Startseite      Koran-Zitate, Hitchcock-Atmosphäre und Kasachische Volksmusik: Die Magie des Rappers Maslo Tschjornogo Tmina

Koran-Zitate, Hitchcock-Atmosphäre und Kasachische Volksmusik: Die Magie des Rappers Maslo Tschjornogo Tmina

„Schwarzkümmelöl“ nennt sich einer der spannendsten kasachstanischen Rapper unserer Zeit. Das Online Magazin The Steppe hat sich seine Kunst etwas näher angeschaut und erläutert seinen Werdegang, seine vielen Inspirationsquellen und warum sein jüngstes Album als ein musikalisches Ereignis betrachten werden kann. Wir übersetzen eine leicht gekürzte Version des Texts mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Kensshi Screenshot Maslo Tschjornogo Tmina
Screenshot aus dem Videoclip kensshi des Regisseurs Aısultan Seitov

„Schwarzkümmelöl“ nennt sich einer der spannendsten kasachstanischen Rapper unserer Zeit. Das Online Magazin The Steppe hat sich seine Kunst etwas näher angeschaut und erläutert seinen Werdegang, seine vielen Inspirationsquellen und warum sein jüngstes Album als ein musikalisches Ereignis betrachten werden kann. Wir übersetzen eine leicht gekürzte Version des Texts mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Im Juli vergangenen Jahres veröffentlichte der Rapper Maslo Tschjornogo Tmina (dt. „Schwarzkümmelöl, kurz MTschT) aus Karagandy mit kensshi sein erstes Album. Das Werk unterscheidet sich grundlegend von allem, was er zuvor gemacht hat, und dürfte einen Teil seiner Zuhörerschaft verärgert haben. Aber das Risiko hat sich gelohnt: Das Ergebnis ist eine schwerwiegende Noir-Platte, durchdrungen mit Verweisen auf den Koran, die Heimat und das surrealistische Kino.

Der Anfang

Die Musik und der Stil von Maslo Tschjornogo Tmina sind nicht über Nacht entstanden. Fünf Jahre lang schärfte der Rapper, der mit richtigem Namen Aıdyn Nuralin heißt, seine Zeilen, wobei er einmal die Tonart und dreimal den Künstlernamen änderte.

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Unter seinem ersten Spitznamen Dokka Rise produzierte Aıdyn sechs Jahre lang eine Art Garagenrap mit Verweisen auf Fußball und berühmte Politiker.

Er produzierte auch Clips: Hier ist zum Beispiel ein Link zu seinem Track „Tschystoserdetschnoje“ (dt. Reinherzig), in dem er einer ihm gegenübersitzenden jungen Frau grob seinen Gedanken und seine Unzufriedenheit ausspricht. Hier ist noch kein Schwarzkümmelöl durch seine Musik geflossen.

Dokka Rise Rap
Aıdyn, als er noch Dokka Rise war

Viel interessanter sind die Stücke seiner nächsten beiden Künstlernamen: zulkar.9 und itch.yes. Beide dienten Aıdyn nur für kurze Zeit, zeichnen aber den Übergang vom „Teenie-Rap“ zu dem, was er als MTschT macht. Sie haben schon den zerhackten „Jelzin-Flow“, der später zu seinem Attribut wurde, und denselben Film-Noir-artigen Vibe, der durch seine heutige Musik fließt.

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Unter diesen Spitznamen war er von 2016 bis 2018 aktiv, gleichzeitig wuchs im Hip-Hop des postsowjetischen Raums aktiv das Interesse am Cloud-Rap. Womöglich hängen die Veränderungen im Klang des Rappers aus Karagandy mit den allgemeinen Trends der Rap-Szene in dieser Zeit zusammen.

Ich konnte auch mit Menschen sprechen, die Aıdyn schon lange vor seiner Künstlerfigur als Maslo Tschjornogo Tmina kannten.

Ja, ein ganz normaler Typ, der lange und zielstrebig gearbeitet hat und Musik geschrieben hat. Damals hatten wir wohl keine besonderen Eigenschaften. Wir haben uns nur bemüht, nur gemacht. Und daraus kam etwas heraus“, erzählt der Battle-Rapper Odinatsatyi (de. Der elfte), der damals als Beatmaker Hooligan Aıdyns Stücke mixte.

