Am 15. Oktober 2017 hat Kirgistan in einer außergewöhnlich spannenden Wahl seinen nächsten Präsidenten gewählt. Ob Druck auf die Wählerschaft oder Anwendung von Spitzentechnologie – die Wahl hat wichtige Trends in der jungen kirgisischen Demokratie aufgezeigt. Novastan war an dem Tag in Tomtschi*, einem kleinen Dorf fernab der stressigen Hauptstadt Bischkek.
Auf den ersten Blick scheint es, als sei die Zeit in Tomtschi seit der Unabhängigkeit stehen geblieben. Hohe Berge umgeben das kleine Dorf in Nordkirgistan, etwa zehn Kilometer sind es bis zur kasachischen Grenze. Löchrige Straßen führen zu den Häusern der Familien, die schon immer hier leben, hier ihren Nachwuchs groß ziehen.
So manche Spur von Veränderung haben die vergangenen Jahre dann aber doch hinterlassen: Die neue Moschee, die 2003 fertiggestellt wurde, ein brandneues Fußballfeld mitten im Dorfs und vor allem ein Banner an den Schulwänden, dass auf die laufende Präsidentschaftswahl hinweist.
An diesem Sonntag, den 15. Oktober, wählt die einzige Demokratie Zentralasiens den Nachfolger des 2011 ins Amt getretenen Präsidenten Almasbek Atambajew. Unter den 13 zugelassenen Kandidaten stechen zwei heraus: der von der Regierung unterstützte Sooronbaj Dscheenbekow und Omurbek Babanow, ein Geschäftsmann, stilisiert als Oppositionskandidat.
Im Gesensatz zu den Staßen Bischkeks findet man in Tomtschi keine großen Wahlplakate. Nur ein grellgelber Babanow-Aufkleber schmückt einen Pfosten vor einem Haus. Mag sein, dass hier einer seiner Unterstützer wohnt. Im Dorf spielt sich der Kampf um die Wähler nicht an den Wänden ab.
Ein besonderes Wochenende
Mit ihren 19 Jahren kann Nargiza* bei dieser Wahl erstmals ihre Stimme abgeben. Sie studiert Tiermedizin an der Türkisch-kirgisischen Universität in Bischkek und kehrt jedes Wochenende zu ihren Eltern zurück. Auf dem Weg von der Bushaltestelle zu ihrem Elternhaus kommt sie mit den anderen Dorfbewohnern ins Gespräch.
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„Jeder kennt hier jeden, obwohl die Leute mich oft vergessen. Sie wissen, dass mein Vater eine dritte Tochter hat, erinnern sich aber nicht an meinen Vornamen“, erklärt sie und lacht. Als sie elf war, haben ihre Eltern sie ins Internat einer internationalen Schule des Issikkölgebiets im Osten des Landes geschickt. Dort sollte sie Englisch lernen. Auf dem Weg zur Schule kommen wir an der Schule vorbei – sie dient heute auch als Wahlbüro. Gebaut und lange geleitet hat sie Nargizas Großvater.
Ein Geschäft für 890 Einwohner
Tomtschi hat drei öffentliche Gebäude: eine Moschee, eine Bibliothek und eine Schule. Alle anderen öffentlichen Dienstleistungen teilt es sich mit acht weiteren Dörfern, die zu Sowjetzeiten gemeinsam eine Kolchose bildeten. Die Landwirtschaft und die Viehzucht machen die ganze Lokalwirtschaft aus. Viele der Dorfbewohner nehmen jeden Tag die eineinhalbstündige Strecke nach Bischkek auf sich, um dort zu arbeiten.
Ihre Einkäufe erledigen die 890 Dorfbewohner in einem einzigen, kleinen Geschäft in einem Privathaus. Die meisten leben aber vor allem von ihren eigenen Erträgen. Von Jahr zu Jahr ziehen die jungen Leute in die Hauptstadt, um dort zu studieren oder zu arbeiten. „Die meisten kehren nicht zurück“, so Nargiza, für die eine Rückkehr ins Dorf auch nicht in Frage kommt.
Hier zählt man noch aufeinander
Sie führt uns zu ihrem Elternhaus, dahinter erstreckt sich ein Feld, das jetzt im Oktober in orange erstrahlt. Ihr Vater, Kanatbek*, arbeitet in Bischkek als Tierarzt und Projektleiter für eine Regierungsbehörde. „Ich habe mein Leben in diesem Dorf verbracht“, erzählt er nostalgisch. „Stellt euch vor, ich war Tierarzt für die ganze Kolchose! Wir kümmerten uns um tausende Tiere auf über 500 Hektar.“ Daraufhin ist Kanatbek die Karriereleiter hochgeklettert, vom Kolchose in den Bezirk, vom Bezirk ins Gebiet und vom Gebiet nach Bischkek.
