Der Historiker Dr. Schar Sardychan beleuchtet die Vor- und Nachteile des Wechsels von kyrillischem zu lateinischem Alphabet in Kasachstan und erklärt, warum Zhwldyz Zhwnws eher unglücklich darüber sein dürfte. Der Wechsel an sich sei angebracht, nur müsse darauf geachtet werden, in der Vergangenheit gemachte Fehler nicht zu wiederholen. Den Artikel von Vlast.kz übersetzen wir und veröffentlichen ihn in gekürzter Fassung.
Vor einigen Jahren, irgendwann im Hochsommer, flog ich für einen Tag nach Bremen, um alte Studienfreunde aus meiner Doktorandenzeit zu besuchen. Dort erfuhr ich, dass aktuell ganz Deutschland über das neu eingeführte Verbot der Beschneidung von Minderjährigen sprach, welches vor kurzem von einem Landgericht einer Straftat gleichgesetzt wurde. Infolge dieser Entscheidung wurde einstimmig Protest aus muslimischen und jüdischen Kreisen der deutschen Bevölkerung laut, welche ansonsten, milde gesagt, nicht außerordentlich viele gemeinsame Interessen haben. Auch unter meinen Freunden gab es Gegner der Beschneidung Minderjähriger, die sich infolgedessen mit einem ununterbrochenen Schwall von Vorwürfen konfrontiert sahen:
-Bist du beschnitten, Johannes? Ist dein Sohn beschnitten?
-Nein.
-Wollt ihr ihn beschneiden?
-Natürlich nicht!
-Dann spar dir deine Kommentare! Wenn ihr euch dazu entscheidet, dann werden wir deine Meinung hören.
Eine ähnliche Aussage, allerdings in Kasachstan, hörte ich einmal von meinen orthodoxen Freunden, als ich vor lauter Mitleid versuchte, sie zu überreden, ihr Baby nicht im Eiswasser zu taufen. An meine Beschneidung haben sie mich im Gegenzug nicht erinnert, dafür an das Matthäus-Evangelium: „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, laßt ihr nicht hineingehen“. Oder, um es mit ihren Worten wiederzugeben: „Halt die Klappe, Schar!“
Und dann kam jener 11. September, an dem in unserem Land die Idee erwachte, das lateinische Alphabet für die kasachische Sprache zu nutzen, und mit ihr erwachte urplötzlich eine Armee von Liebhabern der kasachischen Sprache. Die Situation erinnerte mich unwillkürlich an das etwas unangenehme, aber dennoch lehrreiche Gespräch mit meinen Bremer Freunden, genau wie auch an die Taufe in einer eisigen Januarnacht. Damals diskutierte und meckerte ich die ganze Zeit, verdarb den Leuten damit die Stimmung, und verstand nicht, was und warum sie da eigentlich tun, und warum alle so froh sind.
Eine wunderbare unausgearbeitete Idee
Um den geneigten Leser nicht länger auf die Folter zu spannen, will ich gleich zu Beginn meine Sicht auf die Angelegenheit deutlich machen: Der Übergang des Kasachischen zum lateinischen Alphabet ist eine praktische und wunderbare Idee. Dennoch, wie bei allen gut gemeinten Vorhaben, ist das wichtigste immer noch die Realisierung. Ein Alphabet muss in der heutigen Welt der Digitalisierung, wie eigentlich zu jeder Zeit, verständlich, praktikabel und schön sein. Für alle. Ein undurchdachtes und unausgearbeitetes Alphabet ist wie eine missglückte Tätowierung der Augenbrauen: Selbst die eigenen Kindern und Enkeln werden sich schämen, und die Ausbesserung ist teuer und manchmal gar nutzlos.
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Eins ist erfreulich: Wir halten ein Projekt in Händen. Noch nicht ausgearbeitet, aber zielgerichtet. Dieses wird nun allerdings von allen mit Füßen getreten, die nicht zu faul dazu sind, aber man tritt ja keinen toten Hund, das macht Hoffnung. Es ist weiterhin erfreulich, dass im Gegensatz zu früheren ambitionierten Projekten die Umstellung des Alphabets ziemlich genau umrissen ist, und das ist, was mir am meisten daran gefällt.
Hier wäre es angebracht, in bester Tradition des Kommentar-Genre, eine eigene Vorstellung des Alphabetes vorzulegen, ein paar technische Verbesserungen vorzunehmen, den Text fertigzustellen und sich schlafen zu legen. Da aber die Diskussion um das Alphabet in allen verborgene Wünsche, Komplexe und Ängste geweckt zu haben scheint, welche jahrzehntelang vergraben waren, und selbst der Erzbischof der Russischen Orthodoxen Kirche Metropolit von Wolokolamsk (dem nach meinem Verständnis das Problem, einen kasachischen Text mit der Computertastatur zu schreiben, eher fern sein dürfte) seine himmlischen Angelegenheiten für eine Zeit verlässt, um seine Meinung zu den irdischen Folgen der Übergangs zum lateinischen Alphabet kundzutun – wie sollte nun ich, ein einfacher Sünder, es ihm nicht gleich tun?
