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Der Krieg in der Ukraine verleiht der kasachischen Sprache Auftrieb

ENTSCHLÜSSELUNG. 30 Jahre nach der Unabhängigkeit Kasachstans hält sich im Land ein besonderes Sprachregime: Russisch wird offiziell als Amtssprache anerkannt, verfügt aber über einen geringeren Status als die Landessprache Kasachisch. Dennoch wird in der Öffentlichkeit Russisch immer noch mehr gesprochen als Kasachisch. Doch angesichts des Krieges in der Ukraine erfährt die Landessprache eine Rehabilitation durch die Zivilgesellschaft.

ENTSCHLÜSSELUNG. 30 Jahre nach der Unabhängigkeit Kasachstans hält sich im Land ein besonderes Sprachregime: Russisch wird offiziell als Amtssprache anerkannt, verfügt aber über einen geringeren Status als die Landessprache Kasachisch. Dennoch wird in der Öffentlichkeit Russisch immer noch mehr gesprochen als Kasachisch. Doch angesichts des Krieges in der Ukraine erfährt die Landessprache eine Rehabilitation durch die Zivilgesellschaft.

„Zeichen des Nationalismus“ und „keine große Kultur“ – mit diesen harschen Worten äußerte sich Ramil Muhorıapov, Direktor des kasachstanischen Dienstleistungsunternehmens Chocolife, in einem am 19. Oktober verbreiteten Video über die kasachische Sprache.

Wie Radio Azattyq, der kasachstanische Dienst von Radio Free Europe berichtet, sorgen diese diskriminierenden Worte in Bezug auf die Landessprache in den sozialen Netzwerken für viele Reaktionen. Die meisten Kommentare forderten einen Boykott dieses sowie aller weiteren Unternehmen, die ihre Website nicht ins Kasachische übersetzen. Innerhalb weniger Stunden war ein Skandal geboren.

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Auf Ersuchen einer Gruppe von Májilis-Abgeordneten wurde eine polizeiliche Untersuchung zu den Äußerungen Muhorıapovs eingeleitet, welche nach Artikel 174 des kasachstanischen Strafgesetzbuchs eine Strafe wegen „Anstiftung zur Zwietracht“ nach sich ziehen könnten. Damit ist klar, dass die Bevölkerung in Kasachstan nicht mehr will, dass die kasachische Sprache hinter der russischen steht. Das russische Nachrichtenportal MediaZona berichtet, dass seit dem Krieg in der Ukraine „viele Kasachstaner:innen öffentlich erklärt haben, dass sie die russische Sprache aufgeben und ganz auf Kasachisch umsteigen, oder zumindest versprochen haben, dies zu versuchen.“

Eine Debatte über die Sprache

Das Sprachenproblem in Kasachstan hat mit der bevorstehenden Präsidentschaftswahl und dem massiven Zustrom von Russen, die vor der Teilmobilmachung fliehen, neuen Aufwind erfahren. Zumal die Position von Präsident Qasym-Jomart Toqaev zu diesem Thema unklar ist.

Wie Eurasianet berichtet, veröffentlichte die Präsidialverwaltung am Tag nach Veröffentlichung des Videos von Muhorıapov einen Zusatz zu einem Dekret, wodurch die Diskriminierung aufgrund der Sprache am Arbeitsplatz verboten wird. Nach dem Skandal forderte der Präsident, die Sprache nicht zu einem „Werkzeug der Politisierung“ zu machen, verurteilte aber die Äußerungen Muhorıapovs nicht.

Dass er sich nicht klar auf die Seite der Kasachstaner:innen stellt, hat auch einige von ihnen in den sozialen Netzwerken wütend gemacht. Wasser auf deren Mühlen goss außerdem die Tatsache, dass Toqaev zuvor die Einrichtung einer russischsprachigen Organisation ähnlich der französischen Organisation internationale de la Francophonie (OIF)vorgeschlagen hatte.

Lest auch auf Novastan: Kasachstans langsamer, aber bestimmter Weg zum lateinischen Alphabet

In einem Leitartikel des kasachischen Nachrichtenportals Vlast reagiert die Journalistin Aısulý Toıshibekova auf diejenigen, die ihr vorwerfen, einen gewissen Nationalismus zu schüren. „Ich spreche Kasachisch, weil ich Bürgerin Kasachstans bin“, schreibt sie.

Mit dieser Position steht sie offensichtlich nicht allein, denn kasachische Diskussionsclubs erfahren in letzter Zeit hohen Zulauf. Darunter ist auch der Club Batyl Bol, was auf Kasachisch „Sei mutig“ bedeutet. Er wurde von Alexei Skalozubov gegründet und hat mittlerweile mehr als 300 registrierte Mitglieder, erklärt MediaZona.

Eine deutlich militantere Organisationen, Qazaq Grammar, begann mit einem Instagram-Account, der sich „gegen den russischen Imperialismus“ und für „die Wiederaufwertung des Kasachischen in der Gesellschaft“ einsetzt. Die Organisatoren bieten auch kasachische Chat-Clubs in Almaty und Astana an. Die meisten Teilnehmenden dieser Kurse sind jung. Sie alle haben den Wunsch, sich durch die Praxis der kasachischen Sprache vom russischen Einfluss zu lösen und sich wieder mit einer bestimmten nationalen Identität zu verbinden.

Kasachisch in Mode

Schon seit ein paar Jahren gewinnt das Kasachische in Mode und Popkultur an Bedeutung. Seit 2017 erzielte die von Saken Joldas gegründete Bekleidungsmarke „Qazaq Republic“ große Erfolge. Sie bietet Streetwear-Kleidung mit oftmals kasachischen Slogans in lateinischem Alphabet an. Ziel sei es, eine moderne nationale Identität zu fördern, erklärt der Designer gegenüber The Steppe: „Die Idee unserer Marke ist es, ein Stück Kultur, eine nationale Identität zu vermitteln.“

Und auch nationale Künstler singen vermehrt auf Kasachisch. Ein Beispiel hierfür ist die Gruppe Ninety One, die Teil der (sich am koreanischen K-Pop orientierenden) Q-Pop-Bewegung ist, und mit kasachischen Texten und nomadischen Musikstücken Kasachstan in der internationalen Musikszene vertritt. Und auch der weltweit bekannte Sänger Dimash Qúdaıbergen, eine echte kasachische Ikone, präsentiert neben englischen, russischen und chinesischen Songs auch Lieder in kasachischer Sprache.

Russisch nach wie vor dominant

Doch obwohl Kasachisch seit einigen Jahren an Popularität gewinnt, bleibt Russisch nach wie vor die wichtigste Sprache im Land. Wie Vlast berichtet, verwenden laut einer im Jahr 2022 durchgeführten Studie nur 49,3 Prozent der Bevölkerung Kasachisch im täglichen Leben, während 19,9 Prozent die Sprache überhaupt nicht sprechen.

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Enttäuschende Zahlen im Vergleich zum Plan des ehemaligen Präsidenten Nursultan Nazarbaev, der im Jahr 2010 erreichen wollte, dass 95 Prozent der Kasachstaner:innen bis 2020 die Landessprache sprechen. 2021 wurde ein neues Programm aufgelegt, das zur weiteren Entwicklung der kasachischen Sprache bis 2025 beitragen soll, diesmal im angepassten lateinischen Alphabet.

Emma Collet, Redakteurin für Novastan

Aus dem Französischen von Robin Roth

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