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Die Geopolitik des Drogenhandels: Als das Opium Zentralasien regierte

Vor hundert Jahren florierte der Opiumhandel zwischen Russen, Kasachen, Kirgisen, Dunganen und Uiguren. Ein Wirtschaftszweig, den das Russische Reich erfolglos zu kontrollieren versuchte und der zu endlosen Streitigkeiten, Konflikten und Vertreibungen der Bevölkerung geführt hat. Der folgende Artikel erschien im russischsprachigen Original bei Fergana News. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Vor hundert Jahren florierte der Opiumhandel zwischen Russen, Kasachen, Kirgisen, Dunganen und Uiguren. Ein Wirtschaftszweig, den das Russische Reich erfolglos zu kontrollieren versuchte und der zu endlosen Streitigkeiten, Konflikten und Vertreibungen der Bevölkerung geführt hat. Der folgende Artikel erschien im russischsprachigen Original bei Fergana News. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Im 19. Jahrhundert wurde die Agrarkolonie Semiretschje in der Nähe des Sees Yssykköl und des Forts Wernij (das 1921 zu Almaty werden sollte) nicht nur dem Weizenanbau gewidmet. Im heutigen Grenzgebiet der Staaten Kasachstan und Kirgistan wurden auch tausende Hektar Mohn gepflanzt.

Wie kam es zu dieser Drogenwirtschaft? Welchen Einfluss hatten die Konflikte mit China und die darauf folgende Massenmigration von Dunganen und Uiguren ins russischee Generalgouvernement Turkestan? Wie haben die Beamten des Zaren davon profitiert und warum überlebte dieser Handel den Ersten Weltkrieg nicht? Der italienische Historiker Niccolò Pianciola, der an der Lingnan-Universität in Hongkong lehrt, hat sich mit all diesen Fragen befasst. Seine Studie „Illegal Markets and The Formation of a Central Asian Borderland: The Turkestan–Xinjiang opium trade (1881-1917)“, wurde im Journal Modern Asian Studies veröffentlicht.

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Für den Experten spielten Grenzen eine überwiegende Rolle. Sie sind nicht einfach nur Striche auf einer Landkarte, sondern ihr wohnen ganz eigene Mechanismen inne, die Menschen beiderseits einer Grenze miteinander verbinden. Im Zentralasien des 19. Jahrhunderts stand Opium im Mittelpunkt dieses Spielbretts: Die Militärbehörden in Semiretschje hielten den Drogenhandel bewusst aufrecht. Er wurde weder offiziell genehmigt, noch vollständig verboten. Auf diese Weise konnte sowohl die lokale Wirtschaft gestärkt, als auch gute Beziehungen zum chinesischen Reich unterhalten werden. Die Behörden in Wernij und St. Petersburg wussten lange Zeit nichts vom zentralasiatischen Drogenhandel, da die sich füllenden Taschen der russischen Grenzbeamten keinen Anlass zur Berichterstattung gaben.

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Der florierende Handel dauerte bis zum Ersten Weltkrieg an, als Zar Nikolaus II. versuchte, ein staatliches Opiummonopol zu errichten, um seine Armee mit Morphium zu versorgen. Dieses Geschäft hielt jedoch den Kriegshandlungen und den innenpolitischen Problemen von 1916 und 1917 nicht stand. 1916 griffen Dunganen und Kirgisen die slawischen Siedler aus Wut über den staatlichen Einfluss auf ihre Geschäfte an.

Aufstand in der Provinz Ili

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unterhielt das russische Reich im Gegensatz zu den Briten offiziell keinen Opiumhandel mit China. Der Handel in der Grenzstadt Kjachta zur heutigen Mongolei beruhte hauptsächlich auf Tee und Baumwolle. Während andere europäische Staaten in den Opiumkriegen aktiv waren, unterstützten die russischen Behörden die Qing-Dynastie (1644-1912) in ihrem Kampf gegen den Drogenhandel. Im Gegensatz dazu untergrub das zentralasiatische Khanat Kokand die zaristische Außenpolitik und handelte mit der chinesischen Provinz Gansu mit Opium. Von dort aus wurden das Opium ins Innere des russischen Reiches transportiert.

