Marina Zhir-Lebed, Doktorandin an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, erforscht in ihrer Dissertation die Wechselbeziehungen zwischen der Bildung einer nationalen Identität und dem Gebrauch sozialer Medien am Beispiel Kasachstans. Im Interview mit Central-Asian Analytical Network (CAAN), das wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion übersetzen, spricht sie über die Parameter russischer „Soft Power“.
CAAN: Wenn man die Kulturpolitik der „traditionell“ in Zentralasien aktiven Akteure wie Russland, der USA, China, der Türkei, Japan und Südkorea analysiert, wirken sie dann nicht wie die Teilnehmer eines „The Great Game“ (Das Große Spiel, Anm. d. Red.), in dem sich alle gegenüberstehen? Im Rahmen Ihrer Forschungen haben Sie sich mit der Politik der Europäischen Union in Zentralasien beschäftigt. Gibt es ein „Great Game“ in der kulturell-humanitären Sphäre der Region?
Marina Zhir-Lebed: Meiner Meinung nach zeichnet sich ein solches „Großes Spiel“ im kulturell-humanitären Kontext Zentralasiens kaum ab. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die aktive Präsenz Russlands im kulturellen-humanitären Bereich im Hintergrund erfolgt, sowohl was die zentralasiatischen Staatsoberhäupter angeht als die Bevölkerung.
Russland betrachtet sich als Beschützer eines mit Zentralasien gemeinsamen humanitären Raums, indem es in erster Linie die gemeinsame Geschichte sowie die Rolle der russischen Sprache in Zentralasien anführt. Unter dem Deckmantel von Rossotrunitschestwo (der russischen staatlichen Agentur für humanitäre Zusammenarbeit, Anm. d. Ü.) versucht Russland, die Idee einer „Russischen Welt“ zu verbreiten, indem zum Beispiel Russische Zentren eröffnet werden oder AbiturientInnen aus zentralasiatischen Ländern die Möglichkeit erhalten, in Russland zu studieren. Die zentralasiatischen Staaten haben offiziell nichts dagegen und unterstützen dies sogar im Rahmen gutnachbarlicher Beziehungen. Aber parallel dazu bauen sie die humanitären Beziehungen mit der westlichen Welt aus. So werden westliche Bildungsstandards an zentralasiatischen Universitäten eingeführt und verschiedene Bildungsprogramme wie Erasmus oder die Programme des DAAD unterstützt.
Abseits des Politischen muss die sowjetische Vergangenheit und die Ähnlichkeit der Breitenkultur in Russland und Zentralasien hervorgehoben werden. In Zentralasien lebt eine große russische Diaspora, die im strategischen Interesse Russlands liegt, was die Russische Föderation deutlich von anderen Akteuren in der Region unterscheidet. Darüber hinaus beherrscht der Großteil der Bevölkerung in den zentralasiatischen Staaten die russische Sprache und verfügt mit den Russen über gemeinsame kulturelle Codes, weswegen sich Russland als untrennbar mit Zentralasien verbunden wahrnimmt.
Dadurch werden auch in Zentralasien vor allem russische Medieninhalte konsumiert. Sowohl bei den Massenmedien als auch in den sozialen Netzwerken dominieren Informationen aus Russland ohne nennenswerte Konkurrenz. In der Folge steht die Bevölkerung der zentralasiatischen Republiken unter dem Einfluss des innerrussischen politischen Diskurses, der oft mit der Überhöhung der Geschichte und der Suche nach ideologischen Feinden einhergeht. Aber dennoch gibt es gerade bei der Jugend Zentralasiens ein Streben nach westlichen Standards und neoliberalen Werten, allerdings in einem Ausmaß, das die kulturelle Position Russlands in Zentralasien kaum gefährden kann.
Nutzt Russland diesen Einfluss, damit die russische Diaspora nicht vergisst, dass es eine „historische Heimat“ gibt oder zielt er auf die gesamte Bevölkerung der zentralasiatischen Staaten ab? Welche der beiden Optionen hat für Russland Priorität?
Für Russland ist es wichtig, eine mindestens loyale Bevölkerung in Zentralasien zu haben. Dies ist sowohl mit der Bedrohung durch den radikalen Islam als auch mit wirtschaftlichen und verteidigungspolitischen Interessen verbunden. So hat Russland beispielsweise vorgeschlagen, in die syrischen Deeskalationszonen auch Soldaten aus Kasachstan und Kirgistan zu senden.
