Im Juni 2019 wurde Qasym-Jomart Toqaev als erster Nachfolger des ersten Präsidenten Kasachstans ins Amt gewählt. Die kasachische Onlinezeitung Vlast zieht in einem am 9. Juni erschienenen Artikel die Bilanz des ersten Jahres seiner Präsidentschaft. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Vor genau einem Jahr fand in Kasachstan eine Präsidentschaftswahl statt. Es waren die ersten in der jüngeren Geschichte des Landes ohne Kandidatur von Langzeitpräsident Nursultan Nazarbaev, der zweieinhalb Monate zuvor von seinem Amt zurückgetreten war. Stattdessen ging der als Interimspräsident amtierende Qasym-Jomart Toqaev als Wahlsieger hervor.
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Toqaevs erstes Jahr als Präsident war geprägt von umwälzenden Ereignissen, welche das Alltagsleben einer Mehrheit der BürgerInnen des Landes stark beeinflussten, von Reformversprechen, die nicht so weitreichend waren, wie viele es sich gewünscht hätten, sowie von der Frage der Doppelherrschaft Kasachstans, die Irritationen hervorrief und nie ganz von der Tagesordnung verschwand.
„Der Reformer“
Kurz nach seiner Wahl bezeichnete sich Toqaev in einem Interview mit dem amerikanischen The Wall Street Journal als Reformer. Er betonte während seiner Präsidentschaft zwar mehrfach die „Notwendigkeit, die Kontinuität des Kurses [von Vorgänger Nazarbaev] zu wahren„, bestand aber gleichzeitig auf die Einführung von politischen Reformen.
Nach den letztjährigen Frühjahrsprotesten bestand Toqaevs erster Schritt in der Schaffung eines Nationalen Rates für öffentliches Vertrauen – ein Beratungsgremium, in welchem die Umrisse von politischen Reformen erörtert, Vorschläge entwickelt und Antworten auf neue gesellschaftliche Fragen gesucht werden sollen. In den ersten Sitzungen des Rates skizzierte Toqaev die wichtigsten Parameter der geplanten Reformen. Die präsentierten Vorschläge ließen auf Anhieb Radikalität vermissen. Als Gesetze hatten sie lediglich den Charakter kosmetischer Veränderungen.
So ist die Schaffung der „Institution der parlamentarischen Opposition“ nur ein Spiegelbild von bereits existierenden Gesetzen, gemäß denen im Parlament mehr als eine Partei vertreten sein kann und die zweite Partei über Stimmrecht verfügen muss.
Anlass zu mehr Skepsis gab ein neues Gesetz zur Organisation von friedlichen Versammlungen. Die Reform, wonach Demonstrationen nicht mehr beantragt, sondern lediglich angekündigt werden müssen, erwies sich als einschränkend: Die für friedliche Versammlungen in Städten zur Verfügung stehenden Plätze, als auch die Zahl der Teilnehmenden, bleiben begrenzt. Selbst die Ankündigungspflicht gleicht de facto einem Antrag, wobei die Stadtverwaltungen über ausreichend Spielraum verfügen, friedliche Versammlungen zu untersagen.
Politisch hat sich seit der letzten Präsidentschaftswahl kaum etwas verändert. Es wurde keine einzige neue politische Partei registriert. Die von Oppositionsaktivist Janbolat Mamaı im Oktober 2019 gegründete Demokratische Partei konnte ihren ersten Parteikongress aufgrund von landesweiten Verhaftungen von Parteianhänger nicht abhalten. Die übrigen Parteien schafften es nicht einmal, die erste Verfahrensrunde im Registrierungsprozess zu durchlaufen. Die landesweite Sozialdemokratische Partei fand sich wenige Monate nach den Wahlen zersplittert und ohne Führungsspitze wieder.
Vor diesem Hintergrund ist es durchaus möglich, dass die Anfang des kommenden Jahres bevorstehenden Wahlen für den Májilis (untere Parlamentskammer) und regionale Parlamente ohne die Beteiligung neuer politischer Kräfte stattfinden werden. Demnach wird sich die parlamentarische Opposition aus denselben bereits in verschiedenen repräsentativen Gremien vertretenen Akteuren zusammensetzen. Diese folgen der Regierung deutlich mehr, als dass sie sich ihr widersetzen.