Wenn meine jungen und pragmatischen kasachischen Studenten mich, den Lehrer der Altertumsgeschichte, bitten, in zwei Worten die Menschheitsgeschichte der letzten 5000 Jahre zusammenzufassen, kommt mir nur eins in den Sinn: Im Strom der Zeit ist außer der menschlichen Natur mit all ihrer Habgier und ihrem Stolz nichts unverändert geblieben. Politik, Kunst, Wissenschaft, Religion und Moral – alles ist komplexer geworden, hat immer abstraktere Formen angenommen. Nur die Schriftsprache – egal ob die altägyptische, chinesische, russische oder deutsche – hat sich vereinfacht. Die gesamte Geschichte der Schriftsprache, von den Zeiten der Sumerer bis zu den modernen Montenegrinern, stellt einen umgekehrten Evolutionsprozess dar: Vom Komplexen zum Simplen. Es überdauert stets das Einfachste.
Welches Alphabet passt zu meiner Sprache?
„Kein einziges Alphabet passt zu einer ihm fremden Sprache“, schreibt der (nach Einschätzung einer meiner Freundinnen) talentierte russische Schriftsteller German Sadulajew. Ihm macht es offensichtlich nichts aus, dass das kyrillische Alphabet von den byzantinischen Predigern Kyrill und Method (sowie ihren Schülern) erstellt wurde, und zwar ganz und gar nicht für die Russen und die russische Sprache, noch viel weniger für die kasachische.
Wenn man von Schriftsprache redet, muss man stets im Auge behalten, dass Sprache und Schriftsprache zwei völlig verschiedene Dinge sind. Jede Sprache, so einzigartig und althergebracht sie auch sein mag, kann sich jedes beliebigen Alphabetes bedienen, oder gar auf Schriftlichkeit verzichten. Die Veden des Sanskrit wurden fast 1000 Jahre mündlich überliefert, bevor man auf die Idee kam, sie aufzuschreiben. Ebenso bei der Tora. Die Griechen lernten das Schreiben erst 500 Jahre nach der Einnahme Trojas, indem sie ganz einfach das Alphabet der Phönizier übernahmen. Das Persische, eine Sprache der indoeuropäischen Sprachfamilie, schreibt man mit arabischen Buchstaben, das Türkische mit lateinischen, das Mongolische mit kyrillischen, obwohl alles auch ganz anders sein könnte, wäre die Geschichte anders verlaufen.
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Natürlich ist die Sprachpolitik immer auch mit der allgemeinen Politik verknüpft. In der Sowjetunion wurde nur in Republiken mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung eine Einführung des kyrillischen Alphabets erzwungen, die nichtmuslimischen Republiken wie Geogrien, Armenien, Litauen und Estland behielten ihre Alphabete. Lediglich die Moldauer wurden ebenfalls kyrillisch, dies aber nur aus dem Grund, dass eine eigenständige Moldauer Sprache nicht bestand – es gab nur Rumänisch, und so musste man aus politischen Erwägungen heraus eine Sprache entwickeln und ein Alphabet verwenden, welches sich vom Rumänischen unterschied. Langlebig war diese Sprache und ihr Alphabet in Moldawien allerdings nicht: Sofort nach der Unabhängigkeitserklärung Moldawiens wurde die lateinische Schrift wiedereingeführt, und kurz danach war das Rumänische erneut offizielle Landessprache.
Was muss ein Alphabet leisten?
Ein Alphabet zu entwickeln, ist wie eine Waffe zu erfinden: Man kann die besten Wissenschaftler und Spezialisten versammeln, jahrelang tüfteln, entwickeln, unter Laborbedingungen testen, aber Erfolg hat das Produkt erst, wenn es von den einfachen Soldaten im Feld als gut befunden wird. Und die haben gar keine hohen Forderungen: Zuverlässigkeit, Einfachheit und gute Handhabbarkeit. Kosten und Ästhetik kümmern sie wenig. Deshalb ist es auch bei unserer Frage zentral, was wir, die einfachen Soldaten, von unserem Alphabet denken. Dabei interessiert uns allerdings auch die Ästhetik.
Das Wichtigste ist: Die Menschen sollen das neue Alphabet als einfach, hilfreich und natürlich erleben. Man sollte nicht das Gefühl einer Knechtschaft haben, eines Aufgezwungenseins von Oben oder eines Instruments zur Unterscheidung zwischen denen, die es kapieren, und denen, die ihre Probleme damit haben.
Die Umstellung muss für uns erfolgen, für unsere Whats-App-Chats, für die Aushänge auf den Märkten. Es soll das Gefühl da sein, dass das nicht irgendein von weisen Leuten aus Astana hervorgegrübelter Blödsinn ist. Ansonsten wird der Wechsel der Schrift zu einer sinnlosen Aktion, die im Endeffekt nur den Leuten das Leben erschwert. Eine Schriftsprache mag feindlich, fremd oder gottlos erscheinen, in jedem Fall aber sollte sie praktisch sein, sonst wird sie einfach nicht angewandt.
