Die kleine Stadt Jańatas mit 23.858 EinwohnerInnen liegt in der Region Jambyl im Süden Kasachstans an der Grenze zu Kirgistan. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde Jańatas von Moskau finanziell unterstützt und aufgebaut, geriet aber ab den 1990ern in eine Krise. Zwei Journalistinnen des kasachstanischen Online-Nachrichtenportal Vlast sind nach Jańatas gefahren, um zu erfahren, wie die EinwohnerInnen heutzutage in der Stadt leben. Die Originalreportage mit weiteren Bildern erschien auf Russisch am 10. März 2021.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um nach Jańatas zu kommen: Entweder mit dem Bus aus Taraz, der täglich um 18 Uhr abends abfährt, oder aber mit dem Zug, der allerdings nur einmal in der Woche fährt. Schließlich bleibt noch die Möglichkeit, mit dem Auto anzureisen, was von Taraz üblicherweise nicht länger als zwei Stunden dauert. Im Winter kann die Fahrt aufgrund der Witterungsbedingungen allerdings auch doppelt so viel Zeit in Anspruch nehmen.
In Jańatas werden natürliche Ressourcen wie Phosphate abgebaut. Darüber hinaus bemerken die EinwohnerInnen, dass es in der Stadt auch ein Uranvorkommen gibt. Dort sind zurzeit die Firma „Kazfosfat“ sowie zwei Fabriken der Firma „EwroChim“ in diesem Bereich tätig. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte man in der Stadt noch Lebensmittel, Kleidung und Kinderspielwaren finden, die es selbst in Taraz nicht gab. Ende der 1980er Jahre lebten in Jańatas noch 57.000 Menschen, nach der Auflösung der Sowjetunion nahm die Einwohnerzahl stark ab und reduzierte sich auf 24.000 Menschen, die heute noch dort leben.
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Die BewohnerInnen der Stadt erzählen, wie die Fabriken in den 1990er Jahren ihren Betrieb einstellten und es kein Geld mehr gab, den FacharbeiterInnen ihre Gehälter auszuzahlen. Dies führte dazu, dass viele Menschen die Stadt verließen. Die EinwohnerInnen erlebten mehrere Perioden des Hungers: Kurz vor dem Zusammenbruch der UdSSR und unmittelbar danach. Die Stadt hat sich bis heute nie ganz davon erholt. Viele Menschen leben in Armut; ein Großteil der Bevölkerung arbeitet in den örtlichen Fabriken. Einige stehen auf den Wartelisten des Arbeitsamtes, andere wiederum arbeiten im Dienstleistungssektor. In der Stadt stehen noch viele verlassene fünfstöckige Wohnhäuser, die an die besseren Zeiten von vor über 20 Jahren erinnern.
Hoffnungslosigkeit
Am 9. Februar 2021 um 20:00 Uhr kam es nach Presseinformationen der Region Jambyl in der Stadt Jańatas zu einer Notabschaltung der Heizungsanlage. Am 10. Februar berichtete Bakytjan Jaksylykov, Gouverneur des Bezirks Sarysu, in dem Jańatas liegt, dass die Heizung um sieben Uhr morgens wieder in Betrieb genommen werden konnte. Das Hotel, in dem die Journalistinnen von Vlast untergebracht waren, war bis zum Abend des 11. Februar jedoch unbeheizt.
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Genau an diesem Tag gingen die BewohnerInnen des sechsten Bezirks von Jańatas zu einer Kundgebung auf die Straße und klagten darüber, dass die Heizung in den Wohnhäusern, Schulen und in Krankenhäusern immer noch nicht funktioniert. Kinder wurden aus der Schule nach Hause geschickt, weil die Heizkörper kalt waren und Angehörige von Kranken waren gezwungen, elektrische Heizgeräte in die Krankenhäuser zu tragen. Die Menschen auf den Straßen erklärten, dass die Angestellten der Lokalverwaltung das Heizöl nicht rechtzeitig vorbeigebracht haben und es wegen der Wetterbedingungen auch nicht aus Taraz geliefert werden konnte.
„Schon drei Tage leben wir ohne Heizung. Die Woche davor haben sie die Heizung zwischen zehn und elf Uhr abends ausgestellt, morgens zwischen sechs und sieben Uhr haben sie sie wieder angestellt, weil es zu wenig Heizöl gab. So sparen sie dann das Heizöl. Bei starkem Frost und Schnee wurde die Heizung dann auf volle Stärke aufgedreht. Ich denke, deswegen ist uns das Heizöl ausgegangen. Das kostet Millionen. Und jetzt ist das Heizöl alle und wir sitzen schon seit drei Tagen ohne Heizung und frieren. Der Bürgermeister behauptet, sie haben uns die Heizung wieder angestellt, aber faktisch geht sie jetzt schon den dritten Tag nicht. Die Leute haben zuhause kleine Kinder. Was sollen wir tun?“ – fragt Murat, einer der Demonstrierenden.
Die BewohnerInnen habe außerdem niemand vorgewarnt: „Wir bezahlen für die Heizung 5.000 Tenge (ca. 10 EUR). Wir dachten, es liegt an technischen Problemen, da es schon den dritten Tag in Folge keine Heizung in der Stadt mehr gab. Aber dann hat sich herausgestellt, dass das Heizöl ausgegangen ist,“ beschwert sich Klara, eine Frau im mittleren Alter.
