In der Weltrangliste der Qualität des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts liegt Tadschikistan auf Platz 74 von 137 Ländern. Das Land rangiert damit zwischen Jamaika und Madagaskar. Der folgende Artikel erschien am 14. März 2021 auf Radio Ozodi. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.Dasvom Weltwirtschaftsforum erstellte Ranking “Quality of math and science education” erfasst die Qualität des Unterrichts in Mathematik und Naturwissenschaften als Teil der wirtschaftlichen Stärke eines Landes. Tadschikische Wissenschaftler sind der Auffassung, dass der Rückgang der mathematischen Bildung auf das Niveau eines afrikanischen Landes besorgniserregend ist und der Zukunft der tadschikischen Wirtschaft schaden könnte.
„Sie kennen nicht Mal einen einzigen Vierzeiler, aber…“
Scharif Rahimsoda, Leiter des Instituts für Wirtschaft und Demografie der Tadschikischen Akademie der Wissenschaften, sagte vor einiger Zeit in einem Gespräch mit Radio Ozodi, dass Tadschikistan sich stärker auf die Naturwissenschaften konzentrieren müsse.Lest auch auf Novastan: Corona-Pandemie bringt Probleme in Kasachstans Bildungswesen ans LichtAls er Abgeordneter war, erklärte er 2018 am Rande einer Parlamentssitzung in Duschanbe, dass Länder, die sich auf Naturwissenschaften spezialisieren, erfolgreich sind. „Ich habe fünf Jahre lang in Mitteleuropa gelebt. Die Menschen dort kennen nicht mal einen einzigen Vierzeiler, nicht eine einzige Zeile. Und wir beginnen unsere Rede mit einem Gedicht. Sie sind vorausgegangen, und wir sind zurückgeblieben. Man sollte schon von früh an versuchen, den Kindern neben Poesie auch Mathematik, Biologie und Chemie beizubringen. Wir dürfen nicht einzelne Wissenszweige auf Kosten von anderen entwickeln“, sagte Rahimsoda damals.
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In der Zwischenzeit hat die tadschikische Regierung die Jahre 2020-2040 zu den „Zwanzig Jahren des Studiums und der Entwicklung von Naturwissenschaften und Mathematik“ erklärt. Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass die Ankündigung einer solchen Kampagne an sich nicht zu wesentlichen Fortschritten führen wird.
„Drei Prozent der Studierenden sind an dem Fach interessiert, der Rest sind nur Zuschauer“
Mamadscho Ilolow, ehemaliger Präsident der Akademie der Wissenschaften, lehrt jetzt an der Tadschikischen Nationalen Universität. Er zeigt sich erfreut über die Ankündigung, „aber die Ankündigung allein wird nicht alles lösen.“Er ist der Meinung, dass das Niveau der Fachkenntnisse der Bewerber viel geringer ist als in den vergangenen Jahren. „Einer der Gründe dafür ist, dass es nur noch sehr wenige professionelle Lehrer an den Schulen gibt. Da es schwierig geworden ist, in der Schule zu arbeiten und die Lehrer nicht angemessen bezahlt werden, unterrichten zumeist Hochschulabsolventen und Pädagogen . Die meisten von ihnen habe keine guten pädagogischen Kenntnisse, weshalb die Schüler die Schule mit schlechten Mathematikkenntnissen abschließen„, erklärt Ilolow.Darüber hinaus erklärt der Mathematiker, dass es für die Dozenten schwierig ist, die Defizite der Studenten auszugleichen, wenn sie mit so geringen Mathematikkenntnissen an die Universität kommen. Der Lehrplan habe ein völlig anderes Niveau. „Unter den Studenten, die ich unterrichte, verfügen 3 bis 5 Prozent über gute Kenntnisse und wir arbeiten mit ihnen. Die anderen sind Zuschauer, die den Lernstoff überhaupt nicht verarbeiten können„, fügt er hinzu.Ilolow meint außerdem, dass die heutigen Bewerber im Gegensatz zu seiner Jugend wenig Interesse an Wissenschaften wie Mathematik, Chemie und Physik haben und sich meist bloß in diese Fächer einschreiben, um den Wehrdienst zu vermeiden. „In unserer Zeit wäre jemand, der die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen hat, in eine Abteilung für Mechanik und Mathematik oder Chemie gegangen. Aber jetzt will jeder entweder Anwalt oder Wirtschaftswissenschaftler werden. Die Eltern glauben, dass ihre Kinder auf diese Weise reich werden können. Ich verstehe schon, wie…“, fügt er lachend hinzu.
Der tadschikische Mathematiker fordert, dass die Zahl der Unterrichtsstunden in den Naturwissenschaften, einschließlich Mathematik, in den weiterführenden Schulen und Universitäten erhöht werden sollte, um die Mathematikkenntnisse zu verbessern und „zumindest das Niveau der Schüler aus der Sowjetzeit zu erreichen“.
Kein Interesse an Naturwissenschaften?
In Tadschikistan sagt man, dass die Tadschiken von je her ein „lyrisches“ Volk seien und wenig Interesse an Naturwissenschaften und Mathematik haben. Befürworter dieser Ansicht argumentieren, dass ein Blick in ein Physik-, Chemie- oder Mathematiklehrbuch ausreicht, um festzustellen, dass es in den Naturwissenschaften keine Formeln, Theoreme oder Entdeckungen gibt, die nach einem tadschikischen Wissenschaftler benannt sind.Lest auch auf Novastan: Streit der Zahlen – der erste kirgisische ZeichentrickfilmDer Psychologe Rasijullo Atachanow hat zusammen mit dem tadschikischen Mathematiker Mahmadschon Machkamow das Buch „Geschichte der Mathematik: Lösungen für komplexe Gleichungen“ verfasst. Er sagt, der Beitrag persischer und tadschikischer Wissenschaftler zur Entwicklung der Mathematik sei enorm.Er erwähnte insbesondere Omar Chayyams Beitrag zur Lösung komplexer Gleichungen seiner Zeit: „Dies wird besonders deutlich in Omar Chayyams Werk „Abhandlung über Probleme der Algebra“, das um 1070-1074 geschrieben wurde. Es zeigt Methoden zum Finden positiver Wurzeln von 14 Arten kubischer Gleichungen mit positiven Koeffizienten.“Atachanow fügte hinzu, dass „später, im 15. Jahrhundert, italienische Kaufleute, die damals sehr aktiv geforscht haben, die meisten wissenschaftlichen Werke persischer, tadschikischer, chinesischer und aserbaidschanischer Wissenschaftler in ihr Heimatland brachten. Infolgedessen hatten italienische Wissenschaftler Zugang zu den Entdeckungen der Menschen aus dem Osten, was dazu führte, dass viele Theoreme im Namen italienischer Wissenschaftler niedergeschrieben wurden“.Die UNESCO, die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur, begeht den 14. März als Internationalen Tag der Mathematik. In einer Erklärung zu diesem Anlass verkündet die Organisation, dass der Mathematikunterricht für die Entwicklung und den Wohlstand der Länder von entscheidender Bedeutung ist. Die UNESCO behauptet, dass mathematische Kenntnisse der Schlüssel zur Entwicklung der „künstlichen Intelligenz“ sind, welche die Grundlage für die Entwicklung der Länder im neuen Jahrhundert bilden soll. Laut dem UN-Bildungsindex belegte Tadschikistan im Jahr 2020 Platz 96 von 189 Ländern.
Abdullo Aschurow für Radio Ozodi
Aus dem Russischen von Amina Akhrorkulova
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