Die Journalistin und Hobby-Archäologin Olga Gumirova nimmt seit 1995 an Expeditionen des Archäologen Dr. Alekseı Marıashev teil. Mit den LeserInnen von Vlast teilt sie ihre Sorgen um das Schicksal archäologischer Denkmäler in Kasachstan. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Der Herbst 2020 steht für mich im Zeichen der Zerstörung von Gräbern. Im September schrieb Rafael Hismatullin, ein Tourist und Jäger aus Taldyqorģan, mit dem ich schon vorher bekannt war, über zerstörte sakische Kurgane in der Nähe seiner Heimatstadt.
Der erste Kurgan befindet sich im Qoģaly-Tal in der Nähe des Dorfes Teryssakan im Gebiet Almaty. Seine „schwarzen Ausgräber“ – schwarz, weil sie Denkmäler der Archäologie und der Geschichte plündern und das Gestohlene verkaufen – hatten schon im Frühjahr versucht ihn zu öffnen. Sie haben es geschafft fast bis zur Grabkammer vorzustoßen, aber ein lokaler Fischer bemerkte sie und meldete dies dem Bezirksbeamten Aslan Basarbaev. Der Einstieg wurde aber nicht zugeschüttet und im Herbst setzten die Grabräuber ihre illegale Tätigkeit fort und gruben ihren Schacht noch einen Meter tiefer.
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Wir „Petroglyphen-JägerInnen“ arbeiten im Gegensatz dazu eng mit professionellen ArchäologInnen zusammen. Wir fuhren ins Qoģaly-Tal und dokumentierten die teilweise Zerstörung des Grabhügels, präzisierten seine Position auf der Karte und bereiteten Informationen für das Zentrum zum Schutz des historischen und kulturellen Erbes des Gebiets Almaty vor. Der Einstieg soll dieser Tage zugeschüttet werden.
Der „Schöne“ aus dem Qoģaly-Tal
Im Qoģaly-Tal zeigten Einheimische uns auch die Statue eines türkischen Kriegers, vermutlich aus dem 7. oder 8. Jahrhundert – eine Gedenkskulptur, die normalerweise neben Gräbern installiert wurde. Vor einigen Jahrzehnten hatte ein Einwohner des mittlerweile verlassenen Dorfes Lugovoe den Krieger zusammen mit anderen Steinen von irgendwo aus der Ferne zur eigenen Nutzung hergebracht. Hätten nicht die alten Leute erklärt, was dies für eine Skulptur ist, wäre sie ins Fundament des Hauses gelegt und mit Zement übergossen worden.
Der Krieger wurde natürlich nicht zum Grab zurückgebracht. Er wiegt fast eine Tonne und wurde in der Nähe des Hauses installiert, wo er viele Jahre lang ganz allein und von allen vergessenen stand. Er würde dort noch weiter stehen, aber ins verlassene Dorf kommen häufig die „schwarzen Ausgräber“. Das ganze Dorf wurde von ihnen umgegraben – dort, wo die Metalldetektoren anschlugen, gruben sie auch Löcher.
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Sämtliche Arbeiten an historischen Denkmälern ohne spezielle Lizenz sind illegal. Das Gesetz der Republik Kasachstan „Über den Schutz und die Nutzung von Objekten des historischen und kulturellen Erbes vom 26. Dezember 2019“ beinhaltet Artikel Nr. 34 Absatz 1, welcher besagt: „Die Durchführung von archäologischen Arbeiten auf dem Territorium der Republik Kasachstan ist nur mit einer Lizenz für die Durchführung von wissenschaftlichen und Restaurierungsarbeiten an Denkmälern der Geschichte und Kultur und (oder) archäologischen Arbeiten erlaubt. Wenn es keine Lizenz und keine Abstimmung mit den lokalen Behörden gibt, kann es zu einer Strafe kommen.“
Der „Schöne“, wie wir den Krieger nannten, musste dringend gerettet werden bevor die „schwarzen Ausgräber“ dieses wertvolle historische Artefakt bemerken! Am 20. Oktober haben Mitarbeiter des Zentrums für den Schutz des historischen und kulturellen Erbes des Gebiets Almaty die Skulptur ins Geschichts- und Heimatkundemuseum von Taldyqorģan transportiert, wo sich bereits eine ganze Gesellschaft dieser Krieger versammelt hat. Sie alle wurden seinerzeit aus zerstörten türkischen Grabstätten hierhergebracht.
Den zweite geplünderten Kurgan oder genauer gesagt, das, was von ihm übriggeblieben ist, zeigte uns der Schäfer Janat Turlybaı neben seiner Farm. Er erzählte, dass Anfang September Leute mit Metalldetektoren kamen, dass sie um die Kurgane herumgingen, einen von ihnen auswählten, ein Zelt darüber aufbauten und Ausgrabungen begannen. Auf Janats Frage, wer ihnen das Ausgraben erlaubt habe, antwortete man ihm, dass hier ihr Großvater begraben sei, der ihnen einen Schatz vermacht und sogar eine Karte des Geländes hinterlassen habe. Der Schäfer ging mit diesen Leuten keine weitere Auseinandersetzung ein; das Kräfteverhältnis war offensichtlich zu ungleich.
Der alte Friedhof von Altaı
Im Oktober kam es dann zu einem Skandal wegen des Abrisses des historischen Friedhofs im alten Park der Stadt Altaı (bis 2019 Syrjanowsk). Die Stadtverwaltung entschied, die wie durch ein Wunder erhaltenen Grabsteine auf einem Haufen zu sammeln und zum aktuellen Friedhof zu fahren. Dort weigerte man sich, sie wieder aufzustellen. In der Tat ist es seltsam, auf einem modernen Friedhof Grabsteine für Menschen zu platzieren, die vor hundert Jahren gestorben sind. Und dies auch noch ohne die Leichen der Verstorbenen und in Zeiten, da ein Platz auf dem Friedhof teuer ist.