Aber nicht nur das Heizöl konnte nicht aus Taraz nach Jańatas geliefert werden. Einige MitarbeiterInnen der Fabriken und Krankenhäuser, die nicht weit von Jańatas entfernt leben, konnten an diesem Tag nicht zur Arbeit kommen, weil die Straßen gesperrt wurden. Auch in der Stadt fuhren keine Autos, weil in der Stadt so starker Nebel herrschte, dass man seine eigene Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte. Die Stadt war grau und leer, auf den Straßen kaum Menschen, nur die ArbeiterInnen der Straßenreinigung waren unterwegs. Lediglich die verlassenen Hochhäuser und einige Hügel der Stadt waren zu sehen.
Vergangenheit
Am 2. November 1964 begann in Jańatas die Entwicklung der Bergbauindustrie. Dieser Tag gilt heute als Tag, an dem das Phosphor von Karataý geboren wurde, was die schnelle Entwicklung der Stadt begünstigte. Karataý liegt auf halber Strecke zwischen Taraz und Jańatas; hier befindet sich ein großer Betrieb der Firma „Kazfosfat“. 1965 wurden die ersten Häuser des ersten Mikrobezirks in Jańatas gebaut: „Es gab einen Zustrom von Menschen aus Wladiwostok, Moskau und der Ukraine. Zu dieser Zeit war die Bevölkerung der Stadt überwiegend slawisch. Es wurden immer mehr Menschen“, meint der Schriftsteller und Einwohner von Jańatas, Pernebaı Dýısenbin.
Dýısenbin erklärt, die Gehälter seien damals 50 Prozent höher gewesen als anderorts. LehrerInnen bekamen einen Gehaltsaufschlag von 25 Prozent. Und es wurden weiter Häuser gebaut. So wurden die Menschen nach Jańatas gelockt, da SpezialistInnen für die Arbeit in den lokalen Fabriken sehr gefragt waren. Dýısenbin fügt hinzu: „Der Fokus hätte auf der Entwicklung des Phosphaterzabbaus liegen sollen„.
Der Schriftsteller lebt seit 1996 in Jańatas. In dieser Zeit begann sich die Lage der Stadt schon zu verschlechtern, viele Menschen zogen weg. „Wir hatten nur zwei Stunden am Tag Strom, danach haben sie ihn wieder abgestellt. Die Leute hatten Schwierigkeiten, ihre Wohnung zu bezahlen. Die ganze Infrastruktur war zerstört“, erinnert sich der Schriftsteller.
Seit den 1960er Jahren wurden mehr als 20 Unternehmen in Jańatas gegründet, darunter Industriebetriebe, Werkstätten und Fabriken. „In Jańatas gab es den größten Wohnungsbaubetrieb Kasachstans. Heute ist an seiner Stelle fast nichts mehr übriggeblieben. […] Es gab auch eine große Fabrik, die etwa 2.000 verschiedene Produkte herstellte: Ersatzteile für Autos, Traktoren und Bergbauausrüstung. Außerdem produzierte diese auch sehr gute Werkzeugmaschinen„, erzählt Dýısenbin.
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Später haben all diese Unternehmen ihre Tätigkeit eingestellt: „Es gab einfach niemanden, der diese Produkte und Erzeugnisse gekauft hätte“, sagt der Schriftsteller. Zurzeit sind nur zwei große Fabriken in Jańatas aktiv: Die bereits erwähnten Unternehmen Kazfosfat und das Chemieunternehmen EwroChim. Nach Angaben der lokalen Behörden arbeiten in diesen Fabriken 1892 Menschen.
Dýısenbin sieht dennoch auch positive Veränderungen: In Jańatas werden verschiedene Einrichtungen wieder aufgebaut, alte Häuser werden rekonstruiert und UnternehmerInnen gründen Geschäfte.
Verglichen mit den Fotos von Jańatas vor fünf Jahren sieht die Stadt tatsächlich besser aus. Einige der verlassenen Häuser wurden abgerissen, andere wurden wieder aufgebaut. Mehrere Dutzend Häuser in verschiedenen Bezirken der Stadt müssen noch restauriert werden. Die Stadtverwaltung hat die Eingänge betoniert und die Dächer abgedeckt, obwohl in einigen der Häuser noch Kinder spielen.
„In Jańatas sind alle arbeitslos“
Mit insgesamt sechs Mikrobezirken ist Jańatas eine kleine Stadt. Es verkehren nur selten Busse, weshalb es einfacher ist, sich zu Fuß in der Stadt zu bewegen. Zwischen den Häusern erheben sich kleine Hügel. Auf einem von ihnen befindet sich eine schmale Treppe, durch die die ganze Stadt zur Schule und zum Krankenhaus läuft. An der zweispurigen Straße reihen sich kleine Geschäfte, Cafés und Pfandhäuser aneinander. Das ist das Zentrum und gleichzeitig der am meisten beleuchtete Teil der Stadt. Die Gehwege sind praktisch nicht asphaltiert und voller Schlaglöcher; es ist schwer, sich bei Schnee und Eis auf ihnen fortzubewegen. Vom Zentrum der Stadt führt eine Straße zum städtischen Markt.
„Töchterchen, hilf mir bitte und zeig mir den Weg“ – ruft eine ältere Dame den Journalistinnen zu.
