Gletscher in Zentralasien schmelzen schneller als im globalen Durchschnitt. Die Bildung instabiler Gletscherseen gefährdet ganze Dörfer. Fachleute betonen die Bedeutung von Frühwarnsystemen und der Sensibilisierung der Bevölkerung.
Die Gletscher in Zentralasien schmelzen schneller als im weltweiten Durchschnitt. Die Mulden, in denen sich die Gletscher befinden, füllen sich mit Schmelzwasser. Dadurch entsteht ein Gletschersee. Solche Gewässer bilden sich auch hinter natürlichen Dämmen – sogenannten Moränen. Diese lockeren Barrieren bestehen aus Steinen und Erde, die vom Gletscher zurückgelassen wurden oder aus Eis selbst. Moränen sind instabil und leicht zu zerstören. Mit dem Abschmelzen des Gletschers und dem Anstieg des Wasservolumens im See nimmt der Druck auf den Damm zu, wodurch Risse entstehen.
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Wenn sie brechen, verursachen Gletscherseen Überschwemmungen und Schlammlawinen. Diese Ströme haben eine enorme zerstörerische Kraft. Sie bedrohen Menschenleben, Infrastruktur und Wirtschaft und können sich über Hunderte von Kilometern ausbreiten. Die begrenzten Möglichkeiten zur Überwachung des Volumens und die große Anzahl potenziell gefährdeter Gebiete machen Überschwemmungen durch den Bruch von Gletscherseen in Zentralasien (Glacial Lake Outburst Flood Central Asia, GLOFCA) zu einer der größten klimatischen Bedrohungen in der Region.
Nach Schätzungen von Forschenden, die in der Zeitschrift Nature Communications veröffentlicht wurden, leben etwa eine Million Menschen in den Hochgebirgsregionen Asiens innerhalb von zehn Kilometern Entfernung von gefährlichen Gletscherseen und befinden sich in der Gefahrenzone für Überschwemmungen.
Instabile Gletscher in Kirgistan und Tadschikistan
Allein in der Kirgisischen Republik sind heute fast 2.000 Gletscherseen bekannt, von denen 368 als potenziell gefährlich gelten. Unter strenger Kontrolle des Ministeriums für Notfälle stehen 65 Seen, die zur Kategorie I und II der Bruchgefahr gehören.
Die Risiken sind nicht fiktiv: Am 27. Juni 2024 brach in der Kirgisischen Republik der Bergsee Takyr-Tor, wodurch 950 Menschen evakuiert werden mussten.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Laut Kamolidini Nazirzoda, stellvertretender Leiter des Zentrums für Glaziologie vom Amt für Hydrometeorologie des Komitees für Umweltschutz der Republik Tadschikistan, ist der Gletscher Said Nafisi (früher Baralmos) in den letzten Jahren extrem instabil geworden. Auf seiner Oberfläche bilden sich Seen unterschiedlicher Größe. In der warmen Jahreszeit brechen sie teilweise durch. Allein in den letzten fünf Jahren wurden 23 solcher Fälle registriert.
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Drei große Durchbrüche ereigneten sich im vergangenen Sommer am 14. und 22. Juli sowie am 10. August. Jeder Bruch ging mit Schlammströmen, Staus im Flussbett des Surchob und Schäden an der internationalen Straße Wachdat-Rascht-Ljachscht an der Grenze zur Kirgisischen Republik einher. Wiederherstellungsarbeiten konnten erst nach zehn bis fünfzehn Tagen beginnen, da die Gesteinsformationen wassergesättigt und instabil blieben.
In der Republik Tadschikistan wurden allein vom 3. bis 26. Mai 2024 256 Naturkatastrophen registriert, die Schäden in Höhe von mehr als 80 Millionen Somoni (7,4 Mio. Euro) verursacht haben. Insgesamt ereigneten sich im Laufe eines Jahres 532 Vorfälle, bei denen 164 Wohnhäuser, sechs Schulen und Kindergärten, etwa 300 Kilometer Straßen und 66 Brücken zerstört wurden.
