Startseite      Choresm und Buchara: Die zweigeteilte Geschichte der JüdInnen Zentralasiens

Choresm und Buchara: Die zweigeteilte Geschichte der JüdInnen Zentralasiens

Schon seit der Antike ist jüdisches Leben in Zentralasien überliefert. Allerdings ist die Geschichte der zentralasiatischen JüdInnen kein Kontinuum, sondern von einem circa ein Jahrhundert währenden Verschwinden jüdischen Lebens in der Region unterbrochen. Der folgende Artikel erschien im russischsprachigen Original auf Fergana News. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Im Inneren der Synagoge von Buchara
Im Inneren der Synagoge von Buchara

Schon seit der Antike ist jüdisches Leben in Zentralasien überliefert. Allerdings ist die Geschichte der zentralasiatischen JüdInnen kein Kontinuum, sondern von einem circa ein Jahrhundert währenden Verschwinden jüdischen Lebens in der Region unterbrochen. Der folgende Artikel erschien im russischsprachigen Original auf Fergana News. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Wann erschienen in Zentralasien die ersten JüdInnen? Welche Rolle spielte das Khaganat der ChasarInnen auf ihrer Wanderung? Warum verschwanden sie plötzlich im 16. Jahrhundert ohne Nachkommen zu hinterlassen? Wie kam es, dass die heutigen bucharischen JüdInnen erst seit kurzem in der Region leben und keine Verbindung zur Vorgeschichte haben? Auf diese Fragen antwortet der bekannte kanadische Historiker Albert Kaganovitch von der Universität Manitoba. Sein Artikel The Jewish Communities of Central Asia in the Medieval and Early Modern Periods erschien im wissenschaftlichen Journal Iranian Studies.

Aus Choresm ins Reich der ChasarInnen und zurück

Wahrscheinlich kamen die ersten JüdInnen zur Zeit der AchämenidInnen – in der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. – nach Zentralasien. Archäologische Funde aus dieser Zeit lassen auf ihren Aufenthalt in der Oase von Merw schließen. In Choresm lassen sich ihre Spuren ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. finden. So schreibt der arabische Historiker at-Tabari, dass die ChoresmerInnen (vor der muslimischen Eroberung) sich oft mit jüdischen Rabbinern berieten. Um das Jahr 730 herum konvertierte der chasarische Khagan Bulan unter dem Einfluss von lokalen JüdInnen oder MigrantInnen aus dem sassanidischen Persien zum Judentum. Es ist bemerkenswert, dass gemäß den Schlüssen einiger HistorikerInnen die JüdInnen aus Persien über den Kaukasus und Choresm nach Europa (insbesondere in die Rus und nach Deutschland) übersiedelten.

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In jener Zeit, schreibt Kaganovitch, war Choresm eine der Regionen Groß-Chorasans – einem Land am Schnittpunkt der heutigen Staaten Iran, Turkmenistan, Usbekistan und Afghanistan –, das voll blühender Städte war. Das chasarische Khaganat war, insbesondere nachdem der Khagan das Judentum angenommen hatte, ein Anziehungspunkt für die JüdInnen ganz Chorasans und besonders Choresms, welches grausam von den Arabern erobert wurde. Die Mehrheit der (wenn nicht alle) chasarischen JüdInnen sprachen und schrieben in judäo-persischer Sprache. Schon damals entwickelten sie einen aktiven transkontinentalen Handel: Ein judäo-persischer Brief zum Thema Handel, der in Hotan gefunden wurde, wurde auf das 8. Jahrhundert datiert. Und im Jahr 878 betrieben JüdInnen bereits im südchinesischen Kanton (chinesisch Guangzhou, Anm. d. Ü.) Handel. Als im 10. Jahrhundert das chasarische Khaganat seine militärische Vormacht einbüßte und von der Rus besiegt wurde, wurde Choresm wieder zum Stützpunkt der HändlerInnen.

Die aktive Beteiligung der JüdInnen am Handel in Zentralasien entlang der Seidenstraße spiegelt sich in einer kirgisischen Legende wider, die Ende des 19. Jahrhunderts im Ferganatal aufgezeichnet wurde. Einst ritt ein Jude auf seinem Kamel an dem Haus eines Muslims in der Steppe vorbei und bat ihn für die Nacht um Herberge. Doch der Muslim lehnte den Ungläubigen ab. Das erfuhr der Sufi Achmed Yassawi, der im Haus war. Er folgte dem Juden und flehte ihn an, zurückzukehren. Aber der stimmte nur unter der Bedingung zu, dass er zusammen mit dem Kamel auf den Schultern getragen wird – was der Sufi tat. Angesichts des Wunders konvertierte der Jude zum Islam. In historischen Chroniken und Reisenotizen wird über jüdische Gemeinden im Ferganatal, in Ostturkestan und sogar Ostchina berichtet. In letzterem sprach man auch Persisch. In den Chroniken der mongolischen Yuan-Dynastie tragen sehr viele JüdInnen persische Namen.