„Wenn ich ein Problem habe, gehe ich zu meinem Nachbarn, meinem Bruder. Die Regierung wird uns nicht helfen.“
Er besteht darauf, uns das Maisfeld hinter seinem Haus zu zeigen. „Hier brauchen wir keine Traktoren, wir machen alles von Hand.“ Er zeigt auf die zwei älteren Männer, die im Feld hocken. Auf die Frage, ob die Regierung ihnen bei der Ernte helfen könne, schüttelt er den Kopf. „Hier zählen wir nur aufeinander. Wenn ich ein Problem habe, gehe ich zu meinem Nachbarn, meinem Bruder. Die Regierung wird uns nicht helfen“, erwidert er. Mit seinen gut fünfzig Jahren hat Kanatbek Revolutionen und Umstürze erlebt, aber die Solidarität im Dorf ist immer geblieben.
In Tomtschi bewohnen fünf große Familien die 135 Häuser. Eine Familie in jeder der drei Hauptstraßen und etwas weiter außerhalb. Kanatbek und seine Familie bewohnen die Sewernaja Ulitsa, die Nordstraße. „Die meisten Leute hier wählen nach ihrer Familie. Ist ein Familienmitglied in einer der Parteien, zum Beispiel Babanows Respublika, dann sollten alle für Babanow wählen“, erklärt der Familienvater.
Kanatbek gibt aber an, dass seine Familienangehörigen alle „frei wählen können“ und das „jeder stimmt, wie er will“. Wir kehren vom Dorfspaziergang zurück ins Haus. Es gibt klare Anweisungen für den Wahltag: Keine Bilder und keine direkten Fragen zu den Wahlen. „Ihr in Europa seid an die Demokratie gewohnt. Wir verstehen, dass sie nicht in unserem Blut ist“, meint Kanatbek gutmütig und zeigt dabei auf sein Herz. Am Folgetag wird gewählt. Der Familientag schaut ein letztes Mal Fernsehnachrichten und geht schlafen. Im Dorf wie in Bischkek erinnert man sich genau an die zwei Revolutionen 2005 und 2010.
„Die meisten Entscheidungsträger sind Männer“
Am kommenden Morgen weckt uns die Familie mit Tee, Fladenbrot und hausgemachter Marmelade. Es ist ein großer Tag für Nargiza, die das erste Mal ihren Stimmzettel in die Wahlurne stecken wird. „Mir gefällt Babanow sehr, er ist jung und dynamisch“, erwähnt sie beim Tee. Der Geschäftsmann und ehemaliger Premierminister wird als moderner Kandidat angesehen. Sein Alter, 47 Jahre und damit zehn Jahre weniger als der Durchschnitt der anderen Kandidaten, spielt dabei eine große Rolle.
Etwas weiter im Gespräch erklärt die Studentin aber, dass sie dennoch nicht für den Oppositionskandidaten stimmen wird. Unter den Blick ihres Vaters sagt sie: „Mein Vater wählt für Dscheenbekow. Er ist älter, hat mehr Erfahrung und weiß es besser als wir“. Aidana*, Nargizas Mutter, lauscht dem Gespräch von der Küche aus. Sie mag vor allem den Kandidaten und ehemaligen Premier Temir Sarijew, wird aber wie ihre Tochter und ihr Mann für Dscheenbekow stimmen.
Bevor sie das Haus verlässt zieht Nargiza ihr schönes blaues Kleid an und trägt ein wenig Maskara auf. „Es ist ja immerhin ein besonderer Tag“, scherzt sie. Auf die Frage, ob sie sich von ihrer ersten Wahl Änderungen verspricht, zuckt sie mit den Schultern. Sie macht sich keine Illusionen.
In Tomtschi „sind die wichtigsten Entscheidungsträger Männer. Sie kümmern sich mehr um politische Angelegenheiten, während die Frauen mit dem Haushalt beschäftigt sind“, erklärt uns später Kanykej*, eine junge Frau die im Dorf aufgewachsen ist und jetzt für die Vereinigten Nationen arbeitet. „Sie merken nicht, dass sie im Wesentlichen zum Leben des Dorfes beitragen und eine riesige, wenn auch verdeckte Macht haben“, führt Kanykej fort.
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Kinder stellen sich sehr selten gegen ihre Eltern. Laut der jungen Frau gibt es nur „eine einzige Familie, in der die Kinder gegen die Meinung ihrer Eltern für Babanow wählen“. Danijar* und seine Schwester haben in Bischkek studiert und gemerkt, dass sie sich dort „selbst durchschlagen müssen“. Sie fingen an, mehr Geld als ihre Eltern zu verdienen, Danijar hat seine Startup gegründet und so haben sie „rebelliert“, erzählt Kanykej, die die Familie gut kennt.
Der Umschlag in die Urne, das Din-A4-Blatt in die Maschine
Kanatbek und Aidana warten bereits in der milden Sonne auf dem Sitzplatz vor dem Haus auf ihre Tochter. Das Wahlbüro ist nur ein paar Hundert Meter entfernt. „Wir haben ein neues elektronisches Wahlsystem, wo man seinen Fingerabdruck abgeben muss, um zu wählen. Das ist viel besser als zuvor, wo eine Person für die ganze Familie wählen konnte“, erklärt der Familienvater. „Früher kaufte ein Mann vor dem Wahlbüro am Wahltag direkt die Stimmen der Bürger“, ergänzt er.
