Ein Beschluss des kirgisischen Verfassungsgerichts hebt Matronyme auf die gleiche Ebene wie Patronyme. Diese Entscheidung wird breit in der Öffentlichkeit diskutiert. Präsident Sadyr Dschaparow sieht einen Angriff auf nationale Werte.
Es ist ein Gerichtsentscheid, der zu breiten Debatten führt. Am 30. Juni hat Kirgistans Verfassungsgericht ein vorangegangenes Urteil des Obersten Gerichtshofs aufgehoben und den volljährigen Bürger:innen des Landes erlaubt, ein Matronym – also einen zweiten Namen, der sich vom Vornamen der Mutter ableitet – zu tragen. Bisher waren vom Vater abgeleitete Patronyme obligatorisch – eine Tradition, die aus Russland übernommen wurde.
Das Urteil steht am Ende eines zweijährigen Gerichtsverfahrens, das die Aktivistin Altyn Kapalova geführt hatte, damit ihre drei Kinder Matronyme tragen dürfen. Das tadschikische Nachrichtenportal Asia-Plus berichtet, dass deren Patronyme annulliert werden, da der Vater nicht mehr in der Familie präsent sei und auch keine Alimente zahle. Kapalovas Kinder tragen nun die Matronyme Altynovna (für Mädchen) beziehungsweise Altynowitsch (für Jungen).
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Laut Asia-Plus wurde das Urteil als ein Vorstoß für die Rechte der Frauen begrüßt. In der kirgisischen Gesellschaft spielen patriarchische Strukturen und konservative Traditionen nach wie vor eine wichtige Rolle.
Ein Gesetzentwurf, um das Urteil zu annullieren
Nach Ansicht des Verfassungsgerichts soll diese Maßnahme ein Mittel sein, um Kinder, insbesondere Mädchen, vor Belästigung aufgrund ihres Vornamens zu schützen. Ein kirgisischer Brauch besteht beispielsweise darin, Mädchen Vornamen wie „Fehler“ oder „Stopp“ zu geben, um die Geburt eines Jungen während der nächsten Schwangerschaft anzuregen, erläutert The Diplomat.
Doch das Urteil stieß auf Missfallen in Regierungskreisen. Kamtschybek Taschijew, Chef des Geheimdienstes GKNB, empörte sich auf Facebook: „Nein zu Matrononymen“. Am 17. Juli schlug Kirgistans Präsident Sadyr Dschaparow sogar vor, ein Gesetz zu verabschieden, das es ihm erlauben würde, Entscheidungen des Verfassungsgerichts aufzuheben, wenn diese im Widerspruch zu den „moralischen und ethischen Werten“ des Landes stehen würden.
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Derzeit ist das Verfassungsgericht die letzte Berufungsinstanz und seine Entscheidungen gelten als endgültig. Laut Eurasianet dürfte der Gesetzentwurf des Präsidenten aber nicht auf Widerstand stoßen. Almasbek Moldobajew, Vertreter des Präsidenten beim Verfassungsgericht, sieht in Dschaparows Vorschlag ein wirksames Mittel gegen potenzielle Justizfehler.
Der Gesetzentwurf stößt unter Jurist:innen aber auf heftige Kritik, die darin einen Angriff auf den Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz sehen. Tattuububu Ergeschbajewa, Direktorin von Tandem, einer Organisation von Rechtsanwälten, weist darauf hin, dass nur der Oberste Gerichtshof – und nicht der Präsident – befugt sei, die Arbeitsweise des Verfassungsgerichts zu ändern. „Der Vorschlag der Präsidialverwaltung […] muss als Machtmissbrauch des Präsidenten und als Verletzung verfassungsmäßiger Rechte angesehen werden“, schrieb sie auf Facebook.
Der Oppositionspolitiker Dastan Bekeschew befürchtet eine Schwächung des Verfassungsgerichts. „Wenige Menschen sind sich darüber im Klaren, dass ihr Recht, beim Verfassungsgericht Berufung einzulegen, keine Bedeutung mehr haben wird“, beklagt der Abgeordnete.
Ein populistisches Mittel
Eurasianet hebt hervor, dass Dschaparow bereits versucht habe, seine Macht über das Gericht durchzusetzen. Früher konnte der Präsident seines Amtes enthoben werden, wenn ihm vom Parlament und der Staatsanwaltschaft eine Straftat vorgeworfen wurde. Seit der letzten Verfassungsänderung muss das Verfassungsgericht auch die Berechtigung aller Vorwürfe gegen den Präsidenten bestätigen.
Das Media Policy Institute, einer NGO mit Sitz in Bischkek, sieht in Dschaparows Vorstoß eine populistische Maßnahme, um eine traditionalistische Wählerschaft zu beruhigen. Diese habe bereits die Verfassung geändert, um jegliche Inhalte zu verbieten, die als Angriff auf die Werte und Traditionen Kirgistans wahrgenommen werden. In einer Pressemitteilung kritisiert die NGO die mediale Aufregung um Matronyme und erinnert daran, dass es für Erwachsene bereits legal sei, den Namen zu ändern, indem sie ihren Nachnamen aufgeben.
Paternalismus wurzelt in kirgisischen Bräuchen
Das Urteil vom 30. Juni löste in Kirgistan eine heftige öffentliche Debatte aus. Altyn Kapalova habe zahlreiche Hassbotschaften von Anhängern des kirgisischen Präsidenten erhalten oder einfach von Menschen, die darin einen Angriff auf die Grundlagen der kirgisischen Gesellschaft empfinden, erklärt sie gegenüber The Diplomat. „Für die meisten Menschen sind Matronyme beängstigender als die Möglichkeit, das Verfassungsgericht zu verdrehen“, erklärte Dastan Bekeschew am 17. Juli via Telegram.
Der Dscheti-Ata genannte Brauch, die Namen der Vorfahren in sieben Generationen zu rezitieren, ohne dabei die Frauen in der Familie zu erwähnen, sei nur ein Beispiel dafür, wie der Paternalismus in der kirgisischen Tradition verankert sei, fügt The Diplomat hinzu.
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Sulaiho Usmonowa, Forscherin an der Nationalen Akademie der Wissenschaften Tadschikistans, betont, dass die kirgisische Gesellschaft sehr an mit dem Vater verbundenen Symbolen hängt und diejenigen stigmatisieren kann, die keine Vaterfigur haben. Es bestehe „die Möglichkeit von Mobbing in der Schule, wenn das Kind den Namen der Mutter als Patronym trägt. Nicht nur Klassenkameraden können sich darüber lustig machen, sondern auch einige Lehrer“, erklärte sie gegenüber Asia-Plus.
Die nicht ganz so alte Tradition der Patronyme
Aus diesem Grund ist die Reaktion der Frauen auf dieses Urteil gemischt. Laut Asia-Plus empfanden einige das Urteil als natürlich und unerlässlich. Andere sind der Meinung, dass Matronyme noch stärker hervorheben, dass bestimmte Kinder keinen Vater haben, und dass sie deswegen stigmatisiert werden würden.
Allerdings ist die Tradition der Patronyme relativ neu, da das dreiteilige Namenssystem aus Vorname, Patronym und Nachname in Kirgistan erst zu Beginn der Sowjetzeit eingeführt wurde. Die Praxis der Patronyme ist dabei sowohl administrativ als auch kulturell bedingt. Nach Angaben von Radio Free Europe nahmen im Jahr 2014 36.000 Kirgis:innen russisch klingende Nachnamen an, um ihre Integration im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration zu erleichtern.
Romane Haquette, Journalistin für Novastan
Aus dem Französischen von Robin Roth
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