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Der Kurultaj: Kirgistans „Parlament“ aus der Zeit von Dschingis Khan

In Kirgistan hat am 25. November 2022 der erste reguläre Volks-Kurultaj stattgefunden. Präsident Sadyr Dschaparow hatte ihn per Dekret eingeführt, obwohl das Parlament dies zuvor abgelehnt hatte. Kloop hat sich mit den Argumenten der Befürworter und Gegnerinnen auseinandergesetzt.

Sadyr Dschaparow
Sadyr Dschaparow bei einem Treffen mit Aksakals im Oktober 2022 (Pressedienst des Präsidenten der kirgisischen Republik)

In Kirgistan hat am 25. November 2022 der erste reguläre Volks-Kurultaj stattgefunden. Präsident Sadyr Dschaparow hatte ihn per Dekret eingeführt, obwohl das Parlament dies zuvor abgelehnt hatte. Kloop hat sich mit den Argumenten der Befürworter und Gegnerinnen auseinandergesetzt.

Der Kurultaj, das nationale Parlament der Turk- und Mongolenvölker, wird in der Geschichte mindestens seit Dschingis Khan erwähnt. Die Oberhäupter von Stämmen, Clans und Adel aus verschiedenen Teilen des Landes diskutierten auf dem Kurultaj wichtige außen- und innenpolitische Fragen. Sogar 1842 wählten noch mehrere kirgisische Stämme auf dem Kurultaj ihren Khan.

Ein Parlament nach europäischem Vorbild wurde in Kirgistan 1938 eingerichtet, als der Rat der Arbeiter- und Bauerndeputierten zum obersten gesetzgebenden Organ wurde. Von da an bis 1994 fungierte der Oberste Sowjet der Kirgisischen SSR als Parlament. Seit Mai 1993, nach Verabschiedung der neuen Verfassung, ist die gesetzgebende Körperschaft als Dschogorku Kengesch bekannt. Während der Sowjetzeit gab es also keine Kurultajs.

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Kirgistans Präsident Sadyr Dschaparow setzte den Volks-Kurultaj durch, obwohl befürchtet wurde, dass das neue, ständige Vertretungsorgan das Parlament ersetzen würde. Dieses wurde bereits eines Großteils seiner Befugnisse beraubt. Nach Ansicht der Befürworter:innen werde der Kurultaj die Beziehungen zwischen Regierung und Volk stärken. Analyst:innen bezweifeln jedoch, dass die Stimme des Volkes gehört werden wird. Der Kurultaj übernehme die Funktionen der bestehenden Gremien und könnte die Macht des Präsidenten weiter stärken.

Wie Regierung und Opposition sich der Kurultajs bedienten

Nach der Erklärung der Unabhängigkeit Kirgistans wurden die Kurultajs wieder aufgenommen. Sie dienten im Wesentlichen dazu, die Unterstützung der Regierung oder der Opposition durch die Massen zu demonstrieren. Der erste „Kurultaj der Kirgisen“ wurde 1992 unter Askar Akajeweinberufen, der des kirgisischen Volkes folgte zwei Jahre später. Die Kurultajs sollten sich mit Fragen der „Stärkung der interethnischen Harmonie und Freundschaft zwischen den Völkern der Kirgisischen Republik“ auseinandersetzen. Dies war eine Art Reaktion auf die Zusammenstöße zwischen Kirgisen und Usbeken in Osch im Jahr 1990.

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Der nächste Kurultaj unter dem Motto „Kirgisische Staatlichkeit: Frieden und Stabilität“ fand im Jahr 2003 statt, als die Macht Akajews wankte. Doch auch Oppositionspolitiker hielten Kurultajs ab. Am 16. November 2002 sollte über die Rechtmäßigkeit des Referendums zur Verlängerung der Amtszeit Akajews sowie den Prozess gegen die beim Massaker von Aksy Beschuldigten diskutiert werden. Der Kurultaj wurde jedoch von den Behörden gestört. Wenige Tage vor dem Sturz Akajews 2005 veranstaltete die Opposition erfolgreich einen Kurultaj in Osch, bei dem die Demonstrant:innen die Regionalverwaltung in ihre Gewalt brachten.

