Im kasachischen Stepnogor ist die „Motanja“, das Verkehrsmittel für den öffentlichen Nahverkehr, die Hauptattraktion. Vor Ort stehen die Leute dem allerdings eher gleichgültig gegenüber. Diese Fotoreportage von Renat Taschkinbajew und Turar Kasangapow erschien im russischen Original bei Trengrinews.kz.
Jedes Jahr kommen Eisenbahnfreund*innen in die kasachstanische Stadt Stepnogor (auch unter der russischen Bezeichnung Stepnogorsk bekannt, Anm. d. Ü.), circa 130 km nordöstlich der Hauptstadt Astana, um sich an den örtlichen Elektritschkas, wie die Vorortzüge genannt werden, zu erfreuen.
Die berühmte Baureihe ER-22
Besonders begeistert sind die Kenner*innen von der Baureihe ER-22, die sie als eine Legende betrachten. Diese Triebwagen wurden in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gebaut und einigen Daten nach ist Stepnogor der einzige Ort der Welt, an dem sie bis heute für den Verkehr genutzt werden.
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Die Einwohner*innen der Stadt verhalten sich der Tatsache, dass sie mit einem Museumsstück zur Arbeit fahren, eher gleichgültig gegenüber. Nichtsdestotrotz nennen sie untereinander dieses Transportmittel nicht Elektritschka, sondern verwenden ein anderes Wort – Motanja.
Es ist nicht möglich mit dem Zug nach Stepnogor zu fahren, aber dafür gibt es in dieser Stadt eine eigene lokale Eisenbahn. Hier fahren Vorortzüge, die das beliebteste Transportmittel der Stadt zu sein scheinen.
Wie zu Sowjetzeiten bringen die Züge die Menschen zur Fabrik und zurück. Alle wichtigen Betriebe von Stepnogor befinden sich außerhalb der Stadt.
Der Bahnhof von Stepnogor
Auf dem Foto sieht man das Gebäude des Bahnhofs. Es ist klein und allem Anschein nach wird es nicht mehr zu seinem eigentlichen Zweck genutzt.
Rechts das Bahnhofsgebäude.
Früher Morgen. An der Station Stepnogor kommt ein Zug an.
Ein uneingeweihter Mensch findet kaum etwas Ungewöhnliches an dieser Elektritschka, aber dank genau dieses Zuges ER-22 kommen Tourist*innen aus Russland in die Stadt.
„Die Mädchen sind alt, die Jahrgänge 1964-1968. Man malt sie an, aber sie mausern sich so oder so“, sagt der Lokführer Ildar Machijanow und präzisiert sofort: „Ich meine die Elektritschkas. Wir nennen sie liebevoll Mädchen. Sie sind launisch, wie jede Maschine. Es kommt vor, dass sie beleidigt sind und an einem Tag mehrfach kaputt gehen.“
Ildar arbeitet schon seit 17 Jahren als Zugführer. Er erzählt, dass sich oft Gäste, die einen Abstecher hierher machen, für die Elektritschkas interessieren und dass es welche gibt, die eine Reise nach Stepnogor einem Urlaub am Schwarzen Meer vorziehen.
„Bei uns sind die letzten geblieben. In Russland stehen die Züge im Museum und fahren nicht. In dieser Saison seid ihr die ersten, aber sie kommen ständig aus Russland. Es kommen sogar die, die auf diesen Elektritschkas gearbeitet haben, als es sie noch in Moskau und Leningrad gab“, erzählt unser Gesprächspartner.
Die letzten Züge ihrer Art
Die Elektritschkas wurden tatsächlich bis 1996 in Moskau verwendet. Später wurden sie in Russland noch für einige Zeit auf der Strecke Miniralnyje Wody – Kislowodsk verwendet. Aber seit 1999 gibt es ER-22 nur noch in Kasachstan.
Auf themenbezogenen Websites, die Zügen gewidmet sind, zählen die Kenner*innen ehrfurchtsvoll die Besonderheiten des Zuges auf: „ER-22 ist der erste in Serie hergestellte Elektrozug mit Widerstandsbremse. Die Widerstandsbremse erlaubt es einen Teil der Elektroenergie ins Oberleitungsnetz zurückzugeben.“
„Der Elektrozug ER-22 hat ein unverwechselbares Aussehen. Er unterscheidet sich stark von den gewöhnlicheren Elektrozügen ER-1, ER-2 und anderen Serien. Eine ungewöhnliche Besonderheit der Elektrozüge ER-22 sind die drei Paare Türen in jedem Wagon. Die Türen sind an den beiden Enden und in der Mitte des Wagons gelegen. In anderen sowjetischen Elektrozügen sind die Türen nur an den Enden des Wagons gelegen“, merken die Kenner*innen darüber hinaus an.
