Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und angespannten Beziehungen mit China liegt die Aufmerksamkeit des Westens vermehrt auf den zentralasiatischen Ländern. Die neuen zentralasiatischen Staatsoberhäupter verstehen es dabei, sowohl mit westlichen Ländern, als auch mit China und Russland zu verhandeln. Dabei koordinieren die zentralasiatischen Staaten ihre Positionen vermehrt untereinander und verstehen es, sich kommunikativ an ihre Partner anzupassen. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung von Carnegie.
Die zentralasiatischen Staaten profitieren weiterhin von einer verstärkten Aufmerksamkeit der westlichen Länder. So ist Bundeskanzler Olaf Scholz nur einer von vielen europäischen Regierungschefs, der sich dazu entschlossen hat, die Beziehungen mit Zentralasien auf ein neues Level zu heben. Zwischen dem 15. und dem 17. September 2024 führte Scholz nicht nur bilaterale Gespräche in Samarkand und Astana, sondern traf sich auch mit allen regionalen Staatsoberhäuptern im Format Z5+1 (Anm. d. Red.: Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan + ein Partnerland).
Das Interesse des Westens an Zentralasien ist aus vielen Gründen gestiegen: zum einen spielt die Ernennung neuer Staatsoberhäupter in Zentralasien in den letzten Jahren eine Rolle, zum anderen sind der russische Angriffskrieg in der Ukraine und wachsende Probleme in den Beziehungen mit China zu nennen. Den zentralasiatischen Regierungschefs ist dabei bewusst, dass sie für den Westen vor allem aufgrund ihrer direkten Nachbarschaft mit Russland und China eine wichtige Rolle spielen. Und dieses Verständnis stärkt ihre Position in Verhandlungen.
Innen- und außenpolitischer Wandel sorgen für mehr Aufmerksamkeit
Vor nicht allzu langer Zeit, in den 2010er-Jahren, erschien Zentralasien dem Westen als nicht besonders bedeutsamer Partner. So war etwa Angela Merkel während ihrer 16-jährigen Amtszeit lediglich drei Mal in der Region. Aber in den 2020er-Jahren hat sich vieles verändert. Erstens wandelte sich die innenpolitische Situation: fast in allen zentralasiatischen Staaten wurde die Macht an eine jüngere Generation weitergegeben, die die politische Bühne erst nach dem Zerfall der Sowjetunion betreten hatte (Anm. d. Red.: Shavkat Mirziyoyev ist seit 2016 Präsident Usbekistans, Qasym-Jomart Toqaev seit 2019 Präsident Kasachstans, Sadyr Dschaparow seit 2021 Präsident Kirgistans und Serdar Berdimuhamedow seit 2022 Präsident Turkmenistans. Nur in Tadschikistan ist seit 1992 Emomali Rahmon das Staatsoberhaupt). Zweitens änderten sich die äußeren Umstände: die NATO-Truppen zogen sich aus Afghanistan zurück und überließen das Land den Taliban, China sitzt in der Region sicher im Sattel und macht keine Anstalten, die Präsenz zu verringern, und Russland versucht nach dem Angriff auf die Ukraine die Loyalität der zentralasiatischen Verbündeten zu bewahren.
Unterstützt Novastan – das europäische Zentralasien-Magazin
Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der erste Besuch von Bundeskanzler Scholz in der Region kürzlich im September 2024 stattfand. Vor ihm hatten bereits die Präsidenten Frankreichs und Italiens, der Präsident des Europäischen Rates sowie die Außenminister:innen der EU, der USA, des Vereinigten Königreichs, der Schweiz und wiederum Deutschlands Zentralasien besucht. Zudem fand im September 2023 ein weiteres Z5+1 Treffen mit US-Präsident Joe Biden in New York statt. Diese Besuche laufen nach einem ähnlichen Schema ab. Ebenso unterscheiden sich die diskutierten Themen kaum. So war beispielsweise bereits vor Scholz’s Besuch absehbar, dass Fragen wirtschaftlicher Zusammenarbeit zur Sprache kommen würden.
Lest auch bei Novastan: Zentralasiens Ressourcen: Ein neuer Raum für den Wettbewerb der Großmächte?