via Wikimedia Commons

In den Jahren 1860-1870 kam es im chinesisch regierten Ostturkestan (dem heutigen Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang) zu Aufständen. Die muslimischen Turkvölker und Dunganen rebellierten gegen die strauchelnde Qin-Dynastie. Es wurden gleichzeitig auch Zusammenstöße selbst zwischen Turkvölkern und Dunganen beobachtet. Das kurzlebige, von Emir Jakub Bek regierte Königreich Jetti-Schahr (1865-1878) wurde zu dieser Zeit im Gebiet des heutigen Kaschgar gegründet. Der Feldzug des chinesischen Generals Zuo Zongtang beendete schließlich die Autonomiebestrebungen der Muslime im Westen Chinas. Um den chinesischen Truppen zu entkommen, flohen Tausende ins russische Westturkestan.

Einige suchten Zuflucht im Ferganatal, andere ließen sich in Semiretschje nieder. General Zuo Zongtang setzte nach den Konflikten und dem Bevölkerungsschwund eine ambitionierte Politik zur Wiederbelebung der Wirtschaft der westlichen Provinzen Chinas an: Reparaturen der Bewässerungsinfrastruktur, Vertreibung chinesischer Siedler, Entwicklung der Seidenproduktion und Kontrolle des Mohnanbaus. Der Erfolg dieser Strategie war uneinheitlich, da Opium entweder aus dem russischen Turkestan oder aus Kaschmir und Indien in die Region importiert wurde.

via Bibliothèque Numérique Mondiale

Die chinesische Kontrolle über Xinjiang hatte zur Folge, dass es zwischen China und dem Russischen Reich keine natürliche Barrieren mehr gab. Das Zarenreich nutzte diese Entwicklung und besetzte die Provinz Ili, einen wichtigen strategischen Punkt in der fruchtbaren Region zwischen Kaschgar und der Dsungarei. Der Anstoß dieser Besetzung liegt bei den Lokalbehörden; dem Generalgouverneur von Turkestan, Konstantin von Kaufmann, und dem Militärgouverneur von Semiretschje, Gerasim Kolpakowskij.

Der Ansicht Niccolò Pianciolas nach wollte St. Petersburg vor allem eine Verstimmung mit Peking vermeiden und den lukrativen Opiumhandel damit beenden. Der von Schulden geplagte Gouverneur von Kaufman sagte jedoch, die Opiumproduktion sei ein effektiver Weg, um die Kassen wieder aufzufüllen. Die annektierten Gebiete wurden tatsächlich unter seine direkte Kontrolle gestellt. In der Provinz Ili wurden 32 Quadratkilometer für den Mohnanbau genutzt. Gouverneur Kolpakowskij bat Konstantin von Kaufmann persönlich um die Genehmigung, wie die Briten Opium in die südlichen Provinzen Chinas zu exportieren. Im Gegenzug wurde Silbererz nach Zentralasien eingeführt. 1881 wurde das Treiben des Gouverneurs gestoppt, als 80 Prozent der Provinz Ili an China abgetreten und der Opiumhandel in der Region verboten wurde.

Migranten und das Opium

Die Geschichte fängt hier gerade erst an. Das Russische Reich wurde von vielen Dunganen und Tarantschis (Uiguren aus der Provinz Ili) bewohnt, deren Umsiedlung von staatlichen Behörden unterstützt wurde. Ihre Wirtschaft war nach wie vor auf das benachbarte Xinjiang ausgerichtet, das durch eine zunehmend bewachte Grenze von Semiretschje getrennt war. In der Region entstand eine grenzüberschreitende Wirtschaft, betont Niccolò Pianciola.

Die Umsiedlung der Migranten in weit entfernte Orte war für viele nicht angenehm. Viele Dunganen weigerten sich, in den ihnen zugewiesenen Dörfern Tokmok und Prschewalsk zu leben, und stahlen sich sich zurück in die Grenzgebiete, von wo aus sie Überfälle gegen Chinesen starteten. Die Angriffe führten dazu, dass mehr als die Hälfte der örtlichen Gefängnisbevölkerung Dunganen waren. Im Laufe der Zeit haben sie sich wohl oder übel mit ihrer neuen Lebensweise abgefunden und nach Anraten der Behörden begonnen, Gemüse und Weizen anzubauen und von Semiretschje nach Westchina zu exportieren.