Er ist vielseitig. Sowohl aufbrausend als auch ruhig. Er konnte stundenlang Texte schreiben und sie zielstrebig so aufnehmen, wie er es wollte. Er scheute keine Mühen, um seine Lieder zu dem Ideal zu bringen, das ihm vorstrebte. Ich kann nichts besonders Unglaubliches über ihn erzählen, außer dass er ein sehr guter Mensch ist. Wir standen in Kontakt und haben unsere Gedanken ausgetauscht. Auch nachdem unsere Firma auseinanderging erkundigte er sich regelmäßig nach der Gesundheit meiner Mutter und wie es mir ging“, sagt eine junge Frau, die Aıdyn nahestand, jedoch anonym bleiben möchte.

Der Künstlername

Aıdyn sagt, der Name sei zufällig entstanden.

Eines Tages las ich etwas über die Maslow-Pyramide, und dann sah ich Schwarzkümmelöl in meinem Regal zu Hause. Mir wurde klar, dass der Name selbst edel klingt. Er ist sowohl originell als auch aussagekräftig. Meine Musik heilt mich selbst, wie Schwarzkümmelöl.

Tatsächlich erklärt der Name viel: Die Musik ist zähflüssig, umhüllend, mit einer fast physisch wahrnehmbaren Textur. Sie wiegt schwer – nicht wegen des Drucks, sondern weil man jeden Trommelschlag durch die Haut spürt.

Die Lieder von MTschT schweben im Dunst, Aıdyns Stimme wird von den Effekten, dem Lärm übertönt, als wolle er sich verstecken. Es ist schwer, den Text zu verstehen, und zunächst hörte ich mir diese Lieder an und ignorierte dabei einfach den Text. Aıdyn gibt aber an, dass die Wörter ihm äußerst wichtig sind.

Islam und kensshi

Ehemalige Klassenkameraden erzählten, Aıdyn sei in seiner Jugend sehr religiös gewesen und habe fünfmal am Tag gebetet. Das Interesse an der Religion half dem jungen Mann, ein Konzept für sein zukünftiges Album zu erstellen.

Spi Tschelowek Maslo Tschjornogo Tmina
Szene aus dem Videoclip „Spi Tschelowek“

Eben die Religion nahm Aıdyn als Grundlage für die Darstellung von Maslo Tschjornogo Tmina. Er verriet diese Idee nie, während er sie in all seine grandiosen Unternehmungen integrierte. Sein Album kensshi ist keine Ausnahme.

Angefangen mit seinem falschen Nachnamen Zakaria, den die meisten Leute für echt halten.

Die Wahrheit ist, dass wir es nicht mit Aıdyn Zakaria, sondern mit Aıdyn Nuralin zu tun haben. Zakaria ist der Name eines islamischen Propheten (im Christlichen Glauben als heiliger Zacharias bekannt), der von Gott nach Israel gesandt wurde, um das israelische Volk zum richtigen Glauben zu führen.

Den nächsten Hinweis zu seiner religiösen Affinität gab Aıdyn selbst, indem er die Werbekampagne für sein Album mit einem Zitat aus dem Koran begann.

Das Beispiel zeigt, wie Aıdyn auf den 49. Vers der 30. Sure „Ar-Rum“ verweist, und zwei Monate später den Vers selbst aufschreibt. Der zweite Post erschien keine zwei Tage vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin von kensshi.

Höchstwahrscheinlich wollte Aıdyn es so umspielen, als sei im Koran von seinem Debütalbum die Rede. Ein interessanter und mutiger Ansatz, wobei die meisten Zuhörer die Andeutung nicht verstanden haben.

Maslo Tschjornogo Tmina VK
Die Posts auf dem sozialen Netzwerk VK, in denen Aıdyns sein neues Album ankündigt. Erst mit Verweis auf ein Koranzitat, dann mit dem vollen Zitat.

Auf der Platte selbst gibt es ein Dutzend Verweise auf das heilige Buch der Muslime. Damit ist Aıdyn einer von sehr wenigen russischsprachigen Rapper, die ihre Musik auf heilige Schriften stützen. Niemand erwartete einen solchen Umgang mit Worten und Formen, der sich grundlegend von dem unterscheidet, was auf seinen vorherigen Stücken zu hören war. Dies erklärt die Empörung und den Groll der Hörer, deren Erwartungen an das Album parallel zur Idee dessen Autors verliefen.

