In Kasachstan – wie auch in den übrigen Ländern Zentralasiens – wird wirtschaftlich auf traditionelle Sektoren wie Industrie oder die Förderung von Bodenschätzen gesetzt. Das Potenzial der Kreativwirtschaft, verstanden als jene wirtschaftlichen Tätigkeiten, in denen kreative Arbeit, intellektuelle Fähigkeiten und kulturelles Erbe eine Schlüsselrolle spielen (wie Medien, Design, Technologie, Kunst), wird dabei nicht immer erkannt. Aika Alemi, Gründerin und Präsidentin der Allianz der Kreativwirtschaft Kasachstans, internationale Business-Coachin, Designerin und Gründerin einer weltweit vertriebenen Bekleidungsmarke, spricht über die Entwicklung der Kreativwirtschaft in Kasachstan.
Aika Alemis Weg in die Kreativwirtschaft begann außerhalb ihres Heimatlandes: Aufgewachsen im Süden Kasachstans, verbrachte sie ihre Schulzeit in der Mongolei und absolvierte anschließend ein Wirtschaftsstudium an der Moskauer Staatlichen Universität. Früh sammelte sie internationale Erfahrung in globalen Unternehmen, wurde mit 25 Jahren Finanzdirektorin eines amerikanischen Konzerns und setzte ihre Ausbildung mit einem MBA an der Duke University fort.
Nach fast zwei Jahrzehnten im Ausland kehrte sie 2006 nach Kasachstan zurück, übernahm leitende Aufgaben bei KasMunaiGas (Nationale Öl- und Gasgesellschaft von Kasachstan) und wandte sich zugleich dem Filmeschaffen zu, was sie am Maine Media College in den USA studierte. In ihren künstlerischen Arbeiten verknüpfte sie ihre berufliche Erfahrung mit dem Bewusstsein für die kasachische Kultur, die Menschen und deren Erbe. Neben Filmprojekten gründete sie eine internationale Modemarke, schrieb für Fachzeitschriften und entwickelte Lehrprogramme, die sie seit mehr als zwölf Jahren in Kasachstan, anderen GUS-Staaten sowie in Amerika, Malaysia und Indonesien vermittelt.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Novastan: Aika, wie würden Sie die Situation der Kreativwirtschaft in Kasachstan beschreiben?
Aika Alemi: Der Sektor der Kreativwirtschaft in Kasachstan ist bei weitem nicht so ausgeprägt wie in anderen Teilen der Welt.
Staatliche Förderung wird oft versprochen, doch die Zuschüsse halten sich in Grenzen und es ist schwierig, diese Unterstützung zu bekommen. In Europa und Amerika jedoch besteht ein ganzes Netzwerk, ein Ökosystem verschiedener Institutionen in der Kreativwirtschaft: private, staatliche, halbstaatliche und internationale Fonds.
Die Hauptprobleme von Kasachstan sind Bürokratie und mangelnde Transparenz bei der Finanzierung. Und unsere kasachischen Investoren fragen uns in der Regel: „Warum sollte ich dafür Geld geben? Ich würde lieber in Öl und Gas, in ein Restaurant oder in die Landwirtschaft investieren.“ Sie sind also vollständig in traditionellen Wirtschaftszweigen tätig.
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Eine weitere Finanzierungsquelle für die Kreativwirtschaft wäre die Aufnahme von Krediten. Aber die Kosten dafür sind bei uns astronomisch hoch. Darüber hinaus unterschätzen wir die Macht des Marketings und investieren nicht genug in diesen Bereich.
Außerdem sind viele unserer Unternehmer nicht wettbewerbsfähig, weil sie nicht immer wissen, wie man eine Marke gründet: Ihnen fehlen die Zahlen und Kenntnisse, sie wissen nicht, was Analytik, Markt- und Wettbewerbsanalysen sind und wer ihre Zielgruppe ist.
Womit hängt das Ihrer Meinung nach zusammen?
Das ist sozusagen Kurzsichtigkeit. Der Fokus auf sogenannte schnelle Erfolge. Wir spüren immer noch die Auswirkungen des Erbes unserer Vorfahren. Was vor 100, 200, 300 Jahren geschaffen wurde. Aber wir selbst schaffen nichts so Langfristiges.
Hat das etwas mit der Kultur oder Geschichte zu tun, vielleicht mit der postsowjetischen Vergangenheit, mit der Angst vor Instabilität?