Аınash (Name auf Wunsch geändert) ist ungefähr 80 Jahre alt. Jeden Tag läuft sie durch die Trostlosigkeit der verlassenen Häuser und Hügel, um auf dem Markt Lebensmittel zu kaufen. In den Händen hält sie einen aus einem Ast gefertigten Holzstock, mit dem sie sich auf dem Boden abstützen und steile Hänge hinuntergehen kann. „In Jańatas sind alle arbeitslos. Es gibt hier keine Landwirtschaft und keine Viehzucht, geschweige denn eine Ernte“ – klagt sie.
Ihr Sohn arbeitet als Tischler in einer Schule und verdient 20.000 Tenge ( ca. 40 Euro), sie selbst lebt von ihrer Rente. Ihre beiden Enkelkinder studieren bereits, weshalb das Gehalt des Sohnes in die Ausbildung seiner Kinder fließt. Die ganze Familie lebt von Аınashs Rente. „Mein Vater war ein Held der Sowjetunion, im Zweiten Weltkrieg siegte er über Deutschland. Da ich Tochter eines Kriegsveteranen bin, sollte meine Rente erhöht werden, aber das ist nicht passiert. Erwarten Sie keine Gerechtigkeit von Jańatas, glauben Sie nicht, dass es hier irgendeine Gerechtigkeit gibt“, erzählt Аınash, während sie den Journalistinnen hektisch irgendwelche Dokumente zeigt, die sie in den Händen hält.
Die alte Dame erklärt den Journalistinnen, wie sie zum Markt kommen, während sie sich selbst in den Schnee setzt, um sich auszuruhen. Die Straße zum Markt führt durch eine weite Tristesse. Früher standen hier fünf- und neunstöckige Häuser, heute sind es Reste von Ziegeln und Beton. Gleich hinter dem Markt stehen vier dunkelgraue mehrstöckige Häuser: Einige sind betoniert und stehen leer, andere werden von Arbeitern nach und nach restauriert. Am Eingang zum Basar sind sofort verschiedene Waren zu sehen; Artikel für Kinder und Erwachsene, Schuhe, Spielzeug, Baumaterial und sogar frischer Fisch. KundInnen sind nur wenige auf dem Markt, daher kommt direkt eine der Verkäuferinnen auf die JournalistInnen zu und fragt sie, warum sie nach Jańatas gekommen seien. Dass die JournalistInnen keine Einheimischen sind, ist sofort erkennbar.
Verkäuferin Aıgul ist aus dem benachbarten Gebiet Túrkistan nach Jańatas gezogen. In dieser Zeit vergab die lokale Verwaltung kostenlose Wohnungen und die Frau entschied sich dazu, diese Gelegenheit zu nutzen. Ihr einziger Verdienst ist der Handel mit Kinderwaren. „Die Stadt verändert sich, aber nicht der Handel. Mein Mann ist arbeitslos und ich arbeite schon seit acht Jahrenauf diesem Markt. Wenn KundInnen kommen und Kleidung kaufen, bekomme ich 2000 Tenge (ca. 4 EUR), wenn nicht, dann nur 1000 Tenge. Natürlich ist das nicht genug“, erzählt Aıgul.
Aıgul möchte Jańatas unbedingt verlassen, aber dafür braucht sie Geld. Es ist nicht möglich, ihr Haus lukrativ zu verkaufen: Eine Einzimmerwohnung auf der Hauptstraße in Jańatas kostet 500.000 Tenge (1.000 EUR), eine renovierte Dreizimmerwohnung mit Möbeln kostet 3 Millionen Tenge (5.800 EUR). Häuser sind sogar noch günstiger.
Aıgul und ihr Mann haben zwei Kinder. Dennoch hat sie keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung für kinderreiche Mütter. „Auch wenn diese Unterstützung eigentlich nur für Familien gedacht ist, die mehr als vier Kinder haben, gibt es in Jańatas auch Familien, die mit zwei bis drei Kindern diese Unterstützungsleistung erhalten. Aber uns wird sie aus irgendeinem Grund nicht gewährt.“
„Wir leben hier nur für die Kinder“
Eskendir Týrysbekov und seine Frau haben sechs Kinder, der älteste geht in die sechste Klasse. 2014 hatte der Mann einen Verkehrsunfall, seitdem ist er ein Invalide. Auch die Mutter ist Invalidin zweiten Grades, sie kann sich nicht selbstständig bewegen. Die Zwillingstöchter leiden an einem Herzfehler. Nach dem Unfall stand die Familie auf der Warteliste für eine Wohnung in Jańatas. Sie mussten zweimal in Übergangswohnungen ziehen. 2017 zog sie in die erste temporäre Zweizimmerwohnung und im Frühjahr 2020 in eine Dreizimmerwohnung.
„Das Haus, in dem wir jetzt wohnen, wurde nicht besonders gut gebaut. Ich habe mich diesbezüglich an viele Stellen gewandt: Ich bin zum ehemaligen Gouverneur gegangen, zu den Wohnungs- und Kommunalbehörden und so weiter. Die Kälte kommt überall hin. Man fühlt es an der Tür, den Fenstern und am Boden. Aber vor drei Wochen haben wir wenigstens die Tür repariert. Vor drei bis vier Tagen hatten wir einen Rohrbruch in der vierten Etage. Es sind die neuen Rohre, die zu versagen begonnen haben. Die Stadt achtet nicht Qualität“, erzählt Týrysbekov.