Man würde euch nicht einmal die Rinnen eines Dattelkerns geben“ – eine Zeile aus dem Stück Oobatz. Es ist ein direkter Bezug auf die muslimische Kultur, in der Datteln eine wichtige Rolle im Essen während der Fastenzeit spielen. Mit dieser Zeile will Aıdyn sagen, dass diejenigen, die sich über andere stellen wollen, nicht einmal den Rest eines Dattelkerns bekommen würden. Die Macht Gottes ist in seinem Sinne stärker als die Ambitionen eines Einzelnen.

Der erste Videoclip zum Album wurde zu dem eher diskreten Track „Spi Tschelowek“ (dt. Schlaf, Mensch) aufgenommen. Damit betont Aıdyn den Ernst seines Plans und spielt mit den Nerven der Hörer, die Clips eher zu potenziellen Hits erwarten.

Das Album kensshi erhebt an keiner Stelle den Anspruch darauf, zum Album des Jahres zu werden, und darin liegt seine Schönheit. Maslo Tschjornogo Tmina bleibt in den Tiefen des Undergrounds, in dem er sich befand. Er braucht keine zusätzliche Popularität, die seine Anonymität erschüttern könnte. Er abstrahiert sich vom Zuhörer und hat keinen direkten Kontakt mit ihm. Für ihn zählt die eigentliche Kunst, nicht die kommerziellen Details oder die Meinung derer, die seiner Musik „treu“ sind.

„Aus Tonessenz, wovon handelt dein Lied?
Du wurdest an einem sicheren Ort untergebracht.
Vom Tropfen zum Gerinnsel, durch Fleischstücke,
Guten Morgen, gute Nacht“.

https://www.youtube.com/watch?v=dBI9BjcPJpg

„Spi Tschelowek“ spiegelt die Form des gesamten Albums wider. Es ist ein ruhiges, aber gleichzeitig bis zum Anschlag gespanntes Noir-Motiv mit Jazztönen, das die Idee des ganzen Albums flüstert und uns zu den Zeilen aus dem Koran führt. Insbesondere zum 71. Und 72. Vers der 38. Sure „Sad“:

Dein Herr sprach zu den Engeln: ‚Ich werde den Menschen aus Lehm erschaffen.‘“

Wenn Ich es zurechtgeformt und ihm von Meinem Geist eingehaucht habe, dann fallt und werft euch vor ihm nieder“.

Im Kurzfilm kensshi, gedreht vom kasachstanischen Starregisseur Aısultan Seitow, erscheinen ebenfalls viele Motive aus dem Koran. Im Clip ist zum Beispiel eine Neuauflage des „Tawaf“ zu sehen, eine rituelle Umkreisung der Kaaba in Mekka gegen den Uhrzeigersinn. In der Mitte sehen wir jedoch Aıdyn, und um ihn herum halbkahle Jugendliche.

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Diese Szene kann als Verkörperung moderner Idole interpretiert werden. Die Teenager schneiden sich die Haare wie Aıdyn, sind mit Schwarzkümmelöl bedeckt, und für ihr Idol sogar zu einer Massenschlägerei bereit. Sie vergöttern ihn, da sie ihn als eine neue Verkörperung „höherer Mächte“ betrachten.

Wechselt man die Komposition, wirken die Zeilen in „Nezametno“ (Unscheinbar) wie ein Kommentar zu der Szene:

Deinen Namen vergessen sie hier einfach so
Du bleibst, wie unter Followern
Du bleibst, wie unter Skizzen
Oder vielleicht in diesem Haufen Künstler
In den Mengen Teenager
Aber Du stirbst nur jetzt
stirbst jetzt, stirbst jetzt

Man kann noch so sehr bewundern, wie präzise Aıdyn über den Verweis auf ein muslimisches Ritual diese moderne Tendenz zur Vergötterung zeigt. Und später versichert er womöglich sich selbst, dass diese „Gläubigen“ verschwinden werden, sobald seine Musik ihren Hype verliert.

Das ist die Ideologie von Kensshi. Dieses Album ist nichts für flüchtige Fans, die nichts von Musik verstehen und Idole wie Handschuhe wechseln.

https://www.youtube.com/watch?v=VLdxe_YmTIY

kensshi ist etwas, an das man sich noch lange erinnern wird, und das Spuren in der Musikindustrie hinterlassen sollte.

Kasachische Klassiker

Wir bleiben beim Film kensshi, und ich möchte die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie sorgfältig Aıdyn mit der Kultur Kasachstans umgeht und sie in seine Arbeit integriert.

Auf den ersten Blick wirkt kensshi wie ein japanisches Wort, aber in Wirklichkeit ist es kasachisch: „Kenshi“ bedeutet „Schachtarbeiter“ oder „Bergmann“. Es ist ein direkter Bezug auf die Heimatstadt des Musikers, Karagandy, die für ihr Kohlebecken berühmt ist.