Der Stimmenkauf ist weiterhin eine gängige Praxis, er geschieht nur auf direktere Art. In Tomschi habe laut Angaben mancher Einwohner ein Mann nachts die ärmsten Einwohner besucht, um ihre Stimme für 1000 Som, also etwa 12 Euro zu kaufen. Der durchschnittliche Monatslohn in Kirgistan liegt bei gut 12 000 Som.
Tatsächlich überrascht das Wahlbüro durch seine Technologie. Nargiza reicht den biometrischen Personalausweis ein, den sie vor ein paar Monaten hat bestellen müssen. Für diese Wahl mussten alle Wähler ihre Identität per Fingerabdruck bestätigen. „Durch die Fingerabdrücke wird das Gesicht der Person angezeigt“, erklärt Kanatbek, wie erstaunt von dieser neuen Technologie und zeigt auf den Bildschirm mit dem Gesicht seiner Tochter.
Erste Wahl ohne viel Hoffnung
Nargiza ist sich ihrer Sache nicht so sicher. Sie nimmt das A4-Blatt, auf dem die Namen der 13 Kandidaten stehen. Zwei Namen wurden durchgestrichen, nachdem sich die entsprechenden Kandidaten zugunsten von je einem der Hauptkandidaten Babanow und Dscheenbekow zurückgezogen haben.
Deren Namen stehen am Anfang bzw. am Ende der Liste. Dieses Detail hatte Nargiza schon erwähnt, als sie erklärte, wie ihr Vater denn sicher sein könnte, dass sie nicht für Babanow stimmt. „Es ist sichtbar, man kann nicht wirklich geheim wählen, es gibt keinen Umschlag“.
Als sie aus der Wahlkabine tritt, weiß sie nicht wirklich, wie sie ihr A4-Blatt verstecken soll. Sie kennt fast alle Freiwilligen, die das Wahlbüro betreuen. Sie öffnet das Blatt, das sie gefaltet hatte, und steckt es ganz in die automatische Lesemaschine, ein Stolz der Wahlkommission, importiert aus Südkorea. An der Seite beäugen mehrere Wahlbeobachter der verschiedenen Parteien die Prozedur. Auf dem Rückweg öffnet Nargiza ein Geschenk der Wahlkommission zu ihrer ersten Wahl: ein kleines Heft mit dem Logo der Wahl.
Eine Wahl von Herzen?
In Tomtschi ist Politik unter den Einwohnern keineswegs ein Tabuthema. Aber Kanatbek und seine Tochter reden hinter der geschlossenen Tür ihres Hauses viel freiherziger von der historischen Wahl für Kirgistan, die sich draußen abspielt.
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Überraschenderweise erhofft sich Kanatbek einen positiven Wandel vom Wahlergebnissen. Dscheenbekow, der seine Stimme gewonnen hat, gilt als der Kandidat der Stabilität und hat angegeben, die Reformen seines Vorgängers weiterzuführen. „Er wählt wegen seiner Arbeit für Dscheenbekow“, erwidert Nargiza und bricht ihr übliches Schweigen.
Ihr Vater arbeitet für eine Regierungsstruktur und wie viele Staatsangestellten wurde er angewiesen, für den Regierungskandidaten zu stimmen. „Ich unterstütze nicht unbedingt Dscheenbekow, aber ich mag seine Partei [die Sozialdemokratische Partei Kirgistans, Anm. d. Red.]“, rechtfertigt er seine Wahl. Sein Vorgesetzter hätte jedoch keine Möglichkeit, seine Stimme zu überprüfen. Laut dem Familienvater, der seine Hand auf Herz legt, „würde er es spüren, das ist alles“.
Sooronbaj, der nette Nachbar
Am selben Abend gibt es die ersten Ergebnisse: Dscheenbekow gewinnt in der ersten Runde mit 54,3 Prozent der Stimmen, Babanow erhält 33,4 Prozent. In Tomtschi liegt das Ergebnis des Regierungskandidaten leicht über dem Durchschnitt: 56,3 Prozent und 29,5 Prozent für Babanow.
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Für Kanykej sind das keine überraschenden Ergebnisse. „Die Dorfbewohner fühlen keine Nähe mit Babanow oder Sarijew, die der Elite angehören“, analysiert die junge UNO-Mitarbeiterin. Eine Woche vor der Wahl sagte ihre Großmutter im Dorf ihr, sie würde Dscheenbekow bevorzugen, denn „er wirkt wie ein Nachbar, ich fühle mich ihm näher“. Ein Nachbar, für den nicht alle ihr Haus verlassen haben. Von 529 in Tomtschi registrierten Wähler haben 209 den Weg zur kleinen Dorfschule nicht auf sich genommen.
*Die Orts- und Personennamen wurden geändert
Clara Marchaud
Novastan.org
Aus dem Französischen von Florian Coppenrath
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