Laut dem Mann ist es für kinderreiche Familien und Menschen mit Behinderungen besonders schwierig, in Jańatas Arbeit zu finden. In der Regel können Eltern und ihre Kinder nur von Sozialhilfe leben, Menschen mit Behinderungen leben von Renten. Im zweiten Jahr hat sich Týrysbekov um Zuschüsse der Stadtverwaltung von Jańatas beworben, um sein eigenes Unternehmen zu gründen: „Um die Zuschüsse zu bekommen, geht man zum Arbeitsamt, reicht Dokumente ein und eröffnet eine Selbstständigkeit. Diesen Prozess kann man aber nur erfolgreich durchlaufen, wenn man dort jemanden kennt. Wenn nicht, kann es sein, dass man 10 Prozent des Zuschusses an die Verantwortlichen abgeben und verhandeln muss. In diesem Jahr wurden in der Region Jambyl bis zu fünf Millionen Zuschüsse an Unternehmer vergeben. Mehr als 500 Personen nahmen daran teil. Die Zuschüsse werden für unsinnige Projekte vergeben, aber nicht für uns“.
In Jańatas, so Týrysbekov, gibt es nicht genug Arbeitsplätze. Anfang 2020 kommunizierte der Leiter der Abteilung für die Koordination von Beschäftigungs- und Sozialprogrammen des Gebiets Jambyl, Jorabek Baýbekov, dass in der Region Arbeitsplätze für 22.000 Menschen geschaffen wurden, erinnerte sich Týrysbekov. Aber am Ende stellte sich heraus, dass die ArbeiterInnen Verträge für nur sechs Monate erhalten. So erhielt auch Turysbekows Bruder, der in Jańatas lebt, einen Arbeitsplatz und arbeitete schließlich in Taraz: „Bei uns arbeiteten viele im Rahmen eines sechsmonatigen Vertrages. Dadurch soll die Arbeitslosigkeit in der Stadt reduziert werden. Sie arbeiten ein halbes Jahr lang; danach ist der Job beendet und man ist frei. Wenn du Geld hast, kannst du bleiben, wenn nicht, musst du dir einen neuen Job suchen“.
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Im Jahr 2017 wurde in Jańatas in der Nähe des Stadtzentrums ein Betonwerk in Betrieb genommen. Unmittelbar nach dessen Eröffnung begannen die AnwohnerInnen über Husten, Kopfschmerzen und eine dicke Schicht Staub in ihren Wohnungen zu klagen. Sie schrieben Appelle an den Präsidenten, woraufhin das Werk geschlossen wurde.
In der Stadt befindet sich außerdem das zentrale Kreiskrankenhaus von Sarysu. Alle Stationen wurden vor zwei Jahren renoviert, aber bereits jetzt, so Týrysbekov, blättert die Farbe von den Wänden ab. Im selben Krankenhaus wurde auch die Frau von Týrysbekov behandelt, jedoch ohne zuvor eine konkrete Diagnose erhalten zu haben. Die Behandlung verschlimmerte ihren Gesundheitszustand erheblich. „Die kinderreiche Mutter und Trägerin des Ordens „Kumis Alqa“ (Auszeichnung der Republik Kasachstan für kinderreiche Mütter – Vlast) wurde jedes Mal in ein kostenpflichtiges Krankenhaus geschickt. In unseren Krankenhäusern kann man nicht angemessen behandelt werden. Man wird nach Hause geschickt, weil es keine Medikamente und Behandlungsmöglichkeiten gibt. Natürlich gibt es auch gute SpezialistInnen. Aber es gibt auch solche, die sich ihr Diplom nur gekauft haben„, beschwert sich der Týrysbekov.
Eskendir Týrysbekov möchte Jańatas nicht verlassen, weil er nicht weiß, was ihn und seine Familie außerhalb der Stadt erwarten würde. In sozialen Netzwerken erzählt er von den Problemen in Jańatas: „Wir fordern nur Gerechtigkeit und kämpfen für die Wahrheit. Wir wollen, dass die Stadt ein besserer Ort wird und dass unsere Kinder keine Not erleben müssen. Wir alle leben hier nur für unsere Kinder. Ich habe viele Menschen angesprochen und ihnen jedes Mal andere Fragen gestellt. Sie sagen, dass es der Bevölkerung gut geht, aber das stimmt nicht. Ich habe nach Land gefragt und mir wurde gesagt, es gibt keines mehr. Das verfügbare Land wurde an reiche und berühmte Menschen vergeben. Wenn man Land bekommen will, wird man gefragt, ob man Technik besitze. Wenn ich diese kaufen will, fragen sie, ob ich Land habe. So ist alles miteinander verbunden, es gibt keine Möglichkeit, den Kreis zu durchbrechen. Diese Probleme kann man nicht alleine lösen. Besonders für einen behinderten Menschen wie mich ist das nicht möglich. Hierfür braucht es viel mehr Menschen“.
„Diese Art von Gesundheitsgefährdung“
Ljubow Struschewskaja ist in Jańatas geboren, ihre Mutter in Qaratau. Durch die Umsiedlung der Bevölkerung durch die städtischen Behörden landete sie in Jańatas. Sie arbeitete in der technischen Kontrollabteilung der GPK-Fabrik in Qaratau. Struschewskaja erinnert sich, wie ihre Mutter oft von den 1990er Jahren erzählte, als die Menschen massenhaft die Stadt verließen und viele Menschen wenig zu Essen hatten.