Das Opium kehrte damit zurück ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Bereits 1879 wurden im heutigen kirgisischen Bezirk Yssykköl wieder viele Hektar Mohn gepflanzt. Semiretschje wurde schnell zur Hauptquelle von Opium für Xinjiang, wo sich der Preis infolge der Wirtschaftspolitik von General Zuo Zongtang inzwischen verzehnfachte. In den Bezirken Prschewalsk (heute Karakol, Anm. d. Red.) und Jarkent wuchs die Produktion von Opium erheblich. Die Dunganen vertrieben  teils auch die Tarantschi aus den fruchtbaren Gebieten am Grenzfluss Ili, um dort den rentablen Mohn an Stelle von Reis anzubauen.

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Der Mohnanbau und der lukrative Opiumhandel wurden durch die Untätigkeit der russischen Behörden ermöglicht. Das Fehlen von Kosaken, zur Patrouille an der 1.600 Kilometer lange Grenze zu China, ist nicht der einzige Grund. Niccolò Pianciola weist darauf hin, dass die lokalen Behörden dieses Geschäft stillschweigend ignoriert haben. Während die russischen Zollbestimmungen von 1881 die Einfuhr von Opiaten untersagten, gab es keine Ausfuhrbestimmungen. Es gab auch kein Gesetz, das den Mohnanbau und die Opiumproduktion in Semiretschje verbot. Zwar war der russisch-chinesische Grenzvertrag von 1881 noch in Kraft, und ein Rundschreiben des Generalgouverneurs aus dem Jahr 1883 erlaubte nur Personen mit besonderer Konzession den Handel „giftiger und berauschender Stoffe“ – aber selbst bei einer eindeutigen Rechtslage fehlten schlicht die nötigen Zoll- und Grenzbeamten (der Zoll von Prschewalsk hatte bis 1914 nur sechs Beamte), um den Opiumhandel zu unterbinden. Der Großteil der Lieferungen wurden von Kirgisen getätigt. Sarten und Chinesen passierten nicht durch Prschewalsk, sondern durch die Provinz Ili.

Trotz der formellen Verbote wurde der Opiumhandel von chinesischen Händlern gefördert. Sie gewährten den Dunganen und Uiguren von Semiretschje nicht nur Kredite, sondern sie mieteten auch Land in Turkestan und ließen es von Saisonarbeitern aus Xinjiang kultivieren. Es scheint offensichtlich, dass die lokalen chinesischen Behörden davon wussten und ihr Provisionen einzogen. Erst 1906-1907 unterzeichnete das Qing-Reich eine Reihe von Verträgen, mit denen der Opiumanbau mit den westlichen Mächten bekämpft werden sollte. Der chinesische Kampf gegen die Drogen schien Früchte zu tragen.

via Wikimedia Commons

Die Schwarzimporte aus dem russischen Reich gingen jedoch weiter. Kasachen und Kirgisen liefen den Dunganen bald den Rang beim Schmuggel ab. Das Weiden ihrer Herden in Grenznähe diente als Vorwand für den Warenhandel. Es waren zudem russische und ukrainische Bauern, die infolge Pjotr Stolypins Agrarreformen zugewandert waren und sich nun am Drogenhandel beteiligten. 1911 produzierten allein zwei russische Dörfer in der Nähe von Prschewalsk nicht weniger als 2,53 Tonnen Opium.

Als die chinesische Revolution von 1911 die Qing-Dynastie stürzte und Chaos an der Grenze zu Russland verursachte, florierte das Geschäft in Semiretschje weiter. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs beschreiben Zeugen Mohnfelder, soweit das Auge um Prschewalsk sehen konnte. Die erwirtschafteten Gewinne bereicherten allerdings nur die bereits Wohlhabenden. Die normale Bevölkerung, der Getreide und damit billiges Brot entzogen waren, litt unter den Folgen des Opiumhandels.