Auch das. Aber mir scheint, es kommt noch hinzu, dass beispielsweise Beamte in Regierungsbehörden maximal zwei bis drei Jahre im Amt bleiben. Das heißt, sie wissen, dass sie nur vorübergehend im Amt sind. Ich denke, das ist der Hauptgrund.
Es gibt also ein Problem mit den Bedingungen für die Entwicklung der Kreativwirtschaft. Haben wir genug kreatives Potenzial, Leute, die diesen Sektor entwickeln könnten?
Ja, ich denke, wir haben genug, auch ohne Unterstützung vom Staat oder anderen Investoren. Dies bedeutet auch, dass es trotz der fehlenden Bedingungen für die Entwicklung kreativer Unternehmen ausreichend kreatives Potenzial und Leute gibt, die dies auch umsetzen. Wir Leute in Kasachstan sind sehr kreativ in uns selbst. Ich denke, das hat damit zu tun, dass wir ein sehr multiethnisches Land sind: Es herrscht eine Verflechtung der Kulturen und Religionen.
Unsere Geschichten müssen erzählt werden, denn fast niemand auf der Welt weiß etwas davon. Selbst in unserem Land kennen viele die Vielschichtigkeit unserer Kultur nicht.
Das ist ein sehr interessanter Punkt. Beeinflusst Multikulturalismus und Multiethnizität nicht nur die Mentalität bzw. kulturelle Besonderheiten, sondern auch das kreative Potenzial?
Ja, die Multiethnizität stärkt das kreative Potenzial, sie bietet mehr Material zum Arbeiten.
Manchmal beklagen wir uns darüber, dass wir als Nation unterdrückt wurden, und wie viele Völker zu uns verbannt wurden. Andererseits erwies es sich als Vorteil für uns. Wir wissen, wie man in Frieden lebt und wie man Traditionen und Weltanschauungen annimmt und adaptiert. Heute sind viele Menschen in Kasachstan mit der Kultur beispielsweise der Koreaner, Tschetschenen oder Bulgaren vertraut. Das bereichert uns aus kreativer Sicht.
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Selbst unsere Städte an der Seidenstraße waren Transitstädte. Die persische Besiedlung, die arabische, die Han-Chinesen, die Slawen, die Turkvölker – alle zogen hier vorbei. Die Perser sind der Zoroastrismus, die Chinesen der Buddhismus, es gab Islam und Christentum, und die Menschen sprachen allerlei Sprachen. Betrachtet man unsere Kleidung aus dem späten 18. und 19. Jahrhundert, findet man Materialien aus aller Welt – Marder aus Sibirien, Korallen, Steine, Materialien aus China, Japan, italienisches Glas. Obwohl dies nach der Zeit der Seidenstraße war. All dies spiegelt sich in der kasachischen Nationaltracht wider – eine Adaption von allem.
Wären wir ein Inselstaat und monoethnisch, wären wir eher am Rande der Welt und der Möglichkeiten, sich zu entwickeln. Doch da wir uns an einer Achse befinden, ist dies nicht der Fall. Und nun hat sich das Zentrum im Zusammenhang mit den Ereignissen in Russland vor drei Jahren verschoben. Dadurch sind viele Geschäftsleute, Kulturschaffende und Experten aus verschiedenen Bereichen zu uns gezogen. Vieles hat durch uns begonnen zu geschehen, auch in der Kreativwirtschaft.
Hat sich durch die Ereignisse in Russland auch die Tendenz verstärkt, nach unserer eigenen kulturellen Identität zu suchen?
Ja, weil wir Angst vor Eroberung haben. Wir wurden bereits erobert, und wir haben Angst davor, erneut zu werden. Schließlich haben wir eine Kolonialzeit hinter uns.
Die Suche nach Identität hat sich gerade als antikoloniale Bewegung intensiviert. Denn die neokoloniale Bewegung findet derzeit weltweit statt.
In der Sowjetzeit bekamen wir eine zusammengewürfelte Version unserer Identität. Unsere Sprache wurde uns genommen. In der sowjetischen Version unserer Nationaltracht beispielsweise sind die Farben leuchtend blau, rot und grün. Diese Farben sind jedoch in unserer traditionellen Kleidung nicht zu finden. In der Steppe war es unmöglich, solch leuchtende chemische Farben zu erhalten.