„Als ich geboren wurde, konnte meine Mutter nicht einmal einen Strampler für mich finden – sie hat alles selbst gemacht. In den Geschäften gab es überhaupt nichts. Das Geld verlor seinen Wert, die Menschen trugen es in Koffern herum. Es gab kein Licht, kein Wasser, kein Gas. Kurz vor der Unabhängigkeit Kasachstans schienen sich die Dinge zu verbessern. Geschäfte wurden eröffnet, der Tenge wurde eingeführt. Diejenigen, deren Eltern in Fabriken arbeiteten, lebten gut. Sie hatten sogar Kinder-Überraschungseier. Aber wir hatten ein hartes Leben.“, erzählt Struschewskaja.
Struschewskajas Mutter war vor ihrer Rente schon einige Jahre arbeitslos. Die Familie war gezwungen, Reste auf den Märkten zu einzusammeln, um keine Lebensmittel zu stehlen. Später nahm Struschewskaja Mutter eine Stelle als Hausmeisterin an; sie selbst begann bereits im Alter von 12 Jahren, in einer Näherei zu arbeiten. Die Nähmaschine rettet sie immer noch in schweren Zeiten.
„Von 1996 bis 1999 hatten wir wieder eine Hungerperiode. In Jańatas gab es keine Katzen und Hunde mehr – alle wurden gegessen. Es war das einzige Fleisch, das man bekommen konnte. Damals kam es zu einem Tuberkulose-Ausbruch, bis 2007 gab es die Krankheit in der Stadt. Die Nachbarn bestahlen sich gegenseitig.“, erinnert sich Struschewskaja.
Ihr war klar, dass sie Jańatas nie würde verlassen können, weshalb sie nach dem Studium einen Job im Kazfosfat-Werk im Elektrolabor annahm. Nebenbei arbeitete sie als Näherin und Technikerin. Struschewskaja Mutter starb früh: Sie hatte Diabetes und Herzprobleme. Jetzt lebt die Frau mit ihrem sechsjährigen Sohn in Jańatas.
Struschewskaja und ihr Kind leben in einem ehemals verlassenen Hochhaus, das wiederaufgebaut wurde. Vor vier Jahren, als das EwroChim-Werk in der Stadt eröffnet wurde, wurden viele Gebäude in Jańatas abgerissen oder restauriert.
Als die Menschen anfingen, die Stadt in Scharen zu verlassen, begannen die Menschen auch, die Häuser zu plündern, erzählt Struschewskaja. „Es gab nichts, wovon wir leben konnten. Jeder kletterte in die Häuser und nahm die Leitungen heraus, die aus Kupfer, Eisen und Aluminium bestanden. Die Materialien haben sie verkauft, um wenigstens etwas Geld zu bekommen. Unsere Stadt ist sehr kriminell. Die Eingänge zu den leeren Häusern wurden alle verschlossen, weil dort auch Leichen gefunden wurden. Auch die Zugänge zu den Dächern wurden verschlossen. Es gab eine Zeit, da sprangen Teenager wegen der Abiturprüfungen von den Dächern“, sagt sie.
2019 bot der Sohn eines Kollegen Struschewskaja einen Teilzeitjob als Vertriebsmitarbeiterin an. Gemeinsam fuhren sie nach Taraz zu einem großen Elektronikmarkt. Dort nahmen sie ihr den Ausweis ab und brachten ihr einen Stapel Dokumente, in denen sie ihr erklärten, dass sie mehrere Kleinkredite auf ihren Namen aufnehmen würden. Laut Vereinbarung würden diese innerhalb von drei Monaten wieder abbezahlt werden; dafür würde sie 300.000 Tenge (580 EUR) bekommen. Struschewskaja stimmte zu und unterschrieb die Dokumente. Drei Monate später riefen die Banken bei ihr an und teilten ihr mit, dass die Kredite überfällig seien.
„Durch Bekannte habe ich 30 Leute in Jańatas gefunden, denen solche Kredite angedreht wurden. Und dann stellte sich bei der Polizei heraus, dass es 150 von uns im ganzen Gebiet Jambyl gab. Wir fuhren nach Taraz, und am 15. Mai reichten wir eine Beschwerde bei der Polizei ein. Das Gericht sollte bereits eine Entscheidung getroffen haben, aber da es einen neuen Richter gab, fing alles wieder von vorne an. Ich habe meinen Job gekündigt, weil ich mein Gehalt nicht erhalten habe. Alle meine Karten wurden gesperrt und die 300.000 Tenge, die ich in diesen Monaten erhielt, gingen an die Banken. Sie haben nicht einmal zehn Prozent übriggelassen, und mein Gehalt betrug nur 90.000 Tenge (170 EUR). Im Mai jährt sich der Prozess schon zum dritten Mal. Wir haben Briefe geschrieben und gestreikt“, – erinnert sich Struschewskaja.