Forderungen an ein kasachisches Alphabet
Die 42 Buchstaben des kasachischen kyrillischen Alphabets sind eine echte Herausforderung für die Tastaturbelegung, besonders, wenn die am häufigsten verwendeten Buchstaben über die Ziffer- und Funktionstasten verteilt sind, und die in kasachischen Wörtern nicht auftauchenden Buchstaben (в, ё, ф, ц, ч, щ, ъ, ь, э) die besten Plätze belegen. Das heißt, wir brauchen weniger Buchstaben, und sollten nach Möglichkeit alle Zeichen der am weitesten verbreiteten lateinischen Tastatur QWERTY verwenden. Unbedingt ist die Verwendung von Digraphen gegenüber der Verwendung einfacher Zeichen mit Diakritika zu bevorzugen (sh, ch, gh anstelle von ş, č, ğ), und um Zugang zur tausendfachen Sammlung schöner lateinischer Schriftarten zu haben, sollte man möglichst Zeichen aus populären und verbreiteten Sprachen wählen (ä, ç, ñ, ö, ü anstelle von ə, č, ň, oʻ/ ø, ú).
„In der dänischen und norwegischen Sprache gibt es doch auch seine einzigartigen Zeichen – warum sollten wir Kasachen kein Alleinstellungsmerkmal haben?“, beschweren sich einige. Nun, Dänisch und Norwegisch wurden im analogen Zeitalter entwickelt, deshalb machte sich unser guter Søren Kierkegaard nicht besonders große Gedanken darum, dass sich in seiner PowerPoint-Präsentation auf einer Konferenz irgendwo in Boston alle dänischen Zeichen in leere Quadrate verwandeln könnten. Wir aber stehen dann da und müssen lang und breit den Leuten von Übersee erklären: „In meinem Namen sollte hier eigentlich ein Buchstabe stehen, der so aussieht, wie ein umgedrehter Dreizack, das Zeichen des Geschlechts der Tarakten, denen der Begründer des kasachischen Alphabets Prof. Myrkymbaew angehört, aber eure verdammte Helvetica hat es nicht erkannt“.
Wie bereits gesagt, vereinfachen sich die Schriftformen aller Sprachen seit jeher, sei es im Chinesischen, Arabischen, Hebräischen, Deutschen, Englischen oder Russischen. Da reicht es bereits, sich das russische Alphabet vor seiner Reformierung vor 100 Jahren anzusehen, mit ihren drei zusätzlichen Buchstaben Fita, Ischiza und Jat. Oder die fast vollständige Ersetzung des Eszett (ß) durch -ss- nach der deutschen Rechtschreibreform von 1996. Wenn selbst der penible Deutsche die Unvollkommenheit der Schriftsprache Goethes zugibt und sie permanenten Reformen unterzieht, können wir Kasachen dem erst recht nicht entgehen. Dies ist der eine Fall, in dem großartige Einbildung, übermäßiger historischer Stolz und das Streben nach Einzigartigkeit besser zurückgestellt werden und man auf nicht existierende oder nicht verbreitete graphische Formen lateinischer Buchstaben verzichten sollte.
Der Teufel steckt im Detail
Um nur ein Negativbeispiel aus den aktuellen Debatten zu bringen: Der Ersatz des „Уу“ (Uu, Anm. d. Red.) durch „Ww“. Diese Idee ist ohne Verwendung von Schimpfwörtern fast nicht zu kommentieren.„Ww“ ist in allen Sprachen ein Konsonant, dazu noch der unwichtigste von allen, der vielerorts nur in fremdsprachigen Worten oder altertümlichen Namen gebraucht wird. Im klassischen lateinischen Alphabet kommt er nicht vor, und er hat nicht einmal eine Bezeichnung, er ist einfach „double u“! Eine Bekannte von mir heißt Жулдыз Жунус (Schuldys Schunus, Anm. d. Red.), und nun, dank ein paar (milde gesagt) unklugen Menschen, darf sie sich Zhwldyz Zhwnws schreiben. Wenn das dann auch noch ein Türke liest, so findet er in diesem Namen keinen einzigen Vokal, ergo: Er kann ihn nicht aussprechen (Anm. d. Red.: In der Ende Oktober 2017 verabschiedeten Version des Alphabets wird У statt mit W mit Y‘ wiedergegeben, s.o.).
Wir müssen uns klar machen, dass es wohl kaum gelingen wird, sofort etwas Vollkommenes zu entwickeln, selbst Professor Myrkymbaew nicht. Wir sollten uns moralisch darauf einstellen, dass das Alphabet mit der Zeit überdacht und an die Lebenswirklichkeit sowie neue Technologien angepasst werden muss. Für ernsthafte Probleme kann es keine schnellen und leichten Lösungen geben. Aber verdammt nochmal, ich glaube daran, dass wir dieses unhandliche Alphabet ausarbeiten werden, und dass es nicht dazu kommen wird, dass sich irgendwo an den Ufern des Mittelmeeres ein gutaussehender Verwalter eines Fünf-Sterne-Hotels mit einem Pass auf den Namen Zhwldyz Zhwnws konfrontiert sehen wird.
Schar Sardychan
Vlast.kz
Aus dem Russischen und Kürzungen von Katharina Kluge
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