Wie die Koreaner Kasachstans ihre ethnische Zugehörigkeit sowie das Verhältnis zu ihrer historischen Heimat und Sprache wahrnehmen, ist Gegenstand der neuen Studie Tracing the Language Roots and Migration Routes of Koreaners from the Far East to Central Asia der amerikanischen Linguistin und Soziologin Elise S. Ahn (University of Wisconsin, Madison), die in der wissenschaftlichen Zeitschrift Journal of Language, Identity & Education veröffentlicht wurde. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Fergana News, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Im Jahr 2015 führten Ahn und ihre Kollegen Interviews mit 26 Koreanern aus der kasachstanischen Diaspora. Sie interessierten sich für Menschen aller Altersgruppen (18-67 Jahre) und Berufe – Studenten, Geschäftsleute, Ingenieure, Buchhalter, Anwälte, Manager. Es wurden sowohl Teilnehmer aus Almaty als auch aus dem Süden Kasachstans ausgewählt und Interviews auf Russisch und Englisch geführt. Die Wissenschaftler versuchten, in die Familiengeschichte der Koreaner einzudringen und die schwierigen Wege, über welche sie in die Region kamen, sowie ihre Vorstellungen von Heimat, Zuhause und der koreanischen Sprache kennen zu lernen. Und die Hauptfrage zu stellen – was bedeutet es heute, Koreaner in Kasachstan zu sein?
Geschichtlicher Hintergrund
Fangen wir mit der Geschichte an. Die erste erfasste Migration von Koreanern in das Russische Reich fand in den 1860er Jahren statt, als dreizehn Familien aus dem überbevölkerten Korea in die Region Primorje zogen. Im Jahre 1884 wurde ihnen offiziell genehmigt, die russische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Zur Zeit der ersten sowjetischen Volkszählung lebten 87.000 Koreaner im Land, die überwiegende Mehrheit davon im Fernen Osten. Im Jahr 1937 waren sie jedoch die ersten in der UdSSR (vor Deutschen und Krimtataren, Griechen, Tschetschenen und anderen), die aufgrund ihrer Nationalität deportiert wurden. Im Jahre 1937 wurden sie auf der Grundlage einer Resolution des Rates der Volkskommissare der UdSSR unter dem Vorwand, „das Eindringen der japanischen Spionage in die Region des Fernen Ostens zu unterdrücken“, in die Kasachische und Usbekische SSR umgesiedelt. Die Koreaner, welche oft in Grenzgebieten lebten, wurden der mangelnden Zuverlässigkeit verdächtigt (wir erinnern daran, dass Korea zu dieser Zeit japanische Kolonie war). Insgesamt wurden ca. 180 000 Bürger deportiert und ca. 100 000 wurden auf dem Territorium der Kasachischen SSR untergebracht.
Die Deportation nach Zentralasien hat die Koreaner besonders bezüglich ihrer Muttersprache schwer getroffen. Bis 1937 gab es in der Region Primorje Dutzende Schulen mit Koreanisch als Unterrichtssprache. Auch Zeitungen und Zeitschriften wurden auf Koreanisch publiziert und ein pädagogisches Institut war vorhanden. Auch nach der Vertreibung gab es noch koreanische Schulen – aber ab den Kriegsjahren wurde Russisch auch dort zur Unterrichtssprache. Die allmähliche Abwendung von der eigenen Muttersprache begann. Laut der Volkszählung von 1979 sprachen damals bereits 47,7 Prozent der Sowjetkoreaner [ausschließlich] Russisch. In den postsowjetischen Jahren setzte sich der Verlust der Sprache fort.
Von Japan in die UdSSR
Die Deportationen endeten nicht in Primorje. Die südliche Hälfte der Insel Sachalin, welche Japan nach der Niederlage Russlands im Russisch-Japanischen Krieg erhielt und zur Präfektur Karafuto wurde, war ebenfalls betroffen. Dorthin trieben die Japaner zwischen 1939 und 1945 60.000 Koreaner zur Zwangsarbeit, von denen die meisten nach dem Anschluss Sachalins an das Territorium der UdSSR auf der Insel blieben. Sie bekamen lange Zeit nicht die sowjetische Staatsbürgerschaft, wurden aber auch nicht nach Hause entlassen und als wertvolle Arbeitskräfte (Fischer, Bergleute, Holzfäller) eingesetzt. Erst 1953 erhielten sie Pässe, danach zogen viele nach Zentralasien.