eine chasarische Silbermünze aus dem Museum Visby, Schweden
Eine chasarische Silbermünze aus dem Museum Visby, Schweden

Aber der „Kern“, das Zentrum jüdischen Lebens in Zentralasien blieb vom 10. bis zum 13. Jahrhundert Choresm. Laut dem Reisenden Benjamin von Tudela lebten allein in Gorganch (heute Urganch) mehr als 8000 JüdInnen, wobei es heute Stimmen gibt, dass er wohl eigentlich das ebenfalls in Choresm gelegene Xiva meinte. Selbst die Eroberung durch die Mongolen und die daraus folgenden Zerstörungen konnten die Stadt nicht auslöschen oder auch nur ihr Gedeihen verhindern. Es gibt allerdings keine zuverlässigen Belege, dass JüdInnen im 1. Jahrtausend außerhalb Choresms lebten. Nach Buchara und Samarkand könnten sie später gelangt sein, im Rahmen der Entwicklung der Handelsbeziehungen mit China. Außerdem galt im Gegensatz zu Europa der Handel in der muslimischen Welt als Ehrensache, weshalb die JüdInnen viele KonkurrentInnen hatten. Zusammen mit den hohen Steuern für Andersgläubige verhinderte dies die Entfaltung der Kaufleute, und ihr Haupteinflussbereich beschränkte sich nach Ansicht des Historikers auf Choresm.

Tod und Assimilierung

Dennoch lebten am Vorabend der mongolischen Invasion in Buchara und Samarkand bereits viele JüdInnen. Aber was passierte dann? Die Mongolen haben die JüdInnen nicht gezielt getötet, zumindest berichten keine Quellen davon. Aber die Wirtschaftskrise und die demografische Katastrophe in Zentralasien veränderten die Handelsrouten, wodurch die JüdInnen näher an das Mittelmeer und Westeuropa umgesiedelt sein könnten. Aus Samarkand waren sie schon zur Mitte des 14. Jahrhunderts verschwunden: Der das Timuridenreich besuchende spanische Ritter Ruy González de Clavijo zählt die zahlreichen Gemeinden Samarkands auf und erwähnt TürkInnen, AraberInnen, MongolInnen, ArmenierInnen, GriechInnen – aber keine JüdInnen. In Buchara gab es im 15. Jahrhundert hingegen eine blühende jüdische Gemeinde: Zahlreiche Niederschriften der Mischna und anderer religiöser Texte, die in den Jahren 1496 bis 1498 in der Stadt erstellt wurden, sind bekannt. Ein gewisser Usiel Mosche Ben-David schrieb Gedichte auf Persisch und Hebräisch. Die Gemeinde wuchs sogar aufgrund von Zuwanderung aus dem von Timur 1388 zerstörten Gorganch.

Aber später, zur Zeit der Herrschaft des ersten Chans von Buchara aus der Dynastie der Scheibaniden – Mohammed Scheibani (1501-1510) –, verschwanden laut Kaganovitch die JüdInnen aus Zentralasien. Allem Anschein nach starben sie entweder während der vielen inneren Unruhen des 16. Jahrhunderts oder sie konvertierten zum Islam. Das gleiche Schicksal ereilte wahrscheinlich die JüdInnen Choresms. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten nach Angaben des Generals Murawjow in Xiva ehemalige JüdInnen, die zum Islam konvertiert waren.

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Einen weiteren Beleg für das Verschwinden der JüdInnen aus Zentralasien stellen die Aufzeichnungen des englischen Reisenden Antony Jenkinson dar, der nicht nur am Hof Iwans des Schrecklichen weilte, sondern auch in den 1550er Jahren Buchara besuchte. Jenkinson beschreibt detailliert den politischen Aufbau und die Wirtschaft der Stadt, erwähnt aber mit keinem Wort die JüdInnen. Das ist umso seltsamer, als er viel über dieses Thema nachdenkt und die in Europa populäre Idee über die Herkunft der MongolInnen aus den zehn verlorenen Stämmen Israels stark kritisiert. Es ist daher umso wahrscheinlicher, dass die JüdInnen Bucharas starben oder aus der Stadt flohen. Wenn sie konvertiert wären, dann hätten ihre Nachfahren in Buchara in den 1550er Jahren noch existiert und die lokalen GesprächspartnerInnen Jenkinsons hätten seine Aufmerksamkeit auf sie gelenkt.

