Die jüngsten Ereignisse in Belarus zeigen, dass „bisherige und schon zur Gewohnheit gewordene Mechanismen der Machterhaltung autoritärer Führer angeschlagen sind“. Dies erläutert Yuli Yusupov, Direktor des Kooperationszentrums für wirtschaftliche Entwicklung Usbekistans, in einem Interview, das am 30. September vom cabar.asia (Central Asian Bureau for Analytical Reporting) in russischer und englischer Sprache veröffentlicht wurde.
CABAR: Wie bedeutend sind Ihrer Meinung nach die gegenwärtigen Ereignisse in Belarus für die Länder Zentralasiens?
Yuli Yusupov: Ich denke, das sind die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2020 für den gesamten postsowjetischen Raum, wo noch bis vor Kurzem politische Regime der „lebenslangen Präsidentschaft“ vorherrschten. Präsidenten, die in den 1990er und 2000er Jahren an die Macht gekommen waren, sicherten sich mit allen rechtlichen und widerrechtlichen Mitteln praktisch die Führung auf Lebenszeit.
Es gab natürlich auch exotische Ausnahmen (ausgenommen das Baltikum, das letztlich bis zuletzt nie vollkommen „sowjetisch“ geworden waren): die Ukraine, Georgien, Kirgistan, Moldau. Aber auch dort verliefen Machtwechsel teilweise nur über Widerstand mit Gewalt.
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2019 dann „lief irgendwas falsch“. Zu den „ausgestoßenen Staaten“ gesellte sich plötzlich auch Armenien, dass dem alten Staatschef das Mandat nicht weiter zu verlängern wünschte. Nicht weniger „unerwartet“ trat Nazarbaev (Nursultan Nazarbaev – ehemaliger Präsident Kasachstans – Anm. d. Übers.) zurück (so unerwartet, dass viele bis heute nicht glauben, dass er wirklich zurückgetreten ist).
Junge Generation arrangiert sich nicht mit alten Mechanismen
Und dieses Jahr begannen die Stühle der „Alten“ zu wackeln – von Wladimir Putin und Alexandr Lukaschenka (Präsidenten Russlands und Belarus – Anm. d. Übers.). Die Sonderaktion der „Nullung“ rief selbst auf Seiten der Unterstützer von WWP (umgangssprachliche Abkürzung für Wladimir Wladimirowitsch Putin – Anm. d. Übers.) Skepsis hervor, so vulgär sah das aus. Der Andere sah sich konfrontiert damit, dass er seinem Volk schon so zuwider war, dass die Leute jeden Beliebigen wählten. Hauptsache nicht ihn.
Daran sieht man, dass bisherige und schon zur Gewohnheit gewordene Mechanismen der Machterhaltung autoritärer Führer angeschlagen sind. Etwas ist kaputt gegangen in diesen Mechanismen. Eine neue Generation ist herangewachsen, die sie nicht mehr als etwas Selbstverständliches hinnehmen und nicht gewillt sind, sich mit ihnen zu arrangieren.
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Ich denke, dass das unglaublich wichtig ist für den gesamten postsowjetischen Raum, auch für Zentralasien. Meiner Meinung nach sind die laufenden Prozesse eine gesetzmäßige Etappe auf dem Weg zu einer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft in unseren Ländern.
CABAR: Wie lautet Ihre Prognose für den Fortgang der Lage in Belarus, wird sich Lukaschenka halten können?
YY: Ich denke, der Rücktritt Lukaschenkas ist bereits entschieden. Du kannst im 21. Jahrhundert kein europäisches Land mehr anführen, wenn Dich mindestens 70 Prozent der Bevölkerung hassen. Lukaschenka selbst hat die Situation verpatzt, als er seine überwältigenden 80 Prozent vermeldete. Hätte er beispielsweise mit 53 Prozent der Stimmen gewonnen, wären viele ruhig geblieben. Und dann versuchte er wild und mit Gewalt in den ersten Tagen nach den Wahlen die Proteste niederzuschlagen. Lukaschenka geht – wenn nicht gleich, so doch im Laufe des kommenden Jahres.
Sein einziger Halt ist nunmehr der Kreml, für den er aber wohl eher Ballast ist denn Halt. Putin unterstützt Lukaschenka, so mein Eindruck, zeitweilig aus zwei Gründen: Erstens, um keinen für ihn selbst gefährlichen Präzedenzfall des Abtritts eines autoritären Führers durch den Druck des Volkes zu schaffen. Zweitens will er Techniken zur Schwächung von Massenprotesten erproben, um sie dann für Russland zur Verfügung zu haben (so wie er damals Militärtechnik in Syrien testete).