Zu Beginn des Films hört der Zuschauer einen Ausschnitt aus dem Lied „Sagyndym Seni“ (dt. Du fehlst mir) der legendären Band Dosmuqasan, und am Ende das Lied „nun wen soll man auf dieser Erde anfeuern“, vorgetragen auf der Dombra, einem kasachischen Nationalinstrument.

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Die Ausschnitte sind nicht zufällig gewählt. In einem Interview für PORNOCAST im Herbst 2018 sprach Aıdyn darüber, wie er die kasachische Volksmusik bewundert und seine Musik nur als einen verblassten Schatten dessen betrachtet, was unsere Vorfahren gemacht haben. Er erwähnte bereits, dass er versuchen wollte, sie irgendwie in seine Musik einzubauen.

https://www.youtube.com/watch?v=H52_K7a74Mw

Bereits nach der Veröffentlichung des Albums übernahm Aıdyn eine unerwartete Komposition, in der er in seiner üblichen Manier das Gedicht „ey, ómir“ (Ey, Leben) des kasachischen Dichters Muqaǵali Maqataev vorträgt. Es ist das Werk eines Dichters, der sehr darunter gelitten hat, dass seine Texte nicht veröffentlicht wurden, während seine Jahre verflossen. Wahrscheinlich sah Aıdyn Ähnlichkeiten zwischen seiner Stimmung und der des Dichters.

Inspiration

Generell sieht es so aus, als ziehe Aıdyn seine Inspiration nicht nur aus der kasachischen Volksmusik, sondern aus allem, was mit Trip-Hop und Jazz zu tun hat. Von Portishead, die er seine Lieblingsgruppe nennt, bis hin zu Nina Simones Jazz.

Aus einer anderen Ecke ist die Kinokunst von Alfred Hitchcock aus zwei Gründen zum Maßstab für ihn geworden: Sir Hitchcock ist ein Meister des Suspense und des Film-Noir. Ebendiese Stilrichtungen von Maslo Tschjornogo Tmina wurden erfolgreich in kensshi wiedergegeben. Zu Ehren seines Idols nahm Aıdyn sogar das Tribute-Stück SAJH (Sir Alfred Joseph Hitchcock) auf.

Paps, Du – Bist die Mutter meines Hip-Hops“, rappt Aıdyn in SAJH.

Eine andere Art von Tribut ist der Track „Bez Nazvaniya“ (dt. Ohne Namen), der meiner Meinung nach dem Song „Freshly Squeezed“ aus der US-Amerikanischen Kultserie Twin Peaks skizziert. Der Regisseur dieser Serie ist nicht weniger kultig – David Lynch, eine lebende Legende des surrealistischen Kinos.

Der berühmte Regisseur Lado Kwataniya drehte den Videoclip von „Bez Nazvaniya“. Vom Anfang des Clips an spürt man sofort diese Lynch-artige Handschrift, die das Werk durchdringt. Das Leitmotiv des Clips ist die Hoffnungslosigkeit.

https://www.youtube.com/watch?v=uja_udAckuI

Bei all dem Reichtum ist es keine Frage, warum Aıdyn in aller Munde ist. Die Antwort ist seine Arbeit an sich und die Tiefe seiner Kunst.

Sicherlich ist es Maslo Tschjornogo Tmina gelungen, die Vielseitigkeit seines Werkes im Album kensshi zu zeigen, dessen Veröffentlichung als das Ereignis des Jahres für die zeitgenössische Kasachstanische Kunst bezeichnet werden kann. Die Platte zeichnet sich durch ihren dichten Inhalt und ihren Reichtum an frischen Ideen und poetischem Handwerk aus. Aıdyn traf die richtige Entscheidung, als er, ungeachtet des Wunsches seiner Community, ein Album veröffentlichte, das nicht wiederholt werden kann.

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Maslo Tschjornogo Tmina sollte man auch 2020 auf jeden Fall folgen. Er macht Musik mit dem russischen Rapper Husky, der russische Esquire schreibt über ihn, und die besten Regisseure des postsowjetischen Raums haben bereits Videoclips für ihn gedreht. Nun liegt es an euch, sich in seine Kunst zu vertiefen.

Nurdaulet Narimanov
Vladislav Florinskii
The Steppe

Aus dem Russischen von Florian Coppenrath

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