungen mit den „historischen Nachbarn“, den anderen Staaten Zentralasiens, Russland, allgemein den Staaten der ehemaligen UdSSR, unter der Führung Russlands die ersten Länder sein werden, die das notwendige Vertrauen für eine Wiederaufnahme der internationalen Wirtschaftsbeziehungen innehalten. Dies betrifft insbesondere die Rückkehr der Wanderarbeiter nach Russland, das in vielen Wirtschaftsbereichen dringend auf billige Arbeitskräfte angewiesen ist, sowie nach Kasachstan (im Baugewerbe). Die Mitgliedschaft vierer zentralasiatischer Staaten – neben China und Russland – in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit wird sie ebenfalls dazu drängen, ihre Beziehungen, von denen sie stark abhängig sind, wiederherzustellen.

Was die Europäische Union und die Vereinigten Staaten angeht, wird es einige Zeit dauern, bis das aufgrund der dortigen epidemiologischen Ausmaße entstandene Misstrauen versackt. Angesichts dessen könnten Südkorea, Japan und Deutschland aus der gegenwärtigen Situation als Sieger für die Region hervorgehen.

Das IFEAC hat beschlossen, ihre redaktionellen Leitlinien anzupassen, um die Auswirkungen der Krise besser abdecken zu können. Was werden Sie konkret machen?

Das IFEAC hat schnellstmöglich eine multidisziplinäre Forschungs- und Reflexionsachse entwickelt, um die Folgen dieser Gesundheitskrise fassen, antizipieren und analysieren zu können. Sie umfasst Spezialisten aus Zentralasien (Kirgistan, Kasachstan, Usbekistan und Tadschikistan) und Europa (Frankreich, Italien), sowie Doktoranden, Praktikanten und Ehemalige. Zuallererst besteht der Gedanke darin, die Stimmen der freiwilligen Teilnehmer in Form von spontanen Artikeln einzufangen. Ebenfalls werden wir kurze Fragebögen erstellen, die einem bestimmten Aspekt dieser komplexen Krise gewidmet sind und diese an unsere Spezialisten senden. Später werden dann systematische Umfragen darüber durchgeführt, wie sich ein Ausstieg aus der Krise vorgestellt wird.

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Wir haben uns entschieden, auf unsere Webseite eine neue Online-Publikation mit dem Titel „Post-Covid-19“ zu erstellen. Sie wird ermöglichen, erste Ergebnisse der Gruppe rasch zu übermitteln, zuerst in der inuitiven Form von Einzelinterventionen durch die verschiedensten Kompetenzen unserer Expertenkollegen. Anschließend werden sie gebeten, Fragen zu beantworten, was als Schnittstelle der Sozial- und Naturwissenschaften dient.

Kann die Forschung in dieser Krisensituation helfen?

Gewiss erfordert Forschung Zeit, aber genau wie in der Medizin erfordert die Dinglichkeit der Krisensituation eine Beschleunigung des Denkens in verwandten Bereichen, wie der Wirtschaft, der Soziologie der Ungleichheit, der Resilienz einer Bevölkerung. Das Management multipler und paralleler Krisen bewegt mich bereits seit Tschernobyl und insbesondere seit Fukushima.

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Noch nie war vorrausschauendes Handeln so notwendig wie Intuition und Vorstellungskraft, um das covidianische (oder besser post-covidianische) Zeitalter, in das wir eintreten, zu antizipieren. Gesellschaftsumfassende Neudefinitionen, die fast alle Gewissheiten der vergangenen zwanzig Jahre der Globalisierung berührt, müssen vorbereitet angegangen werden. Die Menschheit und die Staatengemeinschaft befand sich noch nie in einer so globalen Krise, von der wir uns wünschen, uns eine Chance zu geben, den Klimawandel nun endlich ernst zu nehmen.

Fragen (per Email) von Etienne Combier
Chefredakteur von Novastan France

Aus dem Französischen von Robin Shakibaie

 

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