Auch die Anfang 2020 von Toqaev geforderten Wirtschaftsreformen haben aufgrund der Coronavirus-Epidemie, des Ölpreisverfalls und der dadurch ausgelösten Wirtschaftskrise noch keine konkrete Gestalt angenommen.
Zwar hat der Einsatz für Reformen die Rhetorik Toqaev über das ganze Jahr geprägt und wird es wohl auch für den Rest seiner Amtszeit tun. Wie tiefgreifend diese Reformen sein sollen und wie bereit das staatliche System ist, sie zu implementieren, ist jedoch eine andere Frage.
„Menschliche Reaktion“
Toqaev und seine Berater haben in der Wahlnacht wohl kaum vorhersehen können, welch ein schwieriges und ereignisreiches erstes Jahr ihnen bevorstand. Bereits am Wahltag und den darauffolgenden Tagen wurden während Protesten tausende Menschen festgenommen und Hunderte unter Arrest gestellt.
Zwei Wochen nach der Wahl kam es zu Explosionen in einem Munitionslager der Armee nahe der im Süden gelegenen Stadt Arys. Sieben Monate später stürzte in der Nähe von Almaty eine Passagiermaschine ab. Nach acht Monaten brachen Unruhen in Dörfern im Umland der Bezirkshauptstadt Qordaı aus und neun Monate später wurde als Reaktion auf die Corona-Epidemie zum ersten Mal im ganzen Land der Ausnahmezustand ausgerufen.
Über das gesamte Jahr war Kasachstan Schauplatz von Protesten verschiedener politischer und ziviler Gruppierungen. Diese forderten unter anderem die Freilassung von politischen Gefangenen, insbesondere von jenen, die lange vor der Präsidentschaft Toqaevs inhaftiert wurden.
Neu waren auch die Geschwindigkeit, Kanäle und Emotionen, mit denen Toqaev auf jedes dieser dramatischen Ereignisse reagierte: Auf Twitter kommentierte der Präsident die Ereignisse fast immer direkt und unmittelbar nachdem sie stattgefunden hatten. Dies ist eher untypisch für die kasachische Regierung, die sich in ihrer Suche nach Antworten auf dringende gesellschaftliche Fragen traditionell viel Zeit lässt.
Eine Ausnahme bildet der Tod des politischen Aktivisten Dulat Aǵadil, der im Februar dieses Jahres in der Untersuchungshaftanstalt verstarb und auf den Toqaev äußert spät reagierte. In einigen Fällen gab der Präsident rasch die offizielle Position wieder, in anderen traf er nach langer Zeit an den Orten des Geschehens ein. So fand er sich in Arys in der Nacht nach den Explosionen wieder, in den Dörfern von Qordaı aber erst drei Wochen nach den Unruhen.
Grundsätzlich riefen Toqaevs „menschliche Reaktion“ auf die Ereignisse und seine bezeichnende Anteilnahme Zuspruch in der Bevölkerung hervor, selbst unter Skeptikern, die diese zum früheren Verhalten der Staatsmacht kontrastieren.
Im Spätsommer vergangenen Jahres begnadigte Toqaev zwei Personen von einer Liste politischer Gefangener, die von Menschenrechtsaktivisten erstellt wurde. Eine Herausforderung für das System stellte ein Antrag auf Bewährung von Muhtar Jákishev dar. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende des staatlichen Uranbergbauunternehmens Kazatomprom saß seit 2010 wegen vermeintlicher Veruntreuung von Staatseigentum im Gefängnis. Der Antrag wurde kurz nach den Präsidentschaftswahlen verweigert, ehe er im März dieses Jahres angenommen wurde, womit Jákishev vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Im Vorfeld der Verhandlungen drückte Toqaev in einem Sonderinterview seine Hoffnung aus, dass in dem Fall eine „faire Entscheidung“ getroffen werde.
Trotz dieser vereinzelten Reformbestrebungen bleibt das in den fast dreißig Jahren seit der Unabhängigkeit Kasachstans geschaffene System sich selbst treu. Demonstranten werden weiterhin inhaftiert, sei es wegen Verbreitung falscher Informationen, oder, wie am Vorabend von Toqaevs einjährigem Wahljubiläum, die Aktivistin Ásiıa Tólesova für ihre Aktion „Man kann der Wahrheit nicht entkommen“, welche zum Leitmotiv der letztjährigen Frühjahresproteste avancierte.