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Ich glaube, die Frage ist nicht der Rücktritt Lukaschenkas an sich, sondern wie er ablaufen wird und welchen Preis das belarusische Volk für die Chance auf eine zivilisierte Entwicklung zahlen muss. Die größte Gefahr liegt darin, dass Lukaschenka vor seinem Rücktritt noch Belarus dem Kreml „schenken“ könnte. Und das würde für alle große Probleme bedeuten, nicht nur für Belarus.
Ich hoffe sehr, dass Putin sich nicht auf ein solches Szenario einlässt. Es würde ihm – im Unterschied zur Angliederung der Krim – kaum innenpolitische Vorteile bringen, stattdessen könnten viele zusätzliche Probleme entstehen.
- Innerhalb Russlands: Im Land taucht eine neue Region auf, dessen revolutionäre Stimmungen sich auf andere Regionen des Landes ausweiten könnten.
- Im postsowjetischen Raum: Andere Nachbarstaaten werden kaum begeistert sein vom Beispiel einer „freundschaftlichen Umarmung“ des Kremls.
- Aus Sicht der internationalen Gemeinschaft: Der Anschluss eines ganzen europäischen Landes wäre selbst für die friedliebendsten westlichen Politiker zu viel.
Dennoch zeigen die traurigen Erfahrungen der letzten Jahre, dass der Kreml immer wieder irrational handeln konnte, sogar auf Kosten seiner eigenen Interessen. Also, alles ist möglich.
CABAR: Wie wirken die Proteste in Belarus auf andere GUS-Staaten?
YY: Die Bevölkerung von Belarus demonstriert vielen postsowjetischen Staaten ein Beispiel. Es zeigt, dass einer Bewegung in Richtung Demokratisierung unausweichlich ist, dass wir nicht zum ewigen Autoritarismus verdammt sind. Die aktuellen Ereignisse zeigen jedoch auch, dass dieser Weg weder einfach noch kurz ist. Die Belarusen haben 26 Jahre ununterbrochener Lukaschenka-Herrschaft gebraucht, um letztendlich „aufzuwachen“ und ihre Grundrechte zu verteidigen.
Die Ereignisse in Belarus sollten aber auch den autoritären Anführern anderer postsowjetischer Staaten die Grenzen ihrer Macht aufzeigen. Ja, in unseren Ländern kann man relativ leicht bereits vorhandene Macht erhalten. Vorerst. Wenn währenddessen nicht wenigstens sukzessive nachhaltige demokratischen Institutionen eingerichtet werden, wie zum Beispiel Institutionen des Machtwechsels, dann ist das:
a) durchaus schädlich für die Entwicklungsperspektiven, und
b) gefährlich für die eingesessenen Halb-Monarchen selbst.
Probleme kann man überspielen, aber nicht bis zur Unendlichkeit. Und umso sturer Probleme heute ignoriert werden, desto schwieriger wird es in der Zukunft, sie zu lösen, desto tiefgreifender werden künftige Konflikte und Krisen.
Was Eliten autoritärer Systeme begreifen müssen
Aber für die „abgebrühtesten“ autoritären Führer wird die „Belarusische Lehre“ natürlich darin bestehen, dass:
a) auf keinen Fall alternative Kandidierende zur Wahl zugelassen werden dürfen, die auch nur die leiseste Chance auf einen Sieg haben könnten (Lukaschenkas „Fehler“ war es, Svetlana Tsichanouskaya zuzulassen, nun zahlt er dafür).
b) jegliche Hinweise auf Proteste streng unterbunden werden müssen (Die Proteste wurden in den ersten Tagen nicht völlig verhindert, so wuchsen sie schnell an).
c) sämtliche mögliche alternative Informationsquellen blockiert werden müssen, darunter auch soziale Netzwerke.
d) keinerlei Zugeständnisse gemacht werden dürfen.
Und natürlich eine weitere Lehre für den postsowjetischen Raum: Die Rachegelüste des Russischen (Sowjetischen) Reiches sind immer noch stark und bereit, interne Probleme der jungen unabhängigen Staaten auszunutzen.
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Dabei müssen die Eliten einfach endlich verstehen, dass sie die meisten Probleme selbst geschaffen haben – durch ihre Unfähigkeit, auch nur einen Bruchteil ihrer Macht und privater Interessen aufzugeben. Für diesen Egoismus und beschränkte Sichtweite der Eliten bezahlen das Volk und seine künftigen Generationen.
Das vorliegende Material entstand im Rahmen des Projekts „Giving Voice, Driving Change — from the Borderland to the Steppes Project“. Im Artikel erwähnte Meinungen müssen nicht mit den Ansichten der Redaktion übereinstimmen.
Marat Mamadschoev
Aus dem Russischen von Peggy Lohse
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