Während Russland sich auf eine Verfassungsänderung innerhalb Wladimir Putins letzter Amtszeit vorbereitet, vergleichen Kommentatoren diesen Schritt mit dem Machtwechsel, der in Kasachstan vor einem Jahr stattfand. Der Vergleich ist zwar verlockend, doch ist er aus der Luft gegriffen.
Ein spannendes Gedankenexperiment: Was, wenn Kasachstan tatsächlich Russland politisch inspiriert hat? Seitdem Putin am 15. Januar ankündigt hat eine Verfassungsänderung vorzunehmen, taucht diese These immer wieder auf. Bereits im März letzten Jahres, kurz nach Nursultan Nazarbaevs Rücktritt als Staatsoberhaupt Kasachstans, griff die Deutsche Welle diesen Gedanken auf: „Warum nicht wie bei den Nachbarn in Kasachstan? Dort trat vor einigen Tagen einer zurück, dem man das nie zugetraut hätte. […] Verschwinden wird er aber nicht. […] Er bleibt Vorsitzender des mächtigen Sicherheitsrats. Auf Lebenszeit. Und Chef der Regierungspartei. Beides ginge theoretisch auch in Russland […]“.
Die Idee scheint verlockend: Nachdem Kasachstan seit seiner Unabhängigkeit immer noch in vielen Bereichen von Moskau beeinflusst ist, wäre Nur-Sultan doch das perfekte Vorbild in Sachen Politik und Machtwechsel.
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Ein intellektueller Fehler
Daniyar Kosanzarov ist anderer Meinung: „Es handelt sich um einen intellektuellen Fehler“, meint der kasachische Analyst aus Almaty. „Sicher, die beiden politischen Systeme sind ähnlich, und beide Führungen wollen mit aller Macht ihre Position erhalten. Doch in Wahrheit nimmt man jetzt Kasachstan als Vergleich, weil er der einfachste ist. Denn es ist das aktuellste Beispiel“.
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Präsident Nursultan Nazarbaev war im März 2019 „überraschend“ zurückgetreten, nachdem er 30 Jahre lang Kasachstan regiert hatte. Sein Amt übernahm Qasym-Jomart Toqaev, ehemaliger Senatspräsident. Dennoch wurde der erste Präsident der Nation, der sich „Elbasy“ bzw. „Vater der Nation“ nennen lässt, im Mai Präsident des Sicherheitsrats auf Lebenszeit. Der Sicherheitsrat hat weite Befugnisse in der Politik und Gesellschaft des Landes, etwa kann er die Minister ernennen. Es ist, als würden zwei Köpfe heute das Land regieren, ohne dass ihre Rollen genau definiert wären.
Vier Jahre voraus
In seiner Neujahrsrede verkündete Putin, das Parlament erhalte mehr Befugnisse und der Staatsrat, bisher ein Koordinationsorgan der Regionen, werde in der Verfassung festgeschrieben. Am 20. Januar wurden die Änderungen an die Parlamentsabgeordneten weitergeleitet, wie Sputnik berichtete. „Wladimir Putin tritt nicht zurück, er schickt nur die Regierung in die Wüste, und verkündete Reformen, die im Augenblick noch nicht anerkannt sind“, so Adrien Fauve, Kasachstanexperte an der Universität Paris-Saclay.
„Auch wenn die Reformen angekündigt wurden, es sind noch 4 Jahre, und bis dahin kann sich noch etwas ändern“, sagt Daniyar Kosnazarov. „Putin wird seine Entscheidung treffen, aber nicht so schnell, er geht seinen eigenen Weg“, erklärt der kasachische Politologe.
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Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten
Adrien Fauve spricht einen weiteren Zweifel aus: „Auch wenn es ähnliche Entwicklungen in beiden Ländern gibt, so bleiben dies Einzelfälle. Es ist zu früh um jetzt schon Prognosen zu aufzustellen“, gibt der Forscher zu bedenken. Wladimir Putin bleibt vorerst Präsident, und hat noch nicht klar mittgeteilt, ob er später plant, ein anderes politisches Gremium zu führen. Auch besitzt Putin nicht denselben historischen Status wie Nursultan Nazarbaev.
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Vor allem bleibt das kasachische Model sehr dynamisch: „Kasachstan befindet sich immer noch in Transition, daher ist es schwer, vorherzusagen, was aus dem Land in Zukunft wird“, sagt Daniyar Kosnazarov. „Qasym-Jomart Toqaev ist dabei eine neue Verwaltungsspitze einzuführen, Nursultan Nazarbaev hingegen wird einige seiner Aufgaben im Bereich der Sicherheit delegieren. In drei Jahren werden wir ein klareres Bild haben“, erklärt der kasachische Politologe.
„Heute gibt es mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Modellen“, schließt Adrien Fauve.
Die Redaktion von Novastan France
Aus dem Französischen von Julia Tappeiner
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