Bevölkerung sensibilisieren und informieren
Die Bewohner:innen von Bergregionen wissen oft gar nicht, dass an ihren Wohnorten ein hohes Risiko für Murgänge und Gletscherseeausbrüche besteht, stellten Fachleute fest. Viele schenken den SMS-Warnungen des Katastrophenschutzministeriums keine Beachtung und riskieren damit ihr Leben. Im Notfall kennen die Menschen nicht immer die Evakuierungswege. Fehlende Informationen führten sogar dazu, dass Anwohner:innen speziell angelegte Kanäle zur Ableitung von Wasser zerstörten.
In jedem Land arbeitet das GLOFCA-Projekt direkt mit den zuständigen Behörden zusammen. In der Republik Usbekistan sind dies das Central Asian Scientific Research Institute of Hydrometeorology (NIGMI) und das Ministerium für Ökologie, Umweltschutz und Klimawandel.
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Diana Aripchanova, Koordinatorin des GLOFCA-Projekts, betonte: „Es ist wichtig, direkt mit den Gemeinden zusammenzuarbeiten. Dazu führen wir Umfragen und Befragungen durch, um den Wissensstand der Bewohner:innen von Bergregionen zu ermitteln.“ Dabei sei es auch wesentlich, das Wissen der Einheimischen zu berücksichtigen: „Wir haben erfahren, dass die Einheimischen bei Schlammlawinen traditionell höher in die Berge flüchten. Dieses Wissen nutzen wir bei Schulungen und Evakuierungsrouten.“
Überwachung und Anpassung
Iskandar Abdullaev, leitender Forschender am Internationalen Institut für Wassermanagement, erklärte: „Information ist heute eine der wichtigsten Ressourcen der ländlichen Bevölkerung“. Während früher vor allem Technik und Mineraldünger gefragt waren, benötigen Bäuer:innen in Kasachstan heute vor allem Wettervorhersagen und Kenntnisse über die sich verändernde Situation auf den Feldern.
Die Gletscherseen Zentralasiens seien kleiner als im Himalaya oder in den Anden, dafür aber dynamischer. Sie entstehen und vergrößern sich schnell, was die Überwachung erschwert. „Heute ist der See noch da, morgen kann er verschwunden sein. Oder er nimmt schnell an Volumen zu und wir wissen nicht, welches Risiko genau besteht“, sagte Abdullaev.
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In der Kirgisischen Republik entstand innerhalb eines Jahres der Akpai-See mit einem Volumen von 300.000 Kubikmetern Wasser – das entspricht 120 olympischen Schwimmbecken. Dank vorläufiger Untersuchungen erkannten die Behörden das Risiko und begrenzten den Zugang für Tourist:innen. Als es zum Durchbruch kam, wurde die Infrastruktur beschädigt, es gab jedoch keine menschlichen Opfer.
Zudem richten die Länder Frühwarnsysteme ein: Messgeräte und Sensoren übertragen Daten direkt an den Hydrometeorologischen Dienst, von wo sie ans Katastrophenschutzministerium weitergeleitet werden. Die Mitarbeitenden vor Ort entscheiden, ob eine Gefahr für Menschen besteht.
Regionale Koordination entscheidend
Abdullaev betont, dass eine koordinierte regionale Zusammenarbeit notwendig ist. Eine Studie des Regionalen Umweltzentrums für Zentralasien aus dem Jahr 2017 zeigte, dass durch Kooperation in Wasser- und Umweltfragen jährlich mehr als vier Milliarden US-Dollar (3,5 Mrd. Euro) eingespart werden könnten.
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Diana Aripkhanova fügte hinzu: „Die größten Risiken bestehen in Grenzgebieten. Der Datenaustausch und eine einheitliche Überwachungsdatenbank können die Sicherheit erheblich verbessern und Leben retten.“
Sabina Davletmypadova für gazeta
Aus dem Russischen von Margaret Bullich
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