Schließlich wurde die koreanische Diaspora im sowjetischen und später unabhängigen Kasachstan durch Staatsangehörige der Demokratischen Volksrepublik Korea bereichert, die nach dem Abschluss von Geschäftsreisen oder ihres Studiums im Ausland blieben. Nach 1991 kamen Geschäftsleute und technische Spezialisten aus Südkorea hinzu. Alle vier Wellen koreanischer Migration nach Kasachstan (ein kleiner Anteil der fast sechs Millionen Menschen umfassenden koreanischen Diaspora weltweit) sind in Abbildung 1 dargestellt.
Erinnerung an die Deportation und das Vergessen der Sprache
Wie viele andere in Diaspora lebende Gruppen (z.B. Juden oder Armenier) nehmen die Koreaner das traumatische Ereignis, von dem ihre Lebensgeschichte in Zentralasien ausgeht – die stalinistischen Deportationen – äußerst ernst. Trotz der Tatsache, dass Ahns Interviewpartner Kasachstaner in der dritten oder vierten Generation sind, erinnern sie sich aus der Geschichte ihrer Familien am besten an die Deportationen von 1937 und sprechen immer über sie, wobei sie sie entweder mit der Angst vor japanischen Spionen oder mit Stalins Plänen für die sozialistische Umstrukturierung des Landes in Verbindung bringen.
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Die Linien auf Abbildung 2 zeigen die große Vielfalt der Routen, die die Vorfahren der Befragten nach Kasachstan führten, aber die Umsiedlung unter Stalin wird häufiger genannt, mit einer großen Lücke. Die Strapazen der Reise, die Wanderbewegungen in der UdSSR und die Fluchten aus Deportationszügen nach Sibirien wurden verschwiegen.
Die Studie bestätigte den Verlust der koreanischen Sprache bei den in den 1980er Jahren und später Geborenen. Die Befragten erinnern sich nur daran, wie ihre Eltern und Großeltern Koreanisch sprachen, und betonen, dass die Sprache sich von der in Südkorea verwendeten Sprache unterschied. Viele erinnern sich an Koreanisch als „Geheimsprache“: „In der Familie sprachen wir Russisch, aber wenn Papa und Mama etwas vor uns oder vor Fremden verbergen wollten, wechselten sie zu Koreanisch. Zum Beispiel, wenn es um Geld ging“ (Inna, 32, Ingenieurin). Die Sprache der Herkunft wird also vergessen, aber ihre Funktion – die Grenzen zwischen der eigenen und der fremden Sprache zu ziehen, Geheimnisse zu bewahren – daran bewahrt sich die Erinnerung.
„Jeder sagt den Koreanern, dass sie Koreanisch sprechen sollen“
Ein ebenso wichtiges Element des Eigenverständnisses ist das Gefühl der Verlegenheit, weil man seine Muttersprache nicht kennt. Es ist dieses Gefühl, das am meisten motiviert, Koreanisch zu lernen. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich es lernen sollte, nur um sagen zu können… – Ich bin Koreanerin und ich spreche Koreanisch“ (Elina, 24, Englischlehrerin). „Jeder sagt den Koreanern, dass sie Koreanisch sprechen sollen. Das sind unsere Wurzeln. Es wäre also interessant, es zu lernen“ (Dima, 30, Finanzbeauftragter). Auf diese Weise, obwohl die Muttersprache aller Interviewpartner Russisch ist, sie inmitten anderer Völker aufwuchsen, eine gute Ausbildung erhielten, glauben sie dennoch an die tiefe natürliche Verbindung zwischen den Menschen und ihrer Sprache. Und zum Gefühl der Pflicht kommt das der Reue und Scham hinzu. „Koreanisch ist die Sprache meines Volkes. Aber ich kann sie nicht meine Muttersprache nennen, weil ich sie nicht spreche… Wenn ich in meiner Jugend verstanden hätte, dass ich meine Sprache verliere, hätte ich meine Großmutter gebeten, mit mir und mit meinen Eltern auch Koreanisch zu sprechen“ (Ludmila, 63, Buchhalterin). „Es ist nicht gut im Leben die Verbindung zu seinen Wurzeln zu verlieren, also wäre es interessant, sie zu lernen“ (Dima, 30, Finanzleiter).“Es ist wichtig zu wissen, woher man kommt. Ich habe armenische Freunde, die ihre Muttersprache sprechen, obwohl sie bereits in der dritten Generation [außerhalb Armeniens] sind… Wenn ich meine Muttersprache kennen würde, wäre es besser“ (Dima, 30, Finanzarbeiter).