Danach übernahm Kurmanbek Bakijew, der auf dem Kurultaj sprach, das Amt des Staatspräsidenten. Im Jahr 2010 wurde hingegen ein Kurultaj der Opposition gegen Bakijew abgehalten. Die Opposition gab ihm eine Woche Zeit, die politische Unterdrückung zu beenden und dem Druck auf die Meinungs- und Medienfreiheit ein Ende zu setzen. Die Polizei versuchte, die Veranstaltung zu stören, aber in der Stadt Talas bewarfen Demonstrierende sie mit Steinen, nahmen den Innenminister fest und brannten das Gebäude der Regionalverwaltung nieder.

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Bakijew versuchte, sich durch einen „Kurultaj der Eintracht“, der zu einem „Meinungsaustausch zwischen der Regierung und dem Volk“ stattfand, an der Macht zu halten.Wie üblich unterstützten ihn die Delegierten. Doch die Bevölkerung ihrerseits tat dies nicht. Im April wurde Bakijew trotz der Verhaftung von führenden Oppositionellen und der Erschießung von Demonstrierenden in Bischkek gestürzt und floh später aus dem Land.

Der letzte Kurultaj der Opposition fand am 15. Oktober 2022 am Ufer des Kempir-Abad-Stausees statt. Die Bürger:innen forderten die Behörden auf, sich mit der Bevölkerung über eine Übergabe des Stausees an Usbekistan zu einigen. Schon bald wurden einige Kurultaj-Teilnehmende festgenommen, weil sie der Veranstaltung von Massenunruhen beschuldigt wurden.

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Bis dahin waren die Kurultajs nicht gesetzlich festgelegt. Dschaparow war der erste kirgisische Staatschef, der sie zu einer ständigen Einrichtung machte. Nachdem er die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, änderte er die Verfassung, weitete seine eigenen Befugnisse stark aus und ließ den Volks-Kurultaj in die Verfassung integrieren.

„Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, muss sich der Dschogorku Kenesch auflösen“

Der Verfassung gemäß ist der Volks-Kurultaj eine öffentlich-repräsentative Versammlung mit beratenden sowie überwachenden Befugnissen und gibt Empfehlungen zur öffentlichen Entwicklung ab. Diese sind für die Exekutive nicht bindend: Der Präsident entscheidet, welche Empfehlungen umgesetzt werden und welche nicht.

Das Gesetz wurde im März 2022 zur öffentlichen Diskussion gestellt. Dabei kritisierten sowohl Experten– als auch Abgeordnete, dass der Volks-Kurultaj im Grunde zu einem zweiten Parlament, werde – mit noch unklareren Befugnissen.

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Das Verfassungsgesetz über den Volks-Kurultaj wurde nicht einmal vom Dschogorku Kenesch verabschiedet; die Abgeordneten lehnten es am 17. Mai 2022 ab. Die Exekutive vertagte die Prüfung des Gesetzentwurfs allerdings auf die nächste Ausschusssitzung. Seither hat sich das Parlament nicht mehr damit befasst.

Kurultaj als Ersatz für Pressekonferenzen?

Zwar versichern Dschaparow und die Befürworter:innen des Volks-Kurultaj, dass nichts den Dschogorku Kenesch ersetzen werde. Stattdessen sollen die Kurultajs gemäß Aussage des Präsidenten „über seine Arbeit berichten“, da in der Vergangenheit Anfragen von journalistischer Seite sich oft auf „Gerüchte“ bezogen hätten.

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Auch Medet Tjulegenow meint, die Regierung versuche nicht, das Parlament zu ersetzen. Stattdessen passe „der Dschogorku Kenesch in seiner jetzigen Form zum Präsidenten. Er ist recht zahm und geschmeidig und beeinträchtigt die Politik des Präsidenten nicht“, sagt der Politikwissenschaftler. Nichtsdestotrotz bleiben die Kurultajs ein zusätzliches Legitimationsinstrument für die Regierung. Die Präsidenten haben sie benutzt, um den Eindruck von Massenunterstützung zu erwecken, wenn diese nicht vorhanden war.

