ENTSCHLÜSSELUNG. Bei der Parlamentswahl in Kasachstan konnten erstmal seit langer Zeit wieder unabhängige Kandidierende teilnehmen. Seit dem Verfassungsreferendum im letzten Sommer und der Proklamation eines „Neuen Kasachstans“ präsentieren sich die Behörden deutlich offener, nicht zuletzt als Folge der Januar-Ereignisse von 2022. Dennoch ist das Regime zutiefst repressiv gegenüber der Opposition. Analyse einer demokratischen Fata Morgana.
Am 19. März haben in Kasachstan Kommunal- und Parlamentswahlen stattgefunden. Insgesamt 3.145 Angeordnete wurden in die 223 Máslihats (lokale Versammlungen) und 98 in die Májilis, das Unterhaus des Parlaments, gewählt. Wie üblich gewann die regierende Partei Amanat die Parlamentswahl. Sie erhielt laut offiziellem Ergebnis mehr als 54 Prozent der Sitze. In der neuen Májilis sind sechs Parteien vertreten, zwei mehr als in der alten Legislaturperiode.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass diese Wahl für Kasachstan nicht ungewöhnlich war. Dennoch war der Wahlkampf in diesem Jahr besonders dynamisch. Zum ersten Mal seit 2004 traten unabhängige Kandidierende, die nicht mit regierungsnahen politischen Parteien verbunden sind, in Wahlkreisen an und versuchten Sitze in Májilis und Máslihats zu erlangen. Andere Zeichen der Modernisierung waren bereits zuvor erkennbar: Wie die kasachstanische Nachrichtenagentur Kazinform berichtete, wurden im Vorfeld der Wahlen zwei neue politische Parteien registriert: die Umweltpartei Baıtak und die neoliberale Partei Res Publica.
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Präsident Qasym-Jomart Toqaev hatte in einer Rede im Januar „neue, gerechtere und wettbewerbsfähigere Regeln für die Bildung einer repräsentativen Regierungsgewalt“ für „einen dynamischen und umfassenden Erneuerungsprozess“ in Kasachstan angekündigt. Vertreter:innen der der Opposition erklärten daraufhin ihre Kandidatur, jedoch nicht ohne Schwierigkeiten. Laut den am Tag nach der Wahl bekanntgegebenen Ergebnissen konnten in 29 Wahlkreisen nur sechs unabhängige Kandidierende ins Parlament einziehen. Die anderen Sitze wurden von regierungstreuen Kandidierenden gewonnen, berichtet das kasachstanische Nachrichtenportal Vlast.
Barrieren für unabhängige Kandidierende
Auch wenn unabhängige Kandidierende an den Wahlen teilnehmen konnten, waren die regulatorischen Bedingungen für sie sehr nachteilig. Um anzutreten, mussten sie eine Million Tenge (mehr als 2.000 Euro) als Wahlsteuer eintreiben, die direkt an die Zentrale Wahlkommission gezahlt wurde. Luqpan Ahmedıarov, Journalist und Máslihat-Kandidat in Oral, erklärte gegenüber Radio Azattyq, dem kasachstanischen Dienst von Radio Free Europe, dass er diesen Betrag für zu hoch halte, da das durchschnittliche Monatseinkommen in Kasachstan nur knapp über 700 US-Dollar (652 Euro) liege. Wie Radio Azattyq berichtet, wurde ein Dutzend Kandidierende ohne Parteilisten aus manchmal widersprüchlichen Gründen abgelehnt. Die für die Zulassung zuständige Wahlkommission ist alles andere als unabhängig, weil ihre Mitglieder von den Akimaten (Regionalverwaltungen) ernannt werden. Diese werden ihrerseits wiederum von der Regierung ernannt.
Eine der nicht zugelassenen Kandidierenden ist Janar Jandosova, die als unabhängige Kandidatin für die Kommunalwahlen in Almaty antreten wollte. Die Kommission kritisierte die regierungskritische Soziologin dafür, dass sie eine im Bau befindliche gekaufte Wohnung in ihrem Einkommen deklariert hat, obwohl sie dazu nicht verpflichtet war. Das brachte ihr den Ausschluss ein. Aktivist:innen klebten daraufhin rote Aufkleber mit der Aufschrift „Ausgeschlossen wegen Ehrlichkeit“ auf ihre Wahlplakate.