Doch neben diesen ethnisch gefärbten Emotionen sehen viele Koreaner ihre Sprache als eine wertvolle Ressource für das Leben. Lena (35 Jahre alt, Managerin) traf die grundlegende Entscheidung, nicht Koryo-Mar (ein Dialekt, der von Koreanern der ehemaligen Sowjetunion gesprochen wird), sondern den modernen südkoreanischen Dialekt zu lernen: „Ich sehe keinen Sinn darin, Altkoreanisch zu lernen. Das ist nur für das Studium der Geschichte nützlich.“ Ein pragmatischer Ansatz und die Verknüpfung der Sprache mit zukünftigen Karrierechancen ist sehr üblich. „Meine Kinder lernen kein Koreanisch. Ich werde sie nicht zwingen… Es gibt keinen Grund, die Sprache jetzt zu lernen. Aber in der Zukunft… sehe ich viele Möglichkeiten für Koreaner. Es ist eine rationalere Sichtweise“ (Marina, 40, Restaurantleiterin).
Wo liegt schon die Heimat?
Als ebenso flexibel, fließend und komplex wie die Einstellung zur Sprache stellte sich auch die ethnische Identität der Koreaner Kasachstans dar. Inna zum Beispiel kann sich nicht im vollen Sinne koreanisch nennen – sie ist ihrer Herkunft nach Koreanerin, spricht Russisch, lebt in Kasachstan und hält sich für kasachstanisch. Ekaterina (25, arbeitslos) fühlt sich eher wie eine Russin:– „Ich habe einen russischen Namen, ich bevorzuge die russische Küche und spreche Russisch – nur mein Aussehen ist koreanisch“. Für Lena (35 Jahre, Managerin) ist das Ganze noch komplizierter: Der Ferne Osten ist für sie eine Transitzone, Nordkorea ist ihre historische Heimat, sich selbst sieht sie als Weltbürgerin, als Sowjetmensch und als Bürgerin von Almaty.
Südkorea als „eigentliche“ Heimat?
Die meisten Befragten betrachteten jedoch Südkorea als ihre eigentliche Heimat. Sie haben es aber nicht eilig, dorthin zu ziehen. „Früher wollte ich dort studieren. Aber dann sprach ich mit Leuten, die in Korea leben – sie hatten einen negativen Eindruck. Ausländer… sie werden dort ignoriert. Es wird nicht mit ihnen geredet. Auch wenn sie Koreanisch sprechen“ (Dima, 30, Finanzarbeiter). Südkoreaner halten ihre „Verwandten“ aus der ehemaligen Sowjetunion oft für „minderwertige“ Koreaner. Aber dennoch ist Südkorea aufgrund seines Prestiges, seiner starken Wirtschaft und seines geopolitischen Status ein wahrer Hüter der koreanischen Sprache und Kultur – im Gegensatz zu der „geächteten“ DVRK (Demokratische Volksrepublik Korea – Nordkorea), obwohl die Vorfahren der Sowjetkoreaner von den historischen Territorien der DVRK nach Primorje gezogen sind.
Wie sich herausstellt, gibt es für die Koreaner Kasachstans keine hundertprozentige Heimat. Sie wenden sich nach Südkorea – ein Land, das sie schätzen, welches sie aber als Quasi-Ausländer, als Fremde betrachtet. Und Kasachstan, wo sie geboren und aufgewachsen sind? Dort gelten die Koreaner schließlich nicht als Menschen zweiter Klasse. Im Jahr 2016, als der offizielle „Tag der Dankbarkeit“ eingeführt wurde, sagte der Präsident des Landes, dass die Kasachen die vom stalinistischen Regime in der Steppe ausgesetzten Menschen als liebe Gäste angenommen hätten. Aber selbst noch in diesem Zusammenhang wird den Koreanern höflich gesagt, dass sie Gäste auf kasachischen Boden seien. Der Weg nach Primorje ist vielleicht frei, aber auch nicht besonders attraktiv. Offenbar bleibt nur die Möglichkeit, sich aneinander zu orientieren – über persönliche Verbindungen innerhalb der Diaspora, so Annas Fazit.
Aus dem Russischen von Hannah Riedler
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