Der Handel zwischen den fünf zentralasiatischen Staaten und den Ländern der Europäischen Union beläuft sich auf ein Rekordniveau: im Jahr 2022 nahm er um 59 Prozent zu und im Folgejahr um weitere 11 Prozent. Für Deutschland ist dabei vor allem die Zusammenarbeit im Energiebereich wichtig: im Jahr 2023 bezog Deutschland 8,5 Millionen Tonnen Öl aus Kasachstan – mehr wurde nur aus Norwegen und den USA importiert. Gesondert besprach Scholz auch Investitionen und Zusammenarbeit in der Privatwirtschaft: 2023 investierte Deutschland umgerechnet 738 Millionen Euro in die Wirtschaft Kasachstans, das ist ein Zuwachs von 64 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und das Volumen der deutschen Investitionen in die Wirtschaft Usbekistans nahm seit dem Jahr 2017 um das elffache zu. Im Zuge der Gespräche in Kasachstan vereinbarten die Teilnehmenden 66 gemeinsame Investitionsprojekte mit einem Gesamtvolumen von umgerechnet 52,7 Milliarden Euro. Und beim Treffen in Usbekistan wurden weitere Projekte mit einem Umfang von 9 Milliarden Euro beschlossen.
Kritik unter vier Augen
Was während Scholz’s Reise jedoch nicht zur Sprache kam, war eine ausführliche öffentliche Diskussion des Krieges in der Ukraine und die Notwendigkeit, sich der russischen Aggression zu widersetzen. In Astana begnügte sich der Kanzler mit den Worten, dass man „nach einer Möglichkeit suchen müsse“, einen Friedensprozess in Gang zu setzen. Und der Präsident Kasachstans, Qasym-Jomart Toqaev, ließ verlauten, dass „eine weitere Eskalation des Krieges zu irreversiblen Folgen für die gesamte Menschheit führen würde“.
Ohnehin befürchteten die zentralasiatischen Länder, dass alle Gespräche über eine strategische Zusammenarbeit nur ein Vorwand des Westens sein, um sie in die Konfrontation mit Moskau und Peking zu ziehen. Aus diesem Grund ist es ein Hauptziel der westlichen Staatsoberhäupter, den zentralasiatischen Ländern zu versichern, dass sie auch für sich genommen langfristig von strategischem Interesse sind und sich dabei auf neue Partner verlassen können, wenn es in den zwei einflussreichen Nachbarländern zu Unmut kommen sollte.
Seine Prioritäten kann der Westen jedoch nicht vollständig ignorieren. Es wäre leichtgläubig zu denken, er könne die zentralasiatischen Staaten direkt dazu aufrufen, ihre Beziehungen mit Russland und China zu verringern. Was jedoch vorstellbar ist, ist den im Inneren des Kontinents ohne Zugang zum Meer gelegenen Ländern Möglichkeiten zu eröffnen, wie sie ihre wirtschaftlichen Beziehungen diversifizieren und dadurch unabhängiger werden können.
Lest auch bei Novastan: Gemeinsam gegen den Westen – Warum China und Russland in Zentralasien nicht konkurrieren
Zu diesem Zweck haben die westlichen Regierungschefs sogar die Themen Menschenrechte und Demokratisierung von der Prioritätenliste gestrichen, die bei den zentralasiatischen Machthabern sonst eher zu Irritationen führen. Belehrungen darüber, wie Zentralasien seine Innenpolitik zu gestalten habe, gehören der Vergangenheit an. Jetzt beschränken sich die europäischen und amerikanischen Beamt:innen und Diplomat:innen darauf, ihre Unterstützung für Reformen zu bekunden. Im persönlichen Gespräch geben die westlichen Diplomat:innen aber zu, dass hinter verschlossenen Türen sehr wohl weiterhin die Bedingungen erläutert werden. Die Sanktionen sind dabei ein Paradebeispiel. In der Öffentlichkeit bezieht keine der beiden Seiten zu diesem Thema Position, aber de facto erfüllen die zentralasiatischen Staaten die notwendigen Anforderungen, aufgrund der Befürchtung von Sekundärsanktionen. So haben zentralasiatische Banken etwa direkte Transaktionen mit unter Sanktion stehenden russischen Finanzinstituten untersagt.
