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Baumwollernte in Usbekistan: Freiwillige Zwangsarbeit?

Anfang September begann in Usbekistan die alljährliche Baumwollernte unter dem Vorzeichen von besseren Arbeitsbedingungen, dem Ende der Zwangsarbeit und der Aufgabe des Baumwollproduktionsplanes. Doch trotz der vielversprechenden Maßnahmen von staatlicher Seite berichten ErntehelferInnen von Zwangsarbeit unter dem Deckmantel freiwilliger Beschäftigung.

Die Baumwollernte erfolgt nach wie vor nicht nur durch freiwillige Arbeit

Anfang September begann in Usbekistan die alljährliche Baumwollernte unter dem Vorzeichen von besseren Arbeitsbedingungen, dem Ende der Zwangsarbeit und der Aufgabe des Baumwollproduktionsplanes. Doch trotz der vielversprechenden Maßnahmen von staatlicher Seite berichten ErntehelferInnen von Zwangsarbeit unter dem Deckmantel freiwilliger Beschäftigung.

Seit rund drei Wochen ist die Baumwollerntesaison in Usbekistan wieder in vollem Gange. Allerdings verläuft in dieser Saison vieles anders als in den Vorjahren. Die usbekische Regierung hat nämlich Maßnahmen ergriffen, um die Arbeitsbedingungen der BaumwollpflückerInnen zu verbessern und den Baumwollsektor zu reformieren. Die Baumwolle als drittwichtigstes Exportgut hat schließlich einen großen Stellenwert für die usbekische Wirtschaft.

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Die Baumwollproduktion folgt einer Tradition, die bis in die Anfänge der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) reicht. Als wichtigster Baumwollproduzent der Sowjetunion galt die Republik als »Baumwollmacht«. Zugleich ist diese Geschichte geprägt von Zwangs- und Kinderarbeit, Umweltzerstörung und hinterließ gravierende sozioökonomische Folgen. Seit 2016 bemüht sich die Republik Usbekistan, diese Umstände zugunsten eines wirtschaftlichen Aufschwungs zu ändern. „Das Baumwollpflücken beginnt. Wir haben in dieser Angelegenheit große Fortschritte gemacht. Alle Botschafter und internationalen Organisationen schätzen den Erfolg Usbekistans sehr“, leitete die Vorsitzende des Senats Tanzila Narbayeva die Baumwollsaison 2020 ein.

Bis vor kurzem noch legte die Regierung jährlich einen Baumwollproduktionsplan fest. LandwirtInnen waren entsprechend gezwungen, eine bestimmte Menge an Baumwolle zu ernten. Falls sie diesen Soll nicht erfüllen konnten, wurden sie enteignet. Um das Ziel zu erreichen, durften die LandwirtInnen jedoch nicht selbstständig BaumwollpflückerInnen einstellen. Die lokalen Verwaltungen kümmerten sich stattdessen darum, dass ÄrztInnen, LehrerInnen, Studierende und staatliche Angestellte auf den Feldern arbeiteten. Schulen und Universitäten waren in diesen zwei Monaten geschlossen. Auch wenn es für die Betroffenen dem Lauf der Dinge entsprach, von September bis November Baumwolle zu pflücken, war dies kein freiwilliges Arbeitsverhältnis. Auch die Arbeitsbedingungen wurden immer wieder bemängelt.

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Diese menschenrechtswidrige Situation erhielt schließlich internationale Aufmerksamkeit. Die USA verhängte im Jahr 2012 ein Embargo und über 300 Marken boykottieren mittels des  »Uzbek Cotton Pledge« usbekische Baumwolle. Doch seit dem Amtsantritt des amiterenden Präsidenten Shavkat Mirziyoyev Ende 2016 wird die Baumwollproduktion zunehmend liberalisiert, um den Sektor zu modernisieren und Investoren anzulocken. Nachdem er bereits 2017 seine Absicht erklärte, die Zwangsarbeit abzuschaffen, folgte im Mai  2018 das erste Dekret gegen Zwangsarbeit. Doch trotz dieses Beschlusses behielt die Praxis bestand. Immerhin mussten nicht mehr Kinder Baumwolle ernten. Die USA hoben ihr Embargo auf.

Der internationale Druck hörte nicht auf, sodass die Regierung weitere Reformen durchsetzte. Dazu zählten etwa die Verschärfung der Gesetze bei Verstoß gegen Kinder- und Zwangsarbeit sowie der Aufbau von staatlichen Strukturen gegen Zwangsarbeit und Menschenhandel.

