Startseite      Warum die EU tadschikistanische Oppositionelle abschiebt

Warum die EU tadschikistanische Oppositionelle abschiebt

EU-Mitgliedsländer schieben weiterhin Staatsbürger Tadschikistans in ihre Heimat ab. Viele der Oppositionellen und Dissidenten unter ihnen waren vor der Repression geflohen und hatten auf politisches Asyl gehofft. Radio Ozodi zeichnet eine Chronik der Ereignisse nach und bespricht die Gründe für das menschenrechtlich äußerst zweifelhafte Vorgehen der EU.

EU-Mitgliedsländer schieben weiterhin Staatsbürger Tadschikistans in ihre Heimat ab. Viele der Oppositionellen und Dissidenten unter ihnen waren vor der Repression geflohen und hatten auf politisches Asyl gehofft. Radio Ozodi zeichnet eine Chronik der Ereignisse nach und bespricht die Gründe für das menschenrechtlich äußerst zweifelhafte Vorgehen der EU.

Abschiebungen aus Schweden im Jahr 2024

Anfang des Jahres wurde Farchod Negmatow abgeschoben. In den sozialen Medien hatte er die tadschikischen Behörden regelmäßig kritisiert. Am 27. Dezember 2024 beschlossen schwedische Behörden seine Ausweisung nach Duschanbe. Nach Angaben von Radio Ozodi (der tadschikischen Redaktion von Radio Free Europe, Anm. d. Ü.) begründeten sie diese damit, dass der Mann im Verdacht stehe, Mitglied einer extremistischen Organisation zu sein.

Mit ihm flogen auch seine drei minderjährigen Töchter zurück nach Tadschikistan. Unmittelbar nach seiner Ankunft nahmen Polizisten den dreifachen Vater fest und übergaben die Kinder ihren Verwandten. Seine Frau entkam der Abschiebung, da sie sich in einem anderen europäischen Land aufhielt.

Anonyme Quellen aus der im Ausland lebenden tadschikischen Opposition berichteten Ozodi, dass Menschenrechtsaktivisten nach Negmatows Verhaftung versuchten, den schwedischen Behörden die Situation der oppositionell gesinnten Tadschikistaner zu erklären. Dabei betonten sie, dass ihnen in ihrem Heimatland Folter und Gefängnisstrafen drohen würden. Ihre Argumente fanden jedoch kein Gehör.

Abschiebungen aus Deutschland und Polen im Jahr 2024

Im November 2024 schob Deutschland den tadschikischen politischen Aktivisten Dilmurod Ergaschew ab. Er ist Mitglied der Oppositionsbewegung Gruppe 24, die der tadschikische Staat als verbotene Organisation eingestuft hat. Wenige Tage zuvor lag Ergaschew noch im Krankenhaus, nachdem er sich aus Verzweiflung die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Trotzdem beharrte der deutsche Staat weiterhin auf Ergaschews Abschiebung.

Bei der Übergabe in Duschanbe stülpten die tadschikischen Sicherheitsdienste dem Gefangenen im Beisein deutscher Polizeibeamter einen Sack über den Kopf, berichtet Ozodi. Daraufhin schlugen sie auf ihn ein. Ergaschewhatte seit 2011 in Deutschland gelebt. Die Behörden hatten seine wiederholten Anträge auf politisches Asyl jedes Mal abgelehnt.

Im April 2024 schoben polnische Behörden den oppositionellen Aktivisten Farruch Ikromow nach Tadschikistan ab. In Polen hatte der 36-jährige mit seiner Frau und zwei Kindern gelebt. Zurück in seiner Heimat verurteilte ihn ein Gericht nach einem geschlossenen Verfahren zu 23 Jahren Haft.

Lest auch auf Novastan: Vier weitere Jahre Haft für Tschorschanbe Tschorschabijew

Berichten zufolge hatte er im September 2023 an den Protesten der tadschikischen Opposition in Berlin teilgenommen, als gerade der tadschikische Präsident Emomali Rahmon zu Besuch war. Protestierende hatten dessen Wagenkolonne mit Eiern beworfen.

Warschau verweigerte Ikromow Asyl, so Abdusattor Bobojew, Leiter des Bürgerkomitees zur Rettung politischer Geiseln und Gefangener in Tadschikistan.

Auf einer Pressekonferenz im Februar 2024 berichtete der tadschikische Generalstaatsanwalt, dass im Vorjahr mehr als 200 Staatsangehörige auf Ersuchen von Duschanbe aus dem Ausland zurückgeführt worden seien. Allen war der Vorwurf gemein, Straftaten in ihrem Heimatland begangen zu haben. Wie viele von ihnen Oppositionelle oder Bürgerrechtler waren, ist nicht bekannt.

Abschiebungen vor 2024

Im Jahr 2022 hatten Russland und andere Länder bereits etwa 100 Personen ausgeliefert, unter ihnen 18 Personen, die der tadschikische Staat des Terrorismus und Extremismus verdächtigte. Hierbei handelt es sich um die beiden meistverbreiteten Anschuldigungen gegen Oppositionelle.