Während der gerichtlichen Untersuchung stellte sich heraus, dass die Unterschriften auf den Berichten gefälscht waren, und die Waren, die mit den Krediten gekauft wurden, an Leute aus kleinen Dörfern in der Nähe von Taraz gingen. Laut Struschewskaja gingen die Ermittler noch nicht einmal zu den angegebenen Adressen, um zu prüfen, ob die Waren überhaupt vor Ort waren, für die die Kredite aufgenommen wurden. Die Opfer wurden nicht zum Treffen mit den Direktoren der Bank beim Gericht von Jańatas eingeladen, und als sie es schafften, in das Gebäude zu gelangen, stellte sich heraus, dass die Direktoren bei dem Treffen gar nicht anwesend waren. Jetzt steht Struschewskaja auf einer Warteliste des städtischen Arbeitsamtes; manchmal bekommt sie Arbeitslosengeld. Sie nimmt jeden Job an: Gardinen nähen, Geschäfte und Nachbarwohnungen putzen, bei Hochzeiten Kartoffeln und Möhren schälen.
Struschewskaja beschwert sich außerdem über die schlechte Gesundheitsversorgung. Ihre erste Schwangerschaft war eine Frühgeburt, das zweite Kind wurde mit der Krankheit Hydrozephalus geboren. Bei dem Jungen wurden zahlreiche verschiedene Krankheiten diagnostiziert; manche der Diagnosen wurden jedoch wieder zurückgenommen und einige davon anschließend sogar erneut bestätigt .
„Es ist interessant, wie leicht bei uns Diagnosen gestellt und anschließend widerrufen werden. Uns wurde schon eine perinatale Läsion des zentralen Nervensystems diagnostiziert und widerrufen, dann wurde eine verzögerte geistige Entwicklung diagnostiziert und wieder widerrufen, schließlich wurde noch Autismus und Epilepsie diagnostiziert und widerrufen. Es läuft alles auf eine Behinderung hinaus, aber das ist eine andere Diagnose. Dem Kind fehlt auch ein Hoden, er wurde dort zwar schon operiert, aber ohne Erfolg. Mein Sohn geht schon drei Jahre in zur Reha. Wir sind auch bei einem Psychiater angemeldet, alle sechs Monate gehen wir in die Sprechstunde. Aber eine Behinderung wird dem Kind nicht bescheinigt.“, erzählt sie.
Im Jahr 2020 musste sich ihr Sohn in Taras untersuchen lassen, weil er begann, aus dem Rektum zu bluten. Sie erhielt fünf Überweisungsscheine in die Klinik in Taras für mehrere Monate. Zu dieser Zeit war Jańatas wegen der Corona-Pandemie wegen Quarantäne geschlossen; dringende Patienten wurden im Bezirkskrankenhaus untergebracht, und nur Frauen in den Wehen wurden nach Taras gebracht. Dem Jungen wurde die Einweisung in das Jańataser Krankenhaus verweigert und er wurde gebeten, bis nach der Quarantäne zu warten. Bis dahin waren alle fünf Überweisungen aber abgelaufen. Struschewskaja war gezwungen, zur Lokalverwaltung zu gehen und die Beamten um einen Krankenwagen zu bitten, weil das Kind immer noch blutete. Die Familie kam schließlich nach Taras und dort bestätigten die ÄrztInnen alle bereits gestellten Diagnosen.
„Wir kehrten nach Jańatas zurück und gingen sofort zu unseren Ärzten, da alle ersten Diagnosen bestätigt wurden. Ich fragte, ob sie jetzt eine Behinderung anerkennen, worauf mir die Ärzte sagten: „Jeder fünfte hier ist so, das ist nicht möglich“. Also schrieb ich an das Gesundheitsministerium. Eine Kommission kam zu uns, prüfte alle Dokumente und untersuchte das Kind. Am Ende wurde wieder keine Behinderung anerkannt, weil „der Hydrozephalus jederzeit geheilt werden kann“. Für die Psychiatrie fehlte uns noch eine Bescheinigung. Das Kind zerriss seine Kleidung, pinkelte in seine Hose, und sie taten so, als ob sie das nicht sehen würden. Wenn wir etwas Geld haben, fahren wir nach Taras, weil unsere Ärzte an uns rumexperimentieren. Eine Dosis hat nicht gewirkt, also lasst uns die Dosis erhöhen, und plötzlich geht es vorbei“, erzählt sie.
Die Frau bringt die gesundheitlichen Probleme ihres Sohnes mit den Umweltproblemen der Stadt in Verbindung: „Bei uns werden Phosphate und Uran abgebaut, aber wir werden darüber nicht aufgeklärt. Manche Erze sind gesundheitsschädigende, aber niemand spricht darüber, damit sie keine Entschädigungen zahlen müssen. In der Fabrik bekamen wir als Ausgleich ein Glas Milch pro Tag – das war alles. Wir nehmen Proben von Phosphatgestein, mischen es mit Säuren und atmen das alles ein. Jeder in Jańatas hat Probleme mit den Zähnen, weil die Fabriken Essigsäure verwenden, und die zerstört die Zähne. Viele haben einen Kropf, Diabetes, alle wollen zu einem Neurologen. Da stehen 30-50 Leute jeden Tag in der Schlange, wir kommen nicht dran“.
In den letzten Februartagen hat die Kommission in Jańatas dem Sohn von Struschewskaja endlich eine Behinderung erst mal für zwei Jahre anerkannt, erzählt sie in einem Telefongespräch.
