In dem isolierten zentralasiatischen Land ist ein Großteil der Bevölkerung auf subventionierte Lebensmittel angewiesen, die in staatlichen Läden ausgegeben werden. Doch aus konjunkturellen und strukturellen Gründen werden die versprochenen Rationen nicht immer geliefert, und seit einiger Zeit wächst die Unzufriedenheit der Menschen.
In mehreren Provinzen des Landes wurden in diesem Sommer die versprochenen Mehl- und Butterrationen verspätet geliefert. Radio Azatlyk berichtet sogar von Zusammenstößen und Schlägereien vor Regierungsläden. Im Juli starb im Bezirk Görogly eine Mutter von sechs Kindern, nachdem sie in einer Menschenmenge gestürzt war. In Türkmenbaşy schließlich griff die Bevölkerung im Juni ein Regierungsgeschäft an.
Unterstützt Novastan – das europäische Zentralasien-Magazin
Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Die ehemalige Sowjetrepublik, die über die viertgrößten Gasreserven der Welt verfügt, war seit 1993 nicht mehr an Engpässe bei den Lebensmittelrationen gewöhnt. Doch der Zusammenbruch der Weltmarktpreise für Kohlenwasserstoffe im Jahr 2014 und der anschließende Rückzug des Landes von der russischen Gazprom führten zu einer Zahlungsbilanzkrise, wie die Energy Policy Group berichtet. Die Schließung der Grenze zum Iran im Jahr 2019, über die normalerweise 80 Prozent der Lebensmittelimporte abgewickelt werden, hat zu weiteren Engpässen und Preissteigerungen geführt, erklärt Turkmen News.
Situation wird seit 2017 von den Machthabenden ignoriert
In Aşgabat bilden sich vor Sonnenaufgang lange Schlangen von Menschen, die Brot kaufen wollen. Dies geschah zum ersten Mal Ende 2017, wurde aber von den Behörden nie öffentlich anerkannt. Zeitweise wurde die Polizei mobilisiert, um die Schlangen aufzulösen, die dem Ansehen des Präsidenten „schadeten“: Schließlich widersprach die Situation der offiziellen Darstellung eines wohlhabenden Landes und der turkmenischen Bevölkerung, die „in einer Ära der Macht und des Glücks“ lebe.
In einem der am stärksten abgeschotteten Länder der Welt (Platz 176 von 180 bei der Pressefreiheit) gehören Zensur und Überwachung zum Alltag. Das staatliche Fernsehen berichtet nur von üppigen Regalen mit Getreide- und Fleischprodukten sowie buntem und süßem Obst und Gemüse in den Geschäften.
Zwei Versorgungswege
In Turkmenistan gibt es zwei Systeme für den Kauf von Lebensmitteln. Auf der einen Seite verkaufen private Geschäfte und Basare die Lebensmittel zu Marktpreisen, die für einen Großteil der turkmenischen Bevölkerung unerschwinglich sind. Zum anderen können Grundnahrungsmittel zu Vorzugspreisen erworben werden. Dazu muss ein Familienstammbuch vorgelegt werden, das den Wohnsitz und die Familienzusammensetzung nachweist.
Lest auch auf Novastan: Aschgabat verschwindet von Liste der teuersten Städte für Expats
Ein Kilogramm Mehl, das in einem privaten Geschäft 6 Manat (1,60 Euro) kostet, ist in einem staatlichen Geschäft für 1,5 Manat (0,40 Euro) zu haben. Die Regel lautet: 5 Kilogramm Mehl pro Person und Monat. In der Praxis werden die vereinbarten 5 Kilogramm jedoch selten vollständig und oft erst mit monatelanger Verspätung verteilt und sind oft nicht zum Verzehr geeignet.
Unzureichende Produktion
Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die durch die Turbulenzen auf dem Gasmarkt noch verschärft wurden, reichen die Lebensmittelgutscheine nicht mehr aus. Ihre Einlösung wird streng kontrolliert. Im April 2022 bestraften die Behörden in Aşgabat alle, die mehr Brot kauften, als ihnen zustand, mit bis zu 15 Tagen Gefängnis. Viele Menschen beschweren sich auch über eine informelle Regel, die den Kauf subventionierter Produkte vom Kauf unerwünschter, aber lokal hergestellter Produkte abhängig mache.
Und jetzt, wo immer mehr Menschen auf subventionierte Lebensmittel angewiesen sind, wird die Abschaffung der Preisobergrenzen in den staatlichen Geschäften von den Machthabenden immer wieder ins Gespräch gebracht, da sie der Meinung sind, die Bevölkerung brauche diese nicht mehr. Die seit 1993 kostenlose Versorgung mit Wasser, Gas und Strom, die durch Gaseinnahmen ermöglicht wurde, wurde ab 2017 schrittweise reduziert und 2019 ganz abgeschafft.
Die Nachrichtenagentur Trend berichtete Anfang September über den Kauf von 54.000 Tonnen Mehl aus Russland. Turkmenistan produziert zwar durchschnittlich über eine Million Tonnen Weizen pro Jahr. Das ist aber nicht genug, um den Bedarf der offiziell sechs Millionen Einwohnenden zu decken. Das planwirtschaftliche Landwirtschaftsmodell ist ein Erbe der sowjetischen Vergangenheit, erklärt The Diplomat. Der Staat kontrolliert 90 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion.
Land wird an Bauern nur unter der Bedingung verpachtet, dass sie Weizen oder Baumwolle anbauen. Letztere wird dabei hauptsächlich für den Export produziert. Zu allem Überfluss wurde die Ernte 2020 von Heuschrecken vernichtet.
Lest auch auf Novastan: Zentralasien droht eine der schlimmsten Heuschreckenplagen der letzten Jahrzehnte
Schwarzmarkt, leere Taschen, volle Kassen
Die Abwertung des Manat Anfang 2015 um fast 20 Prozent (auf rund 0,94 Euro) hat neben der Korruption den Schwarzmarkt deutlich gestärkt. Da der turkmenische Manat außerhalb des Landes nicht konvertierbar ist, schreckt der erschwerte Zugang zu Devisen Importeure ab.
Lest auch auf Novastan: Turkmenistan verbietet Abhebungen in Fremdwährung
Dabei mangelt es Turkmenistan nicht an Geld. In Aşgabat, der scheinbar makellosen Hauptstadt mit ihren Türmen aus Stein und weißem Marmor, häufen sich weitere Architekturprojekte. Zu den jüngsten Fantasien des turkmenischen Präsidenten gehört eine sechs Meter hohe Statue aus massivem Gold, die einen Hund der Rasse Alabai darstellt. Dieser stelle das Regime als Symbol der nationalen Identität dar, wie Eurasianet berichtet. Dass die Kassen des Landes nicht leer sind, zeigt auch der Bau einer neuen Stadt für über 4,5 Milliarden Euro.
Eléonore Darasse, Redakteurin für Novastan
Aus dem Französischen von Michèle Häfliger
Noch mehr Zentralasien findet ihr auf unseren Social Media Kanälen: Schaut mal vorbei bei Twitter, Facebook, Telegram, Linkedin oder Instagram. Für Zentralasien direkt in eurer Mailbox könnt ihr euch auch zu unserem wöchentlichen Newsletter anmelden.