Wie muss sich die Hochschulbildung ändern, damit in Kasachstan eine Zivilgesellschaft heranwächst? Marat Paimchanow, Experte für Bildung im Ausland, sagt, dass vor allem die veraltete Pädagogik abgeschafft werden muss. Folgender Kommentar erschien im russischen Original bei The Steppe. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion
Was ist das eigentlich – Zivilgesellschaft? Sie ist definiert als eine freie, demokratische und rechtsstaatliche Gesellschaft, die auf das Individuum ausgerichtet ist. In einer Zivilgesellschaft werden rechtliche Traditionen und Gesetze geachtet, freie künstlerische und unternehmerische Tätigkeiten ermöglicht sowie Menschen- und Bürgerrechte garantiert.
Bildung macht Zivilgesellschaft
Im Index für die Entwicklung der Zivilgesellschaft von Transparency International erreichte Kasachstan im Jahr 2017 50,9 von 100 Punkten und befand sich damit im Mittelfeld. Laut Angaben von CIVICUS State of Civil Society Report 2018 zählt Kasachstan zu den Ländern mit einer eingeschränkten Zivilgesellschaft.
Laut dem amerikanischen Professor und ehemaligen Präsidenten der Yale University Bartlett Giamatti ist eine liberale Bildung die Grundlage einer Zivilgesellschaft.Gebildete, frei denkende BürgerInnen spielen die wichtigste Rolle in einer dynamischen Demokratie.
Orte des bürgerlichen Denkens schaffen
Im Juli erhielten Hochschulen in Kasachstan erweiterte akademische und verwaltungstechnische Selbstständigkeit. Jetzt können Hochschulen selbst entscheiden, wie viele Studierende sie aufnehmen wollen und das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden sein soll. Außerdem können die Hochschulen nun selbst über Struktur und Inhalt ihrer Lehrpläne bestimmen. Für kasachische Bildungseinrichtungen ist das eine Chance, sowohl ihre Curricula zukunftsgerichtet umzugestalten, als auch ihrer sozialen Aufgabe gerecht zu werden: dabei zu helfen, die Studierenden zu bewussten, interessierten und selbstständigen BürgerInnen zu erziehen, die sich aktiv in die Gesellschaft einbringen.
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Was kann den Universitäten nun also ganz praktisch helfen, ein Ort des bürgerlichen Denkens zu werden? Zunächst sollten sie nicht an der veralteten Form der industriellen Pädagogikfesthalten. Dabei stehen der Lehrende und die durch ihn vermittelten Fähigkeiten, die die Produktivität des Landes sichern sollen, im Mittelpunkt. Stattdessen sollten die Hochschulen zu einer Pädagogik der informierten Gesellschaftübergehen. Hierbei fokussiert sich alles auf die Studierenden, ihre Kompetenzen und ihre Persönlichkeitsentwicklung. Dafür müssen die Prinzipien der akademischen Freiheit befolgt werden.
Außerdem kann solch eine neue Pädagogik durch die Einführung neuer Fächer erreicht werden, die auf das Verinnerlichen von gesellschaftlichen Werten sowie die Entwicklung eines bürgerlichen Selbstverständnisses ausgerichtet sind. Diese können Qualitäten wie zum Beispiel Führungsstärke, Zeitmanagement, Logik, Entscheidungsfindungsprozesse, Grundlagen der Demokratie und Menschenrechte vermitteln.
Eine der Bedingungen für das Entstehen einer Zivilgesellschaft ist eine Gesellschaft von wirtschaftlich selbstständigen BürgerInnen. Dazu müssen die BürgerInnen lernen, mit ihrem Geld umzugehen: Sie müssen die Grundlagen von Geldanlage, Finanzplanung und Sparen verstehen.
Mehr Engagement
Als Zweites muss studentisches Engagement gestärkt werden. An vielen Schulen und Hochschulen spielen studentische Initiativen und Vereinigungen eine große Rolle für die Studierenden, zum Beispiel Debattier-Clubs, Interessensgruppen, ehrenamtliche Projekte oder Umweltinitiativen. Diese Bewegungen müssen systematisiert werden. Wer an Veranstaltungen außerhalb des Lehrplans teilnimmt, kann das theoretisch Erlernte in der Praxis anwenden und etwas über die Gesellschaft lernen, in der er lebt – ob das nun Veranstaltungen zu Toleranz und Gender-Studies oder landesweite Umweltprojekte sind.
Auch der internationale Studierendenaustausch – einschließlich der Programme der akademischen Mobilität – hilft den Studierenden, Auslandserfahrung zu sammeln und danach etwas davon in die kasachische Gesellschaft einzubringen. Durch die enge Zusammenarbeit mit internationalen und kasachischen NGOs bekommen die Hochschulen ständig Informationen über aktuelle soziale Prozesse in der Gesellschaft. Dadurch können sie die Lehre an die Lebensrealität des Landes anpassen.
Inklusion ist der Schlüssel
Als Drittes muss Bildung inklusiv werden. Inklusion bedeutet die gemeinsame Ausbildung von Studierenden mit und ohne gesundheitlichen Einschränkungen. Inklusive Bildung ist ein Prozess, der allen Studierenden denselben Zugang zu Bildung gewährleistet und dabei sowohl die besonderen Anforderungen der jeweiligen Ausbildung als auch die individuellen Möglichkeiten der Studierenden berücksichtigt.
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In Großbritannien zum Beispiel bauen Kinder schon in jungem Alter positive Beziehungen zu Menschen mit Behinderung auf. Vorschulkinder spielen mit Puppen, die eine offensichtliche Behinderung haben. Ein inklusives Herangehen zeigt den Studierenden, dass jeder Mensch an sich einen Wert hat, unabhängig von seinen Möglichkeiten und Einschränkungen – und, dass produktive zwischenmenschliche Beziehungen auf gegenseitiger Achtung, Verständnis und Annehmen gegründet sein müssen.
Aus dem Russischen von Christina Spitzmüller
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Enders, 2018-11-14
Vielen Dank!
Als Gastprofessor an verschiedenen kasachischen Universitäten stimme ich vielen Vorschlägen zu.
Allein der hier verwendete Begriff „Zivilgesellschaft“ unterscheidet sich von dem in Deutschland üblichen. Dieser Unterschied ist allerdings höchst lehrreich!
Das Wort „zivil“ meint ursprünglich „bürgerlich“ im Sinne von „civis“ = „Stadt(!!)bürger“. „Zivilisation“ meint Wertegemeinschaft im Sinne der Ideale der französischen Revolution von 1789″. Diese Werte wurden allerdings von Anfang an verraten (anstelle des höchsten Kirchturms geht es nunmehr um den höchsten Bankturm), was Orwells These „Revolutionen werden gemacht, um [die] eine Diktatur durch eine andere zu ersetzen“ unterstützt.
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Enders, 2018-11-14
Die Bedienung dieser Seite ist leider alles andere als intuitiv
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