Außerdem zeigt das Beispiel der Ukraine, dass die russischsprachige Diaspora bei der Realisierung russischer außenpolitischer Strategien nützlich sein kann. Das Ziel Russlands ist es, die Idee der „russischen Welt“ zu verfestigen, auch in Zentralasien. Es geht hier also nicht nur um ein „historische Heimat“, sondern um eine „große historische Vergangenheit“, die den Angehörigen der Diaspora das Gefühl gibt zu einem „großen Volk“ zu gehören. Andererseits wird so das Risiko ethnischer Konflikte in Zentralasien erhöht, die die Pläne Russlands in der Region potenziell bedrohen würden. Deswegen ist es in Russlands Interesse, die Balance zu wahren, die aber in erster Linie von seinen weiteren Prioritäten abhängt.
Als einfacher Beobachter kann ich sagen, dass die russischen Medieninhalte mich wenig beeindrucken. Es gibt Krimiserien und die ewig schreienden Redner in Politik-Talkshows, aber keine positiven Erzählungen, die dazu geeignet sind, eine Begeisterung für Russland hervorzurufen. Mir scheint, dass der Eindruck täuscht, dass Russland aufgrund seiner medialen Vormacht mehr geliebt und geachtet wird. Der Inhalt ist vielmehr auf die eigenen StaatsbürgerInnen ausgerichtet. Russia Today und Sputnik sind da natürlich Ausnahmen, aber das, was wir sehen, ist doch hauptsächlich fürs Inland bestimmt. Was meinen Sie dazu?
Sie haben Recht damit, dass die russischen Sender und sozialen Medien sich in erster Linie an russische StaatsbürgerInnen richten. Ihr Inhalt richtet sich nicht direkt an die Menschen in Zentralasien, kann aber von ihnen als Teil des gemeinsamen kulturellen Codes betrachtet werden. Wenn zum Beispiel Russland sich den USA gegenüberstellt und das Bild eines Feindes zeichnet, so kann dies auch einen Effekt auf die Menschen in Zentralasien haben.
Eine andere Frage ist, wie die MediennutzerInnen in Zentralasien mit den erhaltenen Informationen umgehen. Und hier ist es meiner Meinung nach wichtig, den sozioökonomischen und kulturellen Hintergrund zu beachten. Abgesehen davon gibt es eine Tendenz, dass eine Folge des Konsums russischer Medieninhalte eine wachsende Sympathie für das russische Volk und die russische Sprache ist, während sich dies in Bezug auf Russland als Staat eher andersherum verhält. Hier greifen die Informationsblasen-Theorie sowie der Nutzen-und-Belohnungs-Ansatz (Uses and Gratifications Approach), da die Jugend – und dies ist die zahlenmäßig stärkste Bevölkerungsgruppe – soziale Medien dem Fernsehen vorzieht und sich so seine eigene Sicht bildet. Deswegen kann es hier keine Erfolgsgarantie geben.
Erzählen Sie uns über die KasachstanerInnen, die zum Studieren nach Russland gehen. Laut Statistik ist ihre Zahl seit der Unabhängigkeit stabil. Man hört, dass russische Hochschulen in den Regionen Kasachstans qualitativ hochwertige Rekrutierungskampagnen fahren. Wie ergeht es unserer Jugend in Russland und wie beeinflusst das ihre Beziehung zum Nachbarland? Stellt die Ausbildung in Russland eine Art von Soft Power dar?
Russische Hochschulen ziehen seit jeher AbiturientInnen aus Zentralasien an, vor allem aus Kasachstan. Die geografische und kulturelle Nähe sowie der Zugang zur russischen Sprache spielen hier ihre Rolle. Ein russisches Diplom erhöht die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Der Zugang zu russischen Hochschulen wurde erleichtert und Rossotrudnitschestwo vergibt Stipendien, deren Zahl sich in den letzten paar Jahren verdoppelt hat.
