Die Kirgisen im östlichen Pamir Tadschikistans zählen zu den bedeutendsten kirgisischen Gemeinden außerhalb Kirgistans. Momentan leben etwa 12 000 von ihnen in der Region Murghob im Osten des Landes. Eine Reportage.
Einer Legende nach ist Sarykol ein altes kirgisisches Gebiet, das auf den Hochplateaus der Halbwüste liegt und sich von dort aus weit hinaus bis über die Grenzen Tadschikistans erstreckt. Es umfasst den Süden Kirgistans, Westchina, den Nordosten Afghanistans und seine Hauptstadt war Taschkorgan auf der chinesischen Seite, die heute in Xinjiang liegt.
Volksetymologien erzählen verschiedenste Theorien, doch sie alle stehen in Verbindung mit der physischen Realität des Pamir: Von mongolisch bis persisch vermischen sich hier alle Sprachen in der plastischen Form Kirgisiens. Sarykol – das ist das gelbe Wasser, das jedes Frühjahr aus der Bergquelle in die Täler strömt, das ist die Farbe der Landschaft und ihrer Flora während des ganzen Jahres.
Wie lange werden die Kirgisen die Hochplateaus bereits besiedelt haben? Nichts weiß man darüber. Laut den Aksakals, den Weisen, hatte die Arche Noah hier Land gefunden, um von Neuem Leben über die mit Wasser bedeckte Erde zu verbreiten. Einige Sanshyras, Stammesgenealogien, mutmaßen, dass Japhet, Noahs jüngster Sohn, Türk hervorgebracht habe, dessen direkte Nachkommen die Kirgisen, einschließlich des östlichen Pamir, sein sollen. Pamir, das Dach der Welt, ist vor allem ein Asyl, ein Zufluchtsort.
Das tägliche Leben
Weit entfernt von sagenhaften Ursprüngen ist die Lebensrealität der heutigen Zeit. Keine Arbeit, kein Strom, keine lokale Produktion, keine Fabriken. Viel Zeit zum Totschlagen. Man kümmert sich um sich selbst. In den Städten und Dörfern gibt es kleine Kinder, ein paar Jugendliche oder junge Eltern und Alte – die Alterspyramide ist unverhältnismäßig. Die meisten jungen Leute im Studentenalter, die über ausreichend intellektuelle und finanzielle Mittel verfügen, werden an die Universitäten nach Osch, Bischkek oder auch in die tadschikische Hauptstadt Duschanbe geschickt.
Tatsächlich ist es nicht nur ein Sprichwort, wenn man sagt, dass diejenigen, die keine Mittel zum Studieren haben, Hirten werden: ein rauher und strenger Alltag.
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Den größten Bestand der Region machen die Schaf- und Yakherden aus. Verglichen mit ihnen sind Pferde sogar selten und Kamele eine Rarität. Auf dem Dach der Welt findet man eine andere „Kirgisischheit“.
Austausch mit Kirgistan
Spricht man von einem Austausch der Region Murghob mit Kirgistan bezieht man sich vor allem auf Studenten und Arbeiter. Zudem besteht eine Abhängigkeit von Kirgistan, was Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände anbelangt. Alltagsdinge wie Nahrung, Kleidung, elektronische Geräte werden per „Cargo“ aus Osch geliefert. Damit sind Fahrzeuge gemeint, die mit ihren vollen Ladeflächen zwölf Stunden brauchen, um die 400 km zwischen Osch und Murghob zurückzulegen. Diese Lieferungen stehen zwar auf der Tagesordnung, haben sich aber im Vergleich zur Sowjetzeit stark verringert.
Paradoxerweise kommen Artikel, die keine Lebensmittel sind, wie Kleidung, Decken, Möbel und dergleichen Lieferungen aus Osch ursprünglich aus China.
Obgleich der Kulma-Pass zwischen Tadschikistan und China seit 2004 wiedereröffnet ist, ermöglicht der Pamir Highway auf der chinesischen Seite einen breiteren, dichteren und schnelleren Verkehr als die Autobahn M41, die Osch und Murghob verbindet.
Die Entfernung, die Unwägbarkeiten, die geringe Menge der importierten Güter verdoppeln oder verdreifachen die Preise im Vergleich zu Kirgistan. Murghob und sein Basar allerdings werden zum Zentrum des lokalen Handels und sind durch die frischen Waren in der ganzen Umgebung bekannt.
Kulturelle Angleichung
Der kirgisische Einfluss spiegelt sich auch im kulturellen Bereich wider: Sprache und Kultur stimmen hier überein. Die Lehrpläne der kirgisischen Schulen basieren auf den gleichen Büchern, auf die man in Bischkek stößt. Man rezitiert aus dem Manas-Epos, liest Togolok Moldo und bis 2008 lernte man die kirgisische Nationalhymne.
Die Kirgisen sind sowohl durch geografische als auch extreme klimatische Bedingungen isoliert. Seit 2007 gibt es eine Unmenge Antennen und Sendemasten, Handys sind in der Region Murghob angekommen. Es ist nicht ungewöhnlich für einen Hirten in einer Zeitschrift über den neuesten Klatsch der kirgisischen High Society zu lesen, einen der acht kirgisischen Fernsehsender zu verfolgen und studierende Kinder in Kirgistan zu haben. In physischer Isolation zu leben, während man mit den Informations- und Kommunikationsströmen immer in Verbindung bleibt, ist kein Widerspruch. Alles ist nur eine Frage der Verzögerung.
Kirgistscha, „auf kirgisische Art“
Knappheit führt zu Langlebigkeit und Kontinuität. Die Dinge müssen dauerhaft halten. Diese Lebenseinstellung hat praktische Konsequenzen, die ein unerfahrenes Auge als Unordnung, totale Desorganisation und Nachlässigkeit interpretieren würde. Die Leute und die Dinge erscheinen bunt, provisorisch, geflickt.
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Geht etwas kaputt, dann repariert man es, oder besser gesagt, man bastelt es wieder zusammen. Das Do-it-yourself, der Einfallsreichtum, der Trick 17 – es gibt viele Synonyme, um den Ausdruck „kirgistscha“, also „auf kirgisische Art“, zu erklären.
Das Unmögliche wird möglich gemacht und das Außergewöhnliche in Erwägung zu ziehen hilft, dem Verschleiß entgegenzuwirken und weiterzumachen. Die Dinge werden langlebig gemacht, indem die Menschen sich ihnen fügen. Art brut ist hier keine Lieblingskunst, sondern eine Meisterschaft.
Die Kirgisen in Murghob scheinen in zwei Geschwindigkeiten zu leben. Geografisch mit dem Gebiet von Sarykol verbunden, das jetzt in Tadschikistan liegt, können sie nicht der Anzeihungskraft des benachbarten Kirgistan widerstehen, was nicht selten Probleme mit ihrer Identität aufwirft.
Julien Bruley
Doktorand in Anthropologie an der Université de Lille
Jérémy Lonjon
Chefredakteur von Novastan
Aus dem Französischen von Elisabeth Rudolph
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