„In der Präsidialverwaltung gibt es keine Dummköpfe“

Obwohl das Verfassungsgesetz über den Volks-Kurultaj von den Abgeordneten nicht verabschiedet wurde, berief Dschaparow ihn doch ein. Zu diesem Zweck erließ er ein Dekret „Über die Einberufung des Volks-Kurultaj“, das auf den 25. November 2022 festgelegt wurde.

Mit dem Präsidialdekret wurde auch die „Vorläufige Verordnung über den Volks-Kurultaj“ genehmigt. Von juristischer Seite wird die Einberufung des Kurultaj als rechtswidrig erklärt, da das Staatsoberhaupt seine Befugnisse überschreite und das Verfassungsgesetz umgeht. Die Präsidialverwaltung hingegen besteht auf die Rechtmäßigkeit, da das Staatsoberhaupt seine Autorität durch Dekrete und Anordnungen ausübe, die „zwingend auszuführen“ seien.

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Das bisher letzte Argument in diesem Streit sind die Worte des Präsidentenberaters Tscholponbek Abykejew. Im Gespräch mit Radio Azattyk entgegnete er der Behauptung, die Einberufung des Volks-Kurultaj sei illegal, da in der Präsidialverwaltung „sehr kompetente Jurist:innen mit großer Erfahrung“ arbeiteten.

Wird Bischkek auf die Bevölkerung der Regionen hören?

Am 5. November fanden in im ganzen Land Kurultajs in lokalen Gemeinschaften, in den Städten Bischkek und Osch sowie unter Arbeitsmigrant:innen im Ausland statt. Das Pressebüro des Präsidenten teilte mit, dass „die Delegierten der lokalen Kurultajs in einer Volksabstimmung die Delegierten für den ersten Volks-Kurultaj wählten. Wichtige Themen zur Entwicklung des Landes und seiner Regionen wurden auf dem Volks-Kurultaj diskutiert.“

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Nach Angaben der Behörden werde der Volks-Kurultaj ein Treffpunkt für alle Kirgis:innen sein, ohne dass jemandes Meinung nicht vertreten werde. Abykejew meint: „Einmal im Jahr die Meinung des Volkes zu hören, wird die Beziehungen zwischen Volk und Regierung stärken. In Bischkek sitzen etwa 100 Politiker im Dschogorku Kenesch und streiten miteinander. Aber welche Anliegen haben die Menschen in Kirgistan? Denen schenkten wir bisher keine Aufmerksamkeit. Der Kurultaj soll dies ändern.“

„Sie werden die Regierung loben und sich zerstreuen“

Es werden jedoch auch Zweifel an der Wirksamkeit der Volks-Kurultaj geäußert. „Stellen wir uns vor, der Kurultaj dauert zwei aufeinanderfolgende Tage und zehn Stunden. Wenn jederDelegierte zwei Minuten Zeit hat, werden 600 Delegierte das Wort ergreifen. Aber das wird nicht passieren, oder? Von tausend Delegierten werden höchstens 150 das Wort ergreifen, und längst nicht alle übrigen würden zuhören. Der Dialog mit der Gesellschaft ist notwendig, aber es gibt auch andere, effektivere Wege“, meint der Abgeordnete Dastan Bekeschew. Stattdessen schlagen Expert:innen vor, dass der Präsident Fragen aus der Bevölkerung live im Fernsehen oder über soziale Medien beantworten solle. Der Volks-Kurultaj diene laut Tjulegenow wohl vor allem der Legitimation des Präsidenten, um gegenüber der Bevölkerung Rechenschaft abzulegen: „Eine einfache Botschaft an die Bevölkerung wäre zu förmlich, zu trocken und nicht sehr klar. Mit einem Kurultaj kann man eine große Show abziehen.“

Die Redaktion von Kloop

Aus dem Russischen (gekürzt) von Michèle Häfliger

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