Allgemein ist Bildung an sich ein klassisches Instrument der Sozialisierung und stellt somit auch Soft Power dar. Insbesondere Russland geht offen damit um, dass es auf die Akquisition von Studierenden, unter anderem aus der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) abzielt. Immer mehr russische Universitäten nehmen an Bildungsmessen in den (kasachstanischen, Anm. d.Ü.) Regionen teil. Außerdem muss man anmerken, dass allein in Kasachstan sechs Filialen russischer Hochschulen, an denen nach russischem Lehrprogramm unterrichtet wird, existieren. In Kirgistan und Tadschikistan gibt es die Slawische Universität.
Was die kasachstanischen Studierenden in Russland betrifft, so beeinflusst ihre Ausbildung in der Russischen Föderation auch ihre Weltsicht. Indem sie sich im Land befinden, werden sie auch von Traditionen und Regeln beeinflusst, die sie selbst wieder unter FreundInnen und Verwandten verbreiten.
Gibt es die Sorge, dass Zentralasien sich verändert und sich aus dem postsowjetischen Raum herauslöst? Wenn es diese Sorge gibt, könnte das bedeuten, dass Russland sein jetziger Einfluss nicht reicht. Andererseits ist auch das Budget Russlands nicht unerschöpflich, sodass nicht jedem Wunsch nach Soft Power in der Region nachgegeben werden kann.
Die Gefahr, dass sich Zentralasien aus dem postsowjetischen Raum löst, sehe ich nicht. Erst einmal kann man nicht von größeren Veränderungen reden. Auch wenn verschiedene ForscherInnen nach dem Maidan die Ambitionen Russlands in anderen postsowjetischen Ländern besprochen haben, ist die Situation in Zentralasien offensichtlich eine andere.
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Die Verhandlungen über die Erweiterung der Eurasischen Wirtschaftsunion laufen, wenn auch langsam. Russische Gesetzte, die auf die Unterstützung des Traditionalismus gerichtet sind, werden von den zentralasiatischen Republiken übernommen.
Auch wenn der Einfluss Chinas in der Region wächst, so widerspricht das kaum den russischen Interessen. Sowohl für Chinas als auch für Russland sind stabile politische Regime, ökonomisches Wachstum und eine weltlich orientierte Regierung wichtig.
Ich glaube nicht, dass Russland anfängt, seine Strategie zu ändern, solange der Diskurs über die „große sowjetische Vergangenheit“ und die russische Sprache durch Fernsehen, soziale Netzwerke und Sommerschulen zur Eurasischen Integration Zugang zu den BewohnerInnen Zentralasiens finden. Dieses Modell funktioniert prima und ich denke, dass Russland auch weiterhin seinen kulturellen Einfluss auf diesem Weg ausweiten wird. Und Sie haben Recht, dass auch wenn aus diesen oder jenen Gründen die Ambitionen Russlands in der Region wachsen, die Frage der Finanzierung eine entscheidende Rolle spielen wird, zumal der Westen seine Sanktionen Russland gegenüber verlängert und auch die Ölpreise weit entfernt von ihren besten Tagen sind.
Auch wenn Russland und China an Stabilität in der Region interessiert sind, gibt es dennoch eine Rivalität im politischen und wirtschaftlichen Bereich. In Bezug auf Soft Power meinen aber viele ExpertInnen, dass China Russland nicht überholen wird, da die chinesische Kultur, Sprache und Mentalität eine andere und Russland den ZentralasiatInnen folglich näher ist. Wenn man in Betracht zieht, wie schnell China lernt und über welche finanziellen Möglichkeiten und wirtschaftliche Präsenz es verfügt, kann man nicht zum Schluss gelangen, dass sich die Situation nicht zu Gunsten Russlands entwickelt?
Daran, dass China versucht, seine Position mit Soft Power zu festigen, besteht kein Zweifel. Das Konfuzius-Institut, das chinesische Äquivalent zu Goethe-Institut oder British Council, hat zum Ziel, die chinesische Sprache und Kultur zu verbreiten. Es arbeitet auf der ganzen Welt, so auch in allen zentralasiatischen Republiken. In einem gewissen Maß ermöglicht es das Interesse an China zu erhöhen. Stipendien und alternative Studienprogramme aus China locken immer mehr AbiturientInnen und Studierende aus Zentralasien an. Aber im Vergleich zu einer Ausbildung in Russland steht jene in China weniger hoch im Kurs, was mit sprachlichen Hürden verbunden ist. Im Bereich des Handels ist die Nachfrage nach Arbeitskräften, die die chinesische Sprache beherrschen und die Besonderheiten der chinesischen Kultur kennen, kein Massenphänomen.