Diese Manifestation der eigenen Identität spiegelt sich sicherlich in der Kreativität wider. Gleichzeitig muss man sich, um auf dem globalen Markt Fuß zu fassen, an globale Trends anpassen, oder?
Ja, es ist wichtig, sich immer bewusst zu sein, dass man in einer vernetzten Welt lebt und dass das eigene Erbe eine globale Form haben sollte. Das heißt, man sollte keine Angst vor der digitalen, modernen und technologischen Welt haben. Und vielleicht muss man Farben und Materialien irgendwo ändern.
Viele globale Trends setzen sich bei uns fest, und wir passen uns gut an. Wir lieben es, Neues zu lernen. Wir lieben externe, fremde Einflüsse.
Erzählen Sie uns mehr über die Allianz der Kreativwirtschaft Kasachstans? Was ist ihr Ziel?
Ich versuche seit zehn Jahren, diese Allianz zu gründen. Erst im dritten Anlauf, im Jahr 2023, gelang die Gründung. Jetzt haben wir bereits rund 60 Mitglieder. Entwicklung sollte auf einem institutionellen Element basieren, und eine solche Institution ist notwendig. Wenn wir uns alle zusammenschließen, erhalten wir sofort eine institutionelle Stimme und spiegeln die gesamte Branche wider. Alle Kreativwirtschaften, 21 Branchen, stechen hervor. Und wir können alle vertreten und ihre Interessen schützen.
In erster Linie geht es uns um wirtschaftliche Stärkung. Wir möchten Menschen dabei unterstützen, ihre eigene Marke und ihr eigenes Unternehmen aufzubauen, Kapital zu beschaffen und Start-ups zu gründen, Export und E-Commerce zu entwickeln, damit sie internationale Partner haben und Geld verdienen können.
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Zweitens geht es um die Unterstützung von Investoren, dem Staat, Fonds und nicht-finanzieller Unterstützung, etwa bei der Vermarktung, Bereitstellung von Materialien, Räumlichkeiten, zu erhalten. Also alles, was mit Ressourcen zu tun hat.
Und drittens müssen wir uns an Gesetzesänderungen beteiligen. Wir arbeiten mit dem Staat und den Regierungszweigen zusammen, damit Veränderungen stattfinden. Sowohl steuerlich als auch konzeptionell – was sind solche Branchen, wer gehört dazu, welche Urheberrechte bestehen?
Unser nächster Schwerpunkt sind Hubs. Denn ein Hub ist ein Ort, an dem kreative Produkte oder Dienstleistungen entstehen: sowohl physisch als auch virtuell. Und wir forschen auch zur Kreativwirtschaft und ihrem Anteil am BIP Kasachstans. Das hilft uns, zu erkennen, welche Schritte der Staat machen kann, um die Kreativwirtschaft zu entwickeln, aber auch welches Bild die Regierung von der Kreativwirtschaft im Land hat. Denn wie soll man ein Land regieren, wenn es keine Zahlen gibt?
Wer sind die Mitglieder der Allianz?
Das sind allesamt LLPs aus der Kreativwirtschaft aus ganz Kasachstan. Aus den Bereichen Architektur, Innenarchitektur, Mode, Grafikdesign, Objektdesign und Landschaftsgestaltung. Dazu gehören weiter zeitgenössische Kunst, Theater, Ballett und Oper. Auch Werbung, Cybersport, Gaming, Musik und Kunsthandwerk kommen hinzu.
Für welche Länder könnten wir Ihrer Meinung nach aus Sicht der Kreativwirtschaft interessant sein?
Ich denke, für Industrieländer wie die USA, Kanada, Europa, möglicherweise Singapur, Tokio und Südkorea. Die Welt ist heute sehr an der Nomadenkultur interessiert. Aber auch wir haben sie nicht mehr, sie muss wiederhergestellt werden. Generell haben wir jedoch einen originellen kulturellen Code, den es nirgendwo sonst gibt. Das macht uns bestimmt für die Welt interessant.
Mehr von Aika Alemi im Buch „Decentring Fashion on the Silk Roads” von Routledge: Artikel von Alemi zum Thema “Sustainable Fashion in Central Asia”
Nurgul Adambayeva für Novastan
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„Wir haben einen originellen kulturellen Code, den es nirgendwo sonst gibt“ – Aika Alemi zur Kreativwirtschaft in Kasachstan