Krieg in der Ukraine ändert Kommunikationsstrategie
Doch selbst in diesem Fall konnte Zentralasien für sich den Raum zum Manövrieren vergrößern. In den mehr als zweieinhalb Jahren des russisch-ukrainischen Krieges konnten die fünf Staaten eine effektive Kommunikationsstrategie gegenüber den Partnern entwickeln: im Gespräch mit dem Westen wird das eine behauptet, gegenüber Russland etwas anderes. Im ersten Fall wird die Abhängigkeit der Region von Russland betont, viel über den geopolitischen Druck Moskaus gesprochen und gebeten, bei Verstößen gegen Sanktionen nachsichtig zu sein. Russland gegenüber wird jedoch vom unerträglichen Druck und Drohungen des Westens gesprochen. Und so verhält es sich in sämtlichen Politikfeldern. Der ehemalige Außenminister Großbritanniens, David Cameron, gab in einem Gespräch mit dem „ukrainischen Ex-Präsidenten Petro Poroschenko“ (Anm. d. Red.: Die Äußerung fiel in einem Telefonstreich, bei dem sich das russische Komiker-Duo „Vovan und Lexus“ gegenüber David Cameron als Petro Poroschenko ausgab.) zu, dass sich der Außenminister Kasachstans, Mūrat Nūrtleu, folgendermaßen geäußert hatte: „Die Ukrainer sterben auch für Kasachstan“. Später ließ das Außenministerium verlautbaren, dass dies ein Fake sei. Gleichzeitig besuchen die zentralasiatischen Machthaber weiterhin Moskau und schwärmen von Russlands Macht. Sogar beim Treffen mit Olaf Scholz äußerte Qasym-Jomart Toqaev, dass „Russland militärisch unbesiegbar sei“.
Lest auch auf Novastan: Kirgistan wegen Umgehung der Sanktionen gegen Russland am Pranger
Dass Zentralasien in der Außenpolitik pragmatisch handelt und viele Gesichter zeigt, hat sich als effektiv erwiesen. Zum einen befindet sich nicht eines der Länder der Region unter Sekundärsanktionen des Westens (und das, obwohl es zahlreiche Beweise dafür gibt, dass diese Russland mit Dual-Use-Gütern beliefern, wie etwas mit Nitrocellulose, das für die Produktion von Munition benötigt wird). Sanktionen wurden nur gegen einzelne Unternehmen der Region erlassen. Zum anderen stellt niemand Zentralasien vor eine schwierige geopolitische Entscheidung. Der Westen befürchtet, dass ein Ultimatum nach der Art „entweder wir oder Russland/China“ die Region nur in die Arme Moskaus und Pekings treiben würde. Die Befürchtungen sind nicht unbegründet: den Versuch einer solchen Herangehensweise gab es während der ersten Trump-Regierung (2017-2021) und wurde von Zentralasien sehr negativ aufgefasst. Ebenso kann Russland sich kein solches Ultimatum erlauben: Verbündete sind Russland weltweit kaum geblieben und die Verbliebenen zu vergraulen, wäre eine Verschwendung.
Verstärkte Koordination zwischen zentralasiatischen Staaten
Zum ersten Mal seit ihrer Unabhängigkeit spielt ihre geopolitische Lage den zentralasiatischen Ländern in die Hände. Dieser Moment hätte jedoch verpasst werden können, wäre es nicht in der Region selbst zu strukturellen Veränderungen gekommen. Seit 2016 änderte sich die Staatsführung in vier der fünf Länder. Infolgedessen öffneten sie sich verstärkt gegenüber einander sowie Drittstaaten. Laut den Diplomat:innen vor Ort stimmen die Außenministerien der zentralasiatischen Länder ihrer Positionen vor Z5+1-Gipfeln ab, um sie möglichst effektiv gegenüber den Partnern von außen zu vertreten. Eine solch intensive Zusammenarbeit gab es früher nicht.
Das heutige Zentralasien kann als Vorbild für andere Länder des Globalen Südens dienen, wie aus dem Konflikt von Großmächten Profite gezogen werden können. Die zunehmende Konflikthaftigkeit in den internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert hat zu Spekulationen geführt, dass die Welt zu einem kalten Krieg zwischen Supermächten zurückkehren könnte, mit zwei Polen, denen sich kleine und mittlere Staaten anschließen müssen. Zentralasien zeigt jedoch einen anderen Weg auf und kombiniert das Unvereinbare: eine Zusammenarbeit mit der NATO, Reisen der Staatsführung nach Moskau zur Militär-Parade am 9. Mai oder auch die Öffnung von Stützpunkten der bewaffneten chinesischen Miliz an der Grenze. Die Frage ist, wie lange Zentralasien ein solches Balancing betreiben kann und ob die fünf Staaten tatsächlich von dem aktuell gesteigerten Interesse für die Region profitieren können. In jedem Fall ist dies jedoch nicht ohne Nutzen: die im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gesammelten Erfahrungen im diplomatischen Manövrieren werden den zentralasiatischen Ländern im Falle eines größeren Konflikts zwischen dem Westen und China von Nutzen sein.
Temur Umarov für Carnegie Endowment
Aus dem Russischen von Marie Schliesser
Noch mehr Zentralasien findet ihr auf unseren Social Media Kanälen: Schaut mal vorbei bei Twitter, Facebook, Telegram, Linkedin oder Instagram. Für Zentralasien direkt in eurer Mailbox könnt ihr euch auch zu unserem wöchentlichen Newsletter anmelden.