„Ich kämpfe für Gerechtigkeit“
In Jańatas gibt es zwei wichtige medizinische Einrichtungen: Eine private Poliklinik und das bereits oben erwähnte Bezirkskrankenhaus von Sarysu. Auf dem Gelände des Krankenhauses befinden sich mehrere Gebäude. Das erste ist für das Management; dort arbeiten die Chefärztin, BuchhalterInnen und andere MitarbeiterInnen. Das zweite Gebäude ist das Krankenhaus. „Ich wollte Sie zur Chefärztin bringen, damit Sie sich mit ihr treffen und befragen können. Aber wie Sie sehen, ist sie nicht da“, sagt Zoıa, die den Journalistinnen hilft, den Weg zum Krankenhaus zu finden. Die Chefärztin ist tatsächlich nicht im Krankenhaus, ihre KollegInnen bestätigen, dass sie sich zurzeit für einen Tag im Urlaub befindet.
Zoıa Amantaeva lebt seit mehr als 20 Jahren in Jańatas. Seit 2004 arbeitet sie als Krankenschwester im Krankenhaus. Die Frau selbst stammt aus der Region Turkestan. Am Morgen des 11. Februar konnte sie aufgrund der Wetterbedingungen nicht zur Arbeit kommen, ebenso wie mehrere andere MitarbeiterInnen. Erst am Nachmittag gelang es ihr, in die Stadt zu kommen.
Amantaeva erzählt, dass das städtische Krankenhaus in einem sehr schlechten Zustand ist. Die Einrichtung liegt auf einem Hügel; wer hinauf- oder hinunterkommen möchte, muss eine alte und rutschige Treppe überwinden. Auf dem Gelände des Krankenhauses gibt es keine Rampen. Beide Gebäude wurden vor zwei Jahren renoviert, aber jetzt ist davon nichts mehr zu sehen. An manchen Stellen blättert die Farbe von den Wänden ab, manchmal bröckeln auch ganze Stücke ab. Der Haupteingang zum Gebäude ist eine verbogene Eisentür und am Ausgang an der Rückseite des Krankenhauses fällt sofort ins Auge, dass von der Kunststofftür eine Hälfte fehlt.
„Eines Tages, als über die Stadt ein Schneesturm fegte, flog fast das gesamte Dach des Gebäudes weg, und dass, obwohl es gerade erst repariert wurde. Die Türen lassen sich nicht schließen, und wenn doch, lässt sie sich danach nicht mehr öffnen. Außerdem ist es im Gebäude sehr kalt„, bestätigt Amantaeva. Neben dem Verwaltungsgebäude steht ein leuchtend blauer Bus, in dem die Ärzte nach Aussage der Krankenschwester Ultraschalluntersuchungen und Röntgenaufnahmen durchführen sollten. Die Geräte sind jedoch nicht im Einsatz.
„Wir haben auch eine Entbindungsklinik. Aber diese Entbindungsklinik hat keine normale Hebamme. ÄrztInnen können weder eine natürliche Geburt noch einen Kaiserschnitt durchführen. Gebärende Frauen müssen nach Taraz fahren, um eine normale Geburt zu erleben. Viele Frauen haben Angst, im Jańataser Krankenhaus zu gebären, da hier viele ihre Babys bereits verloren haben“, sagt Amantaeva. Sie selbst reiste mit ihrer Schwiegertochter für die Entbindung nach Taraz.
Laut Amantaeva werden in Jańatas oft falsche Diagnosen gestellt. Sie selbst wurde mit solchen Problemen auch schon konfrontiert, als eine Verwandte mit einer Herzerkrankung zu ihr zu Besuch kam. Die Ärzte gaben ihr eine Infusion, ohne zu wissen, dass sich Wasser im Herzen der Frau sammelte, was solche Infusionen für sie eigentlich ausschließt. Zwei Stunden später starb die Verwandte von Amantaeva.
Der erste Corona-Ausbruch in Jańatas ereignete sich im Juli. Die Stadt war nicht vorbereitet. Amantaeva musste in einem medizinischen Pyjama arbeiten, trug eine Mütze und eine einfache Maske. Während ihrer Arbeit schrubbte sie Böden, räumte Patientenzimmer auf und pflegte die PatientInnen. Jeder sei auf sich allein gestellt. „Es gab keine Vorbereitung auf das Coronavirus, uns wurde nichts gesagt. Es gab Tage, an denen wir drei bis fünfmal in die Leichenhalle gingen, Tag und Nacht. Viele Menschen wurden nach Taras geschickt, aber leider starben auch sie. Da ich mit Corona-PatientInnen arbeitete, sollte ich auf Anordnung des Präsidenten 850.000 Tenge (1600 EUR) bekommen. Ich habe aber nur 100.000 (190 EUR) bezahlt bekommen. Danach habe ich kein Geld mehr bekommen“, sagt Amantaeva.
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Auch sie infizierte sich mit dem Coronavirus und blieb 20 Tage lang zu Hause. Die Ärzte des Krankenhauses untersagten ihr, sich auf die Coronavirus-Infektion testen zu lassen. Wenn die Behörden von dem positiven Test der Krankenschwester erfahren hätten, hätte die ganze Intensivstation sonst unter Quarantäne gestellt werden können. Und in dieser befand sich das einzige Beatmungsgerät der Stadt.
„Viele Ärzte, die sich während der Pandemie um die Kranken kümmerten, wurde eine Entschädigung gezahlt. Aber aus irgendeinem Grund bekamen gerade die Krankenschwestern nichts. Die Chefin sagte uns, wir sollten uns zurückhalten und uns nicht beschweren, sonst würden wir entlassen. Und in unserem Krankenhaus sind viele der Krankenschwestern alleinerziehende Mütter. Sie haben Angst zu reden, weil sie hier arbeiten müssen, um wenigstens irgendwie ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Kredite zu bezahlen,“ erzählt Amantaeva.