Eine ungeschickte Monopolisierung

Vor Kriegsbeginn importierte das Russische Reich zwischen acht und achtzehn Tonnen Opium pro Jahr für seine Pharmaindustrie. Dieser Import versiegte jedoch, da der Hauptexporteur das Osmanische Reich war, das dem Reich den Krieg erklärte. Unterdessen stieg der Preis für opiumhaltige Schmerzmittel wie Morphium, das für Millionen Verwundete an der Front benötigt wurde, sprunghaft an. Die russischen Behörden versuchen nun, Opium aus Indien und Persien zu importieren, was den Mengenbedarf allerdings nicht deckte. Die Aufmerksamkeit der Regierung konzentrierte sich nun auf Semiretschje, wo die Unterdrückung der Mohnproduktion in der Zwischenzeit zunahm und sich die Geldstrafen vervielfachten.

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1916 versuchten die Behörden, die Größe der für den Mohnanbau bestimmten Anbaufläche zu schätzen und Lizenzen zu erteilen. Im Bezirk Prschewalsk wurden über 3.250 Hektar genehmigt, 500 im Bezirk Jarkent und 200 im Bezirk Pischpek (heute Bischkek, Anm. d. Red.). In der Realität verreinahmte der Mohn jedoch zwischen 6.000 bis 35.000 Hektar Land in Semiretschje, dessen Kultivierung sich weitgehend der staatlichen Kontrolle entzog.

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Um Exporte nach China zu verhindern, wurden in jedem Distrikt Inspektoren ernannt, die von der polizeilichen Reiterstaffel unterstützt wurden und über spezielle Labors verfügten. Für jedes Hektar Land gab es einen festgelegten Produktionswert für eine von der Regierung erworbene Summe. Die Preise wurden gemäß dem Morphingehalt bestimmt, der in den Laboren ermittelt wurde. Diese Monopolstrategie war jedoch zum Scheitern verurteilt: In China wurden unabhängig vom Morphingehalt 40 Rubel pro Pfund Opium gezahlt, während der staatliche Preis zwischen 7 und 15 Rubel betrug. Die Bauern begannen daher, das geerntete Opium dem Staat vorzuenthalten.

via Wikimedia Commons

1916 begann der Aufstand der Basmatschi, der ursprünglich durch eine allgemeine Mobilisierung von Muslimen in der Region ausgelöst wurde. In Semiretchje fanden die Kämpfe besonders stark im Bezirk Prschewalsk statt. Laut Niccolò Pianciola kann die Brutalität der Ereignisse weitgehend durch die Bedeutung des Opiumhandels erklärt werden. Der Versuch der russischen Behörden, die Grenze zu schließen und die Produktion zu kontrollieren, erzürnte die Dunganen, Kirgisen und Tarantschis und ließ sie rebellieren. Das Vorgehen der Regierung war unerbittlich und viele Dunganen in Prschewalsk wurden getötet oder gezwungen, nach China zu fliehen. Auf der Flucht vor den Pogromen wanderten Hunderttausende Kasachen, Kirgisen, Dunganen und Tarantschis nach Xinjiang aus. Der Opiumhandel in der Region brach damit zusammen.

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Niccolò Pianciola unterstreicht die Bedeutung der Grenze für die opiumgetriebene Wirtschaft in Semiretschje Einmal schützte sie Dunganen und Tarantschis vor den Repressionen des chinesischen Reichs, ein anderes Mal ermöglichte sie ihnen den Güterverkehr. Dieses System bewies, dass der Markt damals die Politik übertraf: Das Angebot aus Turkestan und die Nachfrage in Xinjiang und im Inneren Chinas zwangen die russischen und chinesischen Behörden, diesen Handel zu billigen und sogar zu persönlichen Zwecken auszunutzen. Der Übergang ins 20. Jahrhundert veränderte die Situation beidseits des Flusses Ili und staatliche Autoritäten gewannen schließlich die Oberhand über Wirtschaft und Gesundheitsschutz.

Artjom Kosmarskij, Journalist für Fergana News

Übersetzt von Robin Shakibaie

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