Teilweise tritt man China in Zentralasien mit Argwohn gegenüber. Ein Beispiel hierfür ist die Reaktion auf die Reform des Landrechts in Kasachstan, die einen weitgehend antichinesischen Charakter trug. Das wiederum verbessert das Ansehen Russlands.
Wie ist die Situation der zentralasiatischen ArbeitsmigrantInnen, die in Russland leben? Haben Sie Daten dazu, ob und wie sich ihre Wahrnehmung vor und nach der Arbeit in Russland ändert? Sind sie ein Art Agent, der nach der Rückkehr in die Heimat für eine weitere Annäherung und kulturelle Zusammenarbeit eintritt?
Das Thema Arbeitsmigration in Russland ist vielseitg und wenn man über Migration aus Zentralasien redet, ist es wichtig, zu differenzieren, worum genau es geht. In letzter Zeit ist die Zahl der legalen MigrantInnen mit einer Arbeitserlaubnis für die Russische Föderation signifikant gestiegen und umfasst 1,5 Millionen Menschen. Die Folge ist aber auch eine strengere Migrationsgesetzgebung. Viele Menschen aus Zentralasien kommen mit dem Ziel nach Russland, sich beruflich selbst zu verwirklichen und eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Sie sind bereit, bürokratische Hindernisse zu überwinden, zahlen Geld für die Genehmigung ihrer Geschäftstätigkeit und stimmen somit den russischen Spielregeln zu. Viele von ihnen erhalten das Aufenthaltsrechts oder sogar die Staatsbürgerschaft und holen ihre Familien nach Russland. Eine aktive Integration in die russische Gesellschaft ist eine Erfolgsgewähr für viele legale MigrantInnen.
Aus wirtschaftlicher Sicht ist Russland an dieser Art der Migration interessiert, zumal sie außerdem die gewohnte Position des Kolonialherren in der Region wahrt. So ruft die Stiftung Russki Mir (zu deutsch: Russische Welt) dazu auf, „Auswanderern aus Zentralasien“ die russische Sprache zu lehren und ihnen bei Erlernen neuer Berufe zu helfen, wobei niedrigqualifizierte MigrantInnen aus Kirgistan „Zuwanderern“ aus China als das geringere Übel gegenübergestellt werden. Obwohl die Mehrheit von ihnen ihre Zukunft in Russland und nicht in der Heimat sieht, können sie über die sozialen Medien dennoch für eine weitere Annäherung und kulturelle Zusammenarbeit eintreten. Durch aktive Teilnahme in Gruppen auf Vkontakte (das russische Facebook-Äquivalent, Anm. d. Ü.), Skype-Gespräche mit Verwandten oder ausschließlich positive Bilder auf Instagram, können legale und hochqualifizierte MigrantInnen ein positives Russlandbild verbreiten, das in der Folge die Vorstellungen der BürgerInnen Zentralasiens beeinflusst.
Was jedoch die illegalen MigrantInnen betrifft, für die die Arbeit in Russland eine Notwendigkeit ist und die die Rückkehr in die Heimat planen, so ist bei ihnen die Situation völlig anders. Laut jüngerer soziologischer Umfragen ist die Mehrheit der RussInnen den MigrantInnen aus Zentralasien gegenüber negativ eingestellt und leider verstärkt sich diese Tendenz von Jahr zu Jahr. Natürlich kann Diskriminierung legale wie illegale MigrantInnen treffen, aber gerade illegale MigrantInnen, müssen sich angesichts ihres Status damit abfinden. Häufig genug bilden sie geschlossene ethnische Gemeinschaften und haben wenig Kontakt mit RussInnen, woraus die Bildung sozialer Stereotype und eine Teilung in „wir“ und „sie“ resultiert. Diese MigrantInnen können auch über die sozialen Netzwerke ihre Eindrücke von Russland teilen. Nur erscheinen diese in einem völlig anderen Licht.
Mit Marina Zhir-Lebed sprach Rafael Sattarow
Central Asian Analytical Network
Aus dem Russischen von Robin Roth
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