Zwei Machtzentren
Dauernder Streitpunkt unter Politikwissenschaftlern ist die Diskussion über eine (anscheinende oder tatsächliche) Doppelherrschaft in Kasachstan. Das hat gute Gründe: Im Oktober wurde ein Gesetz unterzeichnet, welches dem Sicherheitsrat und dessen Vorsitzenden, Ex-Präsident Nazarbaev, erhebliche Mitspracherechte bei den Ernennungen von Personen in wichtige Staatsämter einräumt. Auch kommt es vor, dass der ehemalige und der derzeitige Präsident widersprüchliche Erklärungen abgeben. Letzten August etwa forderte Nazarbaev härtere Strafen in Fällen von Verleumdung, während Toqaev später vorschlug, den Tatbestand zu entkriminalisieren.
Zwar hat Nazarbaev im vergangenen Jahr die Öffentlichkeit nicht vollständig gemieden, doch seine öffentlichen Auftritte sind deutlich seltener geworden. Selbst im Anschluss an die zahlreichen, medienwirksamen Ereignisse des letzten Jahres fanden die Sitzungen des Sicherheitsrats stets mit offensichtlicher Verzögerung statt.
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Die beiden Präsidenten haben sich selbst bereits mehrfach zur Frage der Doppelherrschaft geäußert und stützten sich dabei auf die gleichen Argumente: Nazarbaev sicherte Toqaevs Agenda seine Unterstützung zu, während Toqaev auf die Notwendigkeit hinwies, den Kurs Nazarbaevs fortzusetzen.
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Als die Senatssprecherin Darıǵa Nazarbaeva Anfang Mai unerwartet und abrupt zurücktrat, wurden die Debatten über die Doppelherrschaft weiter befeuert. Nazarbaeva ist die älteste Tochter des ersten Präsidenten und wird als potenzielle Nachfolgerin von Toqaev gehandelt. Ihre Abwesenheit bei der Vorstellung ihres Nachfolgers und ihr vollständiger Rückzug aus der Öffentlichkeit im Monat darauf haben die Erwartungen hinsichtlich vorverschobener Präsidentschaftswahlen gedämpft: Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Wahlen vorverlegt werden könnten und Toqaev selbst hegte bis heute nicht die Absicht, seine Amtszeit als Präsident vorzeitig zu beenden. Aber wird es bis zur nächsten Präsidentschaftswahl tatsächlich noch vier Jahre dauern?
Der Systemtest
Das Jahr 2020 ist soweit eine einzige Bewährungsprobe für die Widerstandsfähigkeit von Regierungen, Gesundheitssystemen, des internationalen Systems, als auch des Nervensystems der Menschen. Die Corona-Pandemie und der Einbruch der Ölpreise haben eine Wirtschaftskrise ausgelöst, über deren Ausmaß längst noch kein abschließendes Urteil gefällt werden kann.
Die Krise hat zu steigender Arbeitslosigkeit, Inflation und einer allgemeinen Unsicherheit über die Zukunft geführt. Regierungen auf der ganzen Welt suchen nach Möglichkeiten, Menschen und Unternehmen zu unterstützen, wohl wissend, dass es zu keiner schnellen wirtschaftlichen Erholung kommen wird.
Toqaev, der von der Regierung eine starke und umfassende Antwort auf die Krise fordert, erwartet dass das Maßnahmenpaket nicht nur auf die Wirtschaft abzielt, sondern auch auf andere Bereiche, in denen sich Missstände offenbart haben. So zum Beispiel das Gesundheitswesen, die Bildung und die Digitalisierung. Die zweite Welle des Coronavirus, vor deren Ausbruch im Herbst Wissenschaftler und Ärzte warnen, könnte die Einführung von Reformen weiter verzögern und die Situation verkomplizieren.
Die Krise wird so zu einer echten Bewährungsprobe für die Staatsmacht: Für ihre Fähigkeit, mit den Bürgern zu kommunizieren, bis hin zu seiner Bereitschaft, radikale Veränderungen vorzunehmen. Unter dem Zeichen dieser Schwierigkeiten steht das zweite Präsidentschaftsjahr von Toqaev. Anders als in seinem ersten Jahr, wird es im zweiten Jahr nicht ausreichend sein, lediglich Erwartungen für Reformen zu wecken. Es werden konkrete Handlungen benötigt.
Wjatcheslaw Abramow
Vlast.kz
Aus dem Russischen von Marc Friedli
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