So resümierte die Internationale Arbeiterorganisation (ILO) in ihrem Bericht zur Baumwollernte im Jahre 2019: „Systematische Zwangsarbeit hat während der Baumwollernte 2019 nicht stattgefunden. Reformen werden Schritt für Schritt eingeführt und zeigen Wirkung.“ Demnach wurden auch keine Studierenden, Lehrenden oder medizinisches Personal auf den Feldern als BaumwollpflückerInnen eingesetzt. Gleichzeitig weist die ILO darauf hin, dass es „Schwierigkeiten in der Umsetzung [dieser Reformen] auf der lokalen Ebene gibt.“ Denn nach wie vor müssten schätzungsweise 102.000 Menschen (5,9 Prozent aller Beschäftigten) zwangsarbeiten, darunter Beamte und Angestellte von privaten Unternehmen.

Liberalisierung der Baumwollproduktion im März 2020

Erneut kam es zu Verkaufsschwierigkeiten der usbekischen Baumwolle auf dem Weltmarkt. Dies führte schließlich im März dieses Jahres zu einem historischen Moment: Mirziyoyev unterzeichnete ein Dekret zur marktwirtschaftlichen Öffnung des Baumwollsektors, das der staatlichen Quotierung der Baumwollernte ein Ende setzte. In diesem Zuge wurden auch die Aktien des Staatsunternehmens Uzpaxtasanoat an private InvestorInnen und Genossenschaften verkauft.

Im Anschluss daran wandte sich der Minister für Beschäftigung und Arbeit, Nozim Husanov, in einem Offenen Brief an die Vereinigung des »Uzbek Cotton Pledge«: „Wie die jüngsten gesetzlichen Reformen belegen, ist die Regierung von Usbekistan in Zusammenarbeit mit Wirtschafts- und zivilgesellschaftlichen Akteuren dazu bereit, ein neues Kapitel in der Reform der Baumwollindustrie zu beginnen.“ Weiter bittet er die Verantwortlichen: „Damit wir in diesem neuen Kapitel der usbekischen Bevölkerung bedeutungsvolle Veränderungen bringen können, rufe ich Sie dazu auf, den Boykott gegen usbekische Baumwolle zu stoppen.“ Dabei verweist er ebenso auf die sich verschlechternde ökonomische Situation der usbekischen Republik durch die Covid-19-Pandemie. Der Baumwoll- und Textilsektor ist somit besonders gegenwärtig für die usbekische Wirtschaft von enormer Relevanz.

Für Cotton Campaign waren die vorgenommen Reformen dennoch nicht ausreichend und sie verwiesen auf die weiterhin existierende Zwangsarbeit. „Jedes System, das wir zum Schutz von ArbeiterInnen und LandwirtInnen etablieren, kann nur funktionieren, wenn die usbekische Regierung nicht nur Reformen juristisch einleitet, sondern diese auch umsetzt.“, deklarierte die Mitbegründerin der Cotton Campaign, Patricia Jurewicz.

Reformen 2020

In Anbetracht dieser Standhaftigkeit leitete die usbekische Regierung zur Baumwollsaison 2020 weitere Reformen ein, um die Arbeitsbedingungen der BaumwollpflückerInnen zu verbessern. Dazu gehören unter anderem eine Lohnerhöhung, sodass die ErntehelferInnen nach Bekanntgabe des Landwirtschaftsministeriums für jedes Kilogramm Baumwolle 1.000 bis 1.400 Som (0,08 bis 0,11 Euro) erhalten. Im Vorjahr belief sich der Lohn noch auf 200 bis 800 Som (0,02 bis 0,07 Euro).

Außerdem erklärte der stellvertretende Minister Bahodir Umrzoqov in einem Interview mit kun.uz: „Erstmals wird die Baumwollernte in Usbekistan auf Basis von Verträgen organisiert.“ Dabei unterstrich Umrzoqov stets die Freiwilligkeit dieser Arbeitsverhältnisse und die Verpflichtung der ArbeitgeberInnen, Transportmittel, medizinische Untersuchungen und ausreichende Verpflegung gegenüber den ArbeitnehmerInnen bereitzustellen. Auch Kinder würden auf den Feldern nicht geduldet werden.