Ein kurzer Wahlkampf
Der Termin der Wahlen wurde erst spät bekanntgegeben: Am 19. Januar kündigte der Präsident vorgezogene für den 19. März an. Die Wahlkampfphase sollte nur vier Wochen vorher, am 19. Februar beginnen. Im ganzen Land bewarben sich mehr als 400 Kandidierende um die 29 Direktmandate im Parlament, durchschnittlich 15 pro Sitz. In Almaty waren es nicht weniger als 37 unabhängige Kandidierende. Dieser Wettbewerb zwischen ihnen zerstörte aber jede Chance, eine solide Opposition hervorzubringen. Schließlich ist es unwahrscheinlich, dass die 29 Direktmandate von Unabhängigen gewonnen werden. Hinzu kommt, dass die verbleibenden 70 Prozent der Májilis-Abgeordneten über Parteilisten gewählt werden. Das Parlament wird tatsächlich nicht erneuert: Die Staatsmacht will „die Kontrolle behalten“, obwohl sie vorgibt, dies nicht zu tun, stellt Radio Azattyq fest. Der Fall von Inga Imanbaı veranschaulicht dies perfekt. Die Menschenrechtlerin und ehemalige Journalistin kandidierte im dritten Wahlkreis von Almaty. Sie ist auch die Frau von Janbolat Mamaı, dem Vorsitzenden der nicht registrierten Oppositionspartei „Demokratische Partei“, deren YouTube-Kanal fast 600.000 Abonnent:innen hat. Mamaı ist seit Februar 2022 inhaftiert und wartet unter Hausarrest auf seinen Prozess. Ihm werden mehrere Straftaten vorgeworfen, darunter „Verletzung des Verfahrens zur Organisation und Durchführung friedlicher Kundgebungen“. Ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft.
Wie ihr Mann setzt sich Imanbaı für eine unabhängige Untersuchung der Januar-Ereignisse und für das Ende des „Systems Nursultan Nazarbaev“ ein, dessen Reinprodukt sie in Präsident Toqaev sieht. Aber seltsamerweise wurde sie wegen ihrer Berichterstattung in den Medien nicht von der Wahl ausgeschlossen. Wäre ihre Kandidatur verhindert worden, hätte dies den Behörden international ein schlechtes Image eingebracht, meint die Aktivistin. Im Bewusstsein, eine Art demokratischer Garant des Systems zu sein, versichert sie dennoch, „dass sie mich deswegen nicht im Parlament sehen wollen!“
Wahlen „nicht anders als früher“
Nachdem die Wahllokale um 20 Uhr geschlossen waren, kursierten in den sozialen Medien Videos, die Menschen zeigten, die Wahlurnen füllten. Die Beobachtungsmission der OSZE kommt zu dem Schluss, dass es diesen Wahlen an Transparenz mangelte. Unabhängige Beobachter:innen berichteten von mehrere Verstößen, unter anderem Ausschluss von Beobachter:innen, Verstecken von Wahlurnen vor den Blicken von Beobachter:innen oder Verbot des Fotografierens und Filmens in den Wahllokalen. Elena Shvetsova, Direktorin der gemeinnützigen Wahlbeobachtungsgruppe Erkindik Qanaty wurde Zeugin von Verstößen in Astana. Sie erklärt in einem Interview mit Eurasianet, dass die Regierung „administrative Ressourcen“ einsetze, um Kandidierende in Wahlkreisen mit nur einem Mandat auszubremsen. „Diese Wahlen unterscheiden sich nicht von früheren“, schließt sie.
Konsolidierung der Ära Toqaev
Unterstützer:innen von Präsident Toqaev hatten die Wahlreform und die Registrierung neuer Parteien als historischen Reset eines Systems angepriesen, das von seinem Amtsvorgänger Nursultan Nazarbaev geschaffen wurde. Nazarbaev war 2019 zurückgetreten, hatte aber im Anschluss daran hinter den Kulissen erheblichen Einfluss behalten. Es ist daher auch kein Zufall, dass die Wahl für den 19. März terminiert wurde. Genau vier Jahre zuvor hatte Nazarbaev seinen Rücktritt nach 29 Jahren an der Staatsspitze angekündigt. Lest auch auf Novastan: Kasachstan: Die „De-Nazarbaevisierung“ schreitet voran Toqaev, der immer in Schatten seines Vorgängers stand, nutze das politische Chaos infolge der Demonstrationen vom Januar 2022, die gewaltsam niedergeschlagen wurden. Er entließ etliche Beamte des „Nazarbaev-Clans“, die dem ehemaligen Präsidenten immer noch treu ergeben waren. Die Wahl eines neuen Parlaments könnte die Ära Toqaev nun endgültig konsolidieren.
Keine Dynamik an der Wahlurne
Auch wenn die Wahl keinen wirklichen politischen Wandel herbeigeführt hat, so hat sie zumindest die Bildung einer echten politischen Opposition eingeleitet. Am 20. Februar gaben einige der unabhängigen Kandidierenden bekannt, dass sie eine Koalition bilden würden. Dies ist ein erster Schritt, auch wenn der Politikwissenschaftler Shalkar Nurseıtov glaubt, dass es bis zur Bildung eines soliden Oppositionsblocks noch ein weiter Weg ist.
Die Tür, die den Oppositionskandidat:innen geöffnet wurde, hat bei den Bürger:innen jedoch kein Wahlfieber ausgelöst. Die Wahlbeteiligung ist nach wie vor gering und erreicht landesweit kaum 54 Prozent. Laut einer unabhängigen Studie glauben 62,5 Prozent der Kasachstaner:innen, dass keine der an den Wahlen teilnehmenden Parteien ihre Interessen vertritt.
Lou Desmoutiers, Redakteurin für Novastan
Aus dem Französischen von Robin Roth