„Wie ist es ein Museumsstück zu fahren?“, fragen wir Ildar.
„Ein klasse Gefühl. Wie eine Limousine. Es ist überhaupt unbeschreiblich, welche Macht man fühlt. Das muss man selbst erleben“, sagt er begeistert.
Die „Baumelbahn“
Draußen ist es gerade hell und schon sammeln sich die Passagiere in der ersten Elektritschka zu den Industrieunternehmen.
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Übrigens nennen die Einheimischen den Zug nicht Elektritschka sondern benutzen das ungewöhnliche Wort „Motanja“ (vom russischenmotat´sya – dt. baumeln, Anm. d. Ü.).
Die Reisezeit wird nicht selten durch Kartenspiel verkürzt.
Die einfache Fahrt kostet 100 Tenge (umgerechnet 0,30 Euro). Sobald er das Geld erhält, gibt der Schaffner zwei Tickets – eines im Wert von 10 und eines im Wert von 90 Tenge.
Während der täglichen Fahrt mit der Elektritschka sieht die lokale Bevölkerung nicht ungewöhnliches. Sie hat sich an alles gewöhnt.
Wenn sie ihre Station erreicht haben, gehen die Menschen in einem einmütigen Strom zur Fabrik.
Dieses Bild erinnert irgendwie an die sowjetische Vergangenheit.
Die Station Stepnogor in den 1970er-Jahren. Nach dem Ende der Schicht in den Fabriken kehren die Passagiere zurück in die Stadt(Foto von der Website infojd.ru).
Und das ist die Gegenwart. Blick aus dem Fernster der Elektritschka.
Von „Suizidniki“ und Lokführeranekdoten
Insgesamt fahren hier fünf Züge. Einer davon befindet sich immer der Reihe nach in Wartung.
Ersatzteile für diese Züge werden schon nicht mehr hergestellt. Im Elektrodepot gibt es so genannte „Spender“ – Fahrzeuge, denen man die notwendigen Teile entnimmt.
„Bei unserer Arbeit ist Aufmerksamkeit das wichtigste. Man muss ständig darauf achten, wie die Passagiere einsteigen, wohin die Fußgänger*innen sich bewegen. DerBeruf ist wie der Ritt auf einer Rasierklinge. Gott behüte, dass irgendwo irgendwas passiert“, teilt Ildar mit.
Diejenigen, die ihrem Leben auf den Gleisen ein Ende bereiten wollen, nennen die Lokführer „Suizidniki“. „In meinem Berufsleben gab es davon viele“, sagt der Zugführer.
Ob es gelang sie zu retten?„Es kommt schon vor, dass es gelingt anzuhalten. Wir ergreifen alle Mittel. Es ist gut, wenn sie schon aus der Ferne zu sehen sind. Aber es kommt auch vor, dass sie aus der Deckung kommen oder liegen. Dann nimmst du die Notbremse.“
Auf die Frage nach Störfällen reagiert Ildar vorsichtig. „Wenn du hier ein wenig arbeitest, wirst du abergläubisch, sodass man nicht über überflüssiges redet“, sagt er. Aber es gab viel Lustiges in seinem Berufsleben.
„Hier ist eine Geschichte: Irgendein Mann kommt nachts, setzt sich in den Wagon. Ich gehe hin zu ihm und frage: ‚Wo wollen Sie hin?‘ Er total überrascht: ‚In die Fabrik.‘ Ich sage: ‚Haben Sie auf die Uhr geguckt? Es ist mitten in der Nacht.‘ Er schaut auf die Uhr und geht nach Hause. Der Typ war total verkatert“, erzählt Ildar.
Eine halbmoderne Bahn
„Ich denke überhaupt nicht, dass unsere Eisenbahn sehr veraltet ist. Wir haben halbautomatische und automatische Verriegelung, es gibt alle Signalanlagen. Alles ist genau so wie bei einer normalen Eisenbahn. Bloß das Gehalt ist ganz und gar anders“, sagt der Lokführer bescheiden.
Die Einheimischen haben sich an die Motanja gewöhnt. Sie sagen, wenn man die Elektritschka bis nach Astana ausbauen würde, wäre sie wertlos.
Fährt man in der Elektritschka an Industrieanlagen vorbei, kann man ein ungewöhnliches Leuchten bemerken.Da kommen einem gleich die Schreckensgeschichten von der Stepnogorer Urananreicherung und der Entwicklung biologischer Waffen, die einst in diesem Gebiet durchgeführt wurden, in den Sinn.
Aber es ist ganz einfach nur ein Treibhaus, in dem man Gemüse und Salat zieht.
Text und Bilder
Renat Taschkinbajew und Turar Kasangapow
Tengrinews.kz
Aus dem Russischen von Robin Roth