Sie fügt hinzu, dass sie auch die zwei Millionen Tenge (3800 EUR) nicht erhalten hat, die für MedizinerInnen vorgesehen waren, die sich bei der Arbeit mit dem Coronavirus angesteckt haben. „Mir wurde gesagt, dass es kein Geld gibt. Aber auch die ÄrztInnen, die sich nicht krankschreiben ließen und nicht mit dem Coronavirus infiziert waren, haben Geld bekommen. Und jetzt wird von mir ein Beweis verlangt, dass ich während des Ausbruchs überhaupt gearbeitet habe. Alle Dokumente, die ich der Verwaltungsleitung gegeben habe, um eine Entschädigung zu erhalten, sind verloren gegangen. Sie sind nirgends zu finden“, ärgert sich Amantaeva.
Hier ist nicht alles schlecht
Baýyrjan Balgabaı wurde in Jańatas geboren, studierte aber in Almaty. 2016 kehrte er in seine Heimatstadt zurück und begann im Jugendzentrum zu arbeiten. Jetzt initiiert er verschiedene Jugendprojekte und hilft kinderreichen und einkommensschwachen Familien sowie Menschen mit anderen Einschränkungen. Eine positivere Person als Balgabaı gibt es wohl nicht in Jańatas.
Er ist sich sicher, dass das Leben in Jańatas besser wird. Seiner Meinung nach kann jedeR EinwohnerIn der Stadt einen gut bezahlten Job finden oder ein eigenes Geschäft gründen: „Wenn der Mensch nach etwas strebt, wird er es auch schaffen. Unsere Fabriken brauchen immer Menschen. Wir haben verschiedene Programme: Jeder kann einen Businessplan mitbringen und Zuschüsse von 550.000 bis 3 Millionen Tenge erhalten. Wenn Sie jetzt in ein Café gehen, fällt Ihnen vielleicht auf, dass dort viele Menschen sind. Die Menschen widmen den Kindern Zeit und besuchen verschiedene Orte der Stadt. Daran kann man erkennen, dass die Situation in der Stadt besser ist als zuvor. Dennoch leben viele Menschen in bescheidenen Verhältnissen„.
Er glaubt, dass die meisten jungen Leute in der Stadt in der Wirtschaft tätig sind oder in Fabriken arbeiten. Schulkinder und Studierende nehmen an Wohltätigkeitsveranstaltungen teil, die von Balgabaı organisiert werden.
„Im letzten Jahr wurden mehrere Straßen in der Stadt repariert. Straßenleuchten wurden errichtet und die Stadt wurde um einiges heller. Während des Lockdowns spendeten Geschäftsleute und hochrangige Beamte des Bezirks der Stadt sieben Beatmungsgeräte. Zurzeit gibt es in Jańatas fünf Schulen und zwei Colleges. Ich kann nicht sagen, dass wir eine schlechte oder gute Ausbildung haben. Sie ist durchschnittlich“, sagt der junge Mann.
Balgabaı, wie auch andere Vertreter der Lokalverwaltung von Jańatas, waren sehr darauf bedacht, dass in dieser Reportage nur Gutes über die Stadt geschrieben wird. „Ich habe nur gute Dinge über Sie gehört. Ich denke und hoffe, dass Sie unsere Stadt auch von der besten Seite zeigen werden“, schrieb die Pressesprecherin der Verwaltung des Sarysu Bezirks Dariha Ýmbetiıarova in ihrer Mitteilung an die Journalistinnen. Ein persönliches Treffen lehnte sie hingegen ab, da sie sich nach eigenen Angaben im Krankenhaus befindet.
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Saltanat Jaksapaılova, Leiterin der Kulturabteilung der Lokalverwaltung, kam unerwartet zum Interview mit dem Schriftsteller Pernebaı Dýısenbin dazu und äußerte ebenfalls die Hoffnung, dass in dem Bericht keine schlechten Worte über Jańatas geschrieben würden. Ein Mitglied des lokalen Parlaments rief am letzten Tag des Aufenthalts der Vlast Journalistinnen an und wollte wissen, auf welcher Seite die Journalistinnen stehen, auf der Seite „des Volkes“ oder der Regierung.
Und Baýyrjan Balgabaı, der an die Zukunft Jańatas glaubte, wurde nicht müde auch noch am letzten Tag der Reise zu Spaziergängen einzuladen. Die städtische Polizei warnte aber vor gesperrten Straßen, während die Polizei von Taraz hingegen sagte, dass diese schon lange offen seien.
Jańatas hat allem Anschein nach die 1990er Jahre überlebt und ist dabei, sich wirklich zu verändern, aber die Strukturen von damals sind geblieben. Die weite Entfernung von Taraz und die Abhängigkeit der BewohnerInnen von der Lokalverwaltung verstärken diesen Effekt zusätzlich. Die EinwohnerInnen von Jańatas hoffen weiterhin auf einfache Dinge: Dass die Heizung im Winter nicht abgestellt wird, dass das Krankenhaus in einem ordentlichen Zustand ist und die Stadt sicherer wird.
Yuna Korosteleva und Alina Jartieva
Vlast.kz
Aus dem Russischen von Anna Steinmann
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