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Sodann wurden auch Webseiten eingerichtet, auf denen sich potenzielle ArbeitnehmerInnen einerseits registrieren und andererseits Verstöße gegen bestehende Regulierungen melden könnten. Grundsätzlich klang bei vielen offiziellen Stellungsnahmen der Regierenden etwas Warnendes und zugleich Beschwichtigendes an. Am 12. September kündigte etwa Narbayeva mit Nachdruck an: „Dieses Jahr werden wir nicht von zehn bis zwanzig, sondern von Millionen Augen kontrolliert. Daher sollte die Zwangsarbeit in Usbekistan vollständig beseitigt werden.“

Umrzoqov wies weiterhin darauf hin, dass insbesondere Menschen in Not wie arbeitslose junge Menschen, alleinstehende Mütter oder in Usbekistan verweilende ArbeitsmigrantInnen von der Baumwollernte profitieren würden. „Früher wurden [die BaumwollpflückerInnen] nicht von der Bezahlung angezogen, sondern von Versprechungen, Befehlen, Unhöflichkeiten und Einschüchterungen. Jetzt ist das alles vorbei“, betont der stellvertretende Arbeitsminister entschlossen gegenüber kun.uz.

Doch Zwangsarbeit hat auch 2020 Bestand

Zwei Wochen nach dem Beginn der Ernte scheinen diese öffentlichen Bekundungen im Lichte von Schilderungen des US-Amerikanischen Mediums RadioFreeEurope/RadioLiberty (RFE/RL) fragwürdig zu sein. Entgegen der Versprechung der Regierung berichtet RFE/RL von hunderten Beschwerden über Zwangsarbeit, die als freiwillige Arbeit verschleiert wird. Demnach erzählt ein anonymisierter Mitarbeiter eines Regionalbüros des Ministeriums für Notsituation davon, wie ihn seine Vorgesetzten zwangen „freiwillig auf die Baumwollfelder zu gehen“. Die Freiwilligkeit würde er dabei mit dem Unterschreiben des Arbeitsvertrages kundtun. Falls er dieser Anweisung nicht nachkommen sollte, drohten ihm seine Vorgesetzten nach eigenen Angaben: „Wenn du keine Baumwolle pflücken gehst, musst du jemand anderen suchen und ihm Gehalt zahlen.“ Auch Bankangestellte von staatlichen Banken wie der Hamkorbank beschrieben ähnliche Vorgehensweisen ihrer Vorgesetzten.

Diese Entwicklungen beunruhigen die Expertin für Wirtschaft und Menschenrechte, Komala Ramachandra von Human Rights Watch. Ihr zufolge gab es wesentliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Zwangsarbeit, doch „die Regierung in Taschkent bringt weiterhin Angestellte öffentlicher Institutionen und Unternehmen dazu, auf den Feldern zu arbeiten.“ Betroffen seien davon in erster Linie Bedienstete, Einsatzkräfte der Feuerwehr, KrankenpflegerInnen und Schulpersonal, die Angst um ihre Arbeit oder um den Verlust sozialer Leistungen hätten.

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Darüber hinaus kritisiert RFE/RL die nach wie vor niedrige Bezahlung, mit der selbst geübte BaumwollpflückerInnen nicht den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von 679.330 Som (rund 55 Euro) erreichen könnten. Zudem äußert die Menschenrechtsaktivistin Elena Urlayeva  gesundheitliche Bedenken hinsichtlich eines weiteren Ausbruchs des Covid-19-Viruses: „Hunderte von Menschen leben in Barracken unter unhygienischen Bedingungen.“

Insgesamt zeichnet sich also ab, dass zwar zahlreiche Reformen auf institutioneller Ebene auf den Weg gebracht worden sind, die sich positiv auf die Situation der ArbeiterInnen auswirkt. Nach wie vor bleiben jedoch verschiedene Arten der Zwangsarbeit ein Problem. Vergessen werden darf dabei nicht, dass diese Praxis in der Baumwollproduktion strukturell verankert ist und sich nicht augenblicklich ändern lässt. Für die Zukunft könnte vielleicht noch entscheidender werden, dass Usbekistan im Prozess einer wirtschaftlichen Diversifizierung ist. Im Rahmen dieses Plans wird die Bedeutung der Baumwollproduktion für die usbekische Wirtschaft immer weiter abnehmen. Die daraus resultierende geringere Nachfrage an ErntehelferInnen wirkt sich wohlmöglich positiv auf die Bekämpfung von Zwangsarbeit aus.

Jana Rapp

Journalistin für Novastan

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