Auf einem der „deportierten“ Grabmäler ist das Datum 1875 angegeben. Und der Friedhof selbst könnte nach Angaben der HeimatforscherInnen viel älter sein. Immerhin wird diese Siedlung in den schriftlichen Quellen erstmals 1791 erwähnt. Die Argumentation der Stadtverwaltung für den Abriss des Friedhofs im Stadtpark klingt wild: Die Angehörigen hätten sich nicht um die Gräber gekümmert. Ich erinnere daran, dass es sich um ein Objekt handelt, das mit vollem Recht ein Denkmal der Geschichte genannt werden kann. In eineinhalb Jahrhunderten hat die Welt viele Änderungen durchlebt: das Zarenreich fiel, zwei Weltkriege sind ausgebrochen, es gab Repressionen im Land und die UdSSR ist zerfallen…
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Am eklatantesten ist, dass der historische Stadtfriedhof keine „Registrierung“ hat. Das heißt, dass es keine Dokumente zu ihm gibt; im Archiv erscheint er nicht. Wie kann das sein?
Die Grabsteine wurden weggenommen und die Knochen im Boden gelassen. Über ihnen soll ein „Park für die Jugend“ entstehen, wie ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Altaı unter einem meiner Beiträge auf Facebook schrieb. Man bekommt Gänsehaut von dieser Symbolik.
Werden die Grabsteine wieder in den Stadtpark zurückkehren? In der Stadt gibt es derzeit noch eine hitzige Diskussion. Die BürgerInnen, die wegen der Zerstörung eines Denkmals der Geschichte wirklich empört sind, und die Stadtverwaltung sind noch nicht zu einer gemeinsamen Meinung gekommen. Vielleicht wird das entscheidende Wort von Beamten auf höherer Ebene gesprochen.
Das Grab von Vorobıovka
Letzte Nacht (der Artikel erschien im russischsprachigen Original am 27. Oktober 2020, Anm. d. Red.) erreichte mich die Information über die Zerstörung eines alten Grabes aus der Begasy-Dandybai-Kultur – mit menschlichen Überresten und Artefakten. Dies geschah beim Bau einer Cottage-Siedung für Abgeordnete im nahe der Hauptstadt gelegenen Dorf Vorobıovka. ArchäologInnen legen mit dem Auto oder zu Fuß Hunderte von Kilometern durch die Steppe zurück, um solche Denkmäler zu finden, und nur selten haben sie Glück. Und hier wurde ohne die in solchen Fällen obligatorische archäologische Untersuchung eine Baustelle begonnen. Ich denke, die Abgeordneten werden schockiert sein, wenn sie erfahren, dass ihre Häuser auf einem alten Friedhof stehen und dass man für die Abgrenzung des Territoriums Grabsteine verwendet hat.
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Das Ergebnis: ein zerstörtes Grab, für immer verlorene wertvolle Informationen über die Geschichte des alten Kasachstan, der Verlust von in jeder Hinsicht wertvollen Artefakten und menschliche Knochen, die von den Rädern schwerer Maschinen zu Sand zermahlen wurden…
Das Zentrum für den Schutz des historischen und kulturellen Erbes des Gebiets Aqmola ist informiert. Ein Mitarbeiter ist vor Ort.
Ein Lichtblick in der Hoffnungslosigkeit
All diese Geschichten füllen die Seele mit Hoffnungslosigkeit. Wie ein Lichtstrahl in einer düsteren, alles zerstörenden Vergessenheit erscheint daher eine helle Episode aus diesem Herbst. Es war im September, als wir auf Petroglyphen-Jagd in die Malaısary-Bergen gingen. Auf dem Weg schauten wir bei dem uns bekannten Bauern Abdimanap Omarov vorbei. Er versprach uns, Zeichnungen zu zeigen. Das Versprechen wurde gehalten, aber der Zweck der Reise war ein anderer. Wir fuhren 50 Kilometer auf verworrenen Wegen durch schwieriges Terrain, um von den Elementen zerstörte Gräber zu sehen. Alle umliegenden Schäfer stellten sich die Frage: Wie kann das sein?
Die weißen Flecken am Hang auf dem Foto sind kein Vogelkot oder aufgetretenes Salz der Erde. Aus dem durch den Fluss und den Wind zerstörten Hang des Berges mit einer Höhe eines sieben- oder achtstöckigen Hauses kommen menschliche Knochen hervor. Schäfer sammeln sie regelmäßig ein und bestatten sie in Anwesenheit eines Mullahs. Für sie ist das ein großer Stress, denn die Gräber der Vorfahren dürfen nicht gestört werden.
Wir haben uns den Ort angesehen, sind auf den Hügel gestiegen. Rettungskräfte hätten die Situation genauer eingeschätzt, aber aus unserer Sicht schien die Übertragung der Überreste aus den noch auf dem Gipfel erhaltenen halb zerstörten Gräbern nicht möglich. Die Ausgrabungen könnten damit enden, dass der Hang zusammen mit den Menschen abstürzt.
Unser kleiner Rat beschloss, dass die Einheimischen wie bisher die Knochen sammeln und sie mit allen Ritualen umbetten werden. Die Menschen aus dem Hinterland, die einfachen Schäfer handeln auf menschliche Weise, während all das, was mit den alten und weniger alten Gräbern außerhalb dieses gesegneten Ortes in den Malaısary-Bergen geschieht, nichts mit Menschlichkeit zu hat.
Olga Gumirova für Vlast
Aus dem Russischen von Robin Roth
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