Jüdische Kinder mit ihrem Lehrer (Samarkand, um 1910)
Jüdische Kinder mit ihrem Lehrer (Samarkand, um 1910)

Es besteht die Möglichkeit, dass die Juden nicht gestorben sind, sondern aus Zentralasien nach China fliehen konnten, denn ihre Handelsbeziehungen mit dem Reich der Mitte blieben bestehen. Zwei judäo-persische Haggada-Exemplare aus dem Kaifeng des 17. bis 18. Jahrhunderts unterstützen diese Hypothese. Wie jüngste Forschungen ergeben haben, war die Schriftsprache der JüdInnen von Kaifeng ein chorasanischer Dialekt der judäo-iranischen Sprachen, den man nur im Chorasan des 8. bis 13. Jahrhunderts sprach. Dass ein so alter Dialekt und das Ritual des Pessachfestes bis ins 19. Jahrhundert erhalten geblieben sind, spricht auch für die lange Isolation Chinas und Zentralasiens vom Nahen Osten.

Wiedergeburt

Nachdem die jüdischen Gemeinden für ungefähr ein Jahrhundert verschwunden waren, erfolgte ihre Wiedergeburt. Der genaue Zeitpunkt ist jedoch unbekannt. Nach dem persischen Einfluss in einigen literarischen Werken der bucharischen JüdInnen zu urteilen, geschah dies gegen Anfang des 17. Jahrhunderts. Wahrscheinlich wurden sie gewaltsam aus Maschhad – der wichtigsten Stadt im Chorasan der Neuzeit – vertrieben. Im 15. und 16. Jahrhundert war Maschhad für seine Seidenstoffe bekannt, die den Genueser Stoffen in nichts nachstanden, aber im 17. Jahrhundert wird die Stadt nur als Zentrum der Herstellung grober Textilien und Teppiche beschrieben. Wahrscheinlich wurden alle JüdInnen, die für die Produktion von Seide verantwortlich waren, aus Maschhad nach Buchara umgesiedelt. Verantwortlich dafür war Khan Abdullah II., der auf diesem Weg nicht nur seinen Staat bereichern, sondern auch die Wirtschaft seines Feindes, des schiitischen Persiens, zerstören wollte. Der schiitische Schah Abbas der Große hat den Seidenexport nach Transoxanien einfach unterbunden, und die Herrscher von Buchara wollten sich damit nicht abfinden. Die Umsiedlung der Juden aus den geplünderten Städten Chorasans war Khan Abdullahs Antwort auf diese Politik.

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Die Umsiedlung aus Maschhad ist Bestandteil vieler Sagen und Legenden der bucharischen JüdInnen. Noch in den 1920er Jahren wurde erzählt, dass vor langer Zeit die Gemahlin des bucharischen Zaren keine Kinder hatte. Ihr Mann erfuhr, dass ein jüdischer Arzt aus Maschhad Unfruchtbarkeit heile. Aber dieser weigerte sich nach Buchara zu ziehen, da es dort keine Synagoge und keine jüdische Gemeinde gebe. Also stimmte der Monarch zu, noch weitere zehn Männer nach Buchara zu holen, damit der Arzt jemanden zum Beten habe. Im Jahr 1620 wurde die erste Synagoge gebaut. Ihren Lebensunterhalt verdienten die JüdInnen mit der Produktion von Seide, welche unter anderem nach Russland exportiert wurde. Über die Fähigkeiten der jüdischen Handwerksmeister in der Produktion von Seidenstoffen schrieben nicht nur russische Offiziere wie Efremow und Burnaschew, sondern auch indische Reisende des 18. und 19. Jahrhunderts.

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Im Gegensatz zu den europäischen JüdInnen zeigten die JüdInnen von Buchara keine besondere Aktivität im Geldverleih und Handel – diese Nischen waren bereits von lokalen Muslimen (Handel) oder Hindus (Geldverleih) besetzt. Erst die Stärkung der Handelskontakte mit Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Erschließung neuer Märkte erlaubte den JüdInnen, Positionen im Handel einzunehmen. Dennoch fertigte noch 1885 ein Drittel der bucharischen JüdInnen Seidenwaren. Besonders geschätzt wurden Schals und Turbane aus durchscheinender Seide. Das Erblühen der jüdischen Gemeinde in Buchara und die Toleranz der lokalen Bevölkerung machten die Region so anziehend, dass Hunderte JüdInnen aus Afghanistan, Persien und sogar Syrien dorthin zogen, welche sich schnell in die Gemeinde integrierten. Aber dies waren schon neue Leute, mit eigener Kultur, Sprache und Erinnerung an die Länder des jüngsten Exodus. Die jahrhundertealte Tradition des jüdischen Lebens im antiken und mittelalterlichen Zentralasien, die Rituale, Sprache und Literatur, die Geschichte von Chasarien und Choresm sind in Vergessenheit geraten, und ihre wenigen Spuren sind nur im fernen China erhalten geblieben.

Artjom Kosmarskij für Fergana News

Aus dem Russischen von Robin Roth

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