Eine Ausweisung mit ähnlichem Charakter hatte der deutsche Staat im Jahr 2023 durchgeführt. Opfer dieser war Bilol Kurbonalijew, ebenfalls Mitglied der Gruppe 24. Im selben Jahr hatte er hierzulande an Protesten gegen den Besuch des Präsidenten Rahmon teilgenommen. Im selben Zeitraum traf es in Deutschland auch Abdullo Schamsiddin. Der tadschikische Staat beschuldigte ihn des „Umsturzversuchs„. Schamsiddin ist der Sohn des Oppositionsaktivisten Schamsiddin Saidov, der ebenfalls im Ausland lebt. Tadschikische Gerichte verurteilten Kurbonalijew und Schamsiddin in geschlossenen Verfahren zu zehn bzw. sieben Jahren Haft.

2020 bewirkte Duschanbe die Auslieferung des Regimekritikers Hisbullo Schowalisoda durch österreichische Behörden. Drei Monate später verurteilte der Staat ihn wegen „Hochverrats“ und „Mitwirken in einer verbotenen Organisation“ zu 20 Jahren Haft.

2019 schoben polnische Behörden außerdem Mustofa Najotow ab, einen weiteren Aktivisten der Gruppe 24.

Abschiebungen aus Nicht-EU-Ländern

Nicht nur die Europäische Union arbeitet bei der Ausweisung tadschikistanischer Oppositioneller und Bürgeraktivisten mit Duschanbe zusammen.

Im Jahr 2023 lieferte Weißrussland Nisomiddin Nasriddinow, ebenfalls ein Mitglied der Gruppe 24, aus. In seinem Heimatland erhielt eine Haftstrafe von 8,5 Jahren Haft. Der Vorwurf: Extremismus.

Im selben Jahr lieferte Russland Asliddin Scharipow an die tadschikischen Behörden aus. Es handelt sich dabei um den Bruder von Schawkat Muchammad, dem Direktor der oppositionellen Website Pajem TV. Duschanbe beschuldigte ihn der Zusammenarbeit mit der Gruppe 24 sowie der ebenfalls in Tadschikistan seit 2015 (Anm. d. Ü.) verbotenen Islamischen Wiedergeburtspartei Tadschikistans (IWPT). Seine Haftstrafe beläuft sich auf 12 Jahre.

Vor illegalen Methoden sind Abgeschobene keinesfalls gefeit. Davon zeugt beispielsweise die regelrechte Entführung von Suchrob Safar, dem Anführer der Gruppe 24, und seinem Kollegen Nasimdschon Scharifow aus dem Jahr 2024. Türkische Sicherheitsdienste hatten sie damals schließlich nach Duschanbe gebracht, wo ihnen 30 bzw. 20 Jahre Haft bevorstehen.

Kleine Erfolge

In einigen Fällen bewirkten Menschenrechtsaktivisten allerdings auch die Freilassung tadschikistanischer Aktivisten.

Im Jahr 2019 hatten russische Behörden den in Europa lebenden Scharofiddin Gadojew in Moskau illegal festgenommen und anschließend nach Duschanbe zwangsausgewiesen. Von dort aus machte er, wahrscheinlich unter Zwang, eine denunziatorische Videoaussage. Aufgrund des internationalen Drucks ließ Duschanbe den ehemaligen Leiter der Gruppe 24 jedoch frei und gewährte ihm die Ausreise nach Frankfurt.

Im Jahr 2024 ließen die litauischen Behörden auf Druck von Menschenrechtsaktivisten Sulaimon Dawlatow, Mitglied der Gruppe 24, frei. Zuvor hatten sie ihn auf Ersuchen von Duschanbe festgenommen und für zwei Monate inhaftiert.

„Flirtet“ der Westen mit den zentralasiatischen Ländern?

Die internationale Menschenrechtsorganisation Freedom House hat 2024 einen Bericht über Länder herausgegeben, deren Behörden Oppositionelle im Ausland verfolgen. Dem Bericht zufolge gehörte Tadschikistan 2024 zu den fünf repressivsten Staaten, was die Gesamtzahl der grenzüberschreitenden Verfolgungen angeht. Diesen Platz teilt sich das Land mit China, der Türkei, Russland und Ägypten.

Ein Mitarbeiter der tadschikischen Strafverfolgungsbehörden offenbarte Ozodi, warum europäische Länder seiner Ansicht nach regelmäßig mit Tadschikistan in Abschiebeangelegenheiten zusammenarbeiten. Auf den ersten Blick erscheint dies obskur, steht der autoritäre Staat doch aufgrund von Menschenrechtsverletzungen international regelmäßig in der Kritik. Der Behördenangestellte, der dabei auf Anonymität bestand, hob allerdings den erheblichen Beitrag der Regierungen der kooperierenden Länder hervor.

„Der Generalstaatsanwalt unternahm mehrere Reisen nach Europa. Dort traf er sich mit seinen Kollegen, nicht zuletzt um über die Auslieferung gesuchter Personen zu sprechen. Außerdem spielte die Tatsache, dass Tadschikistaner 2024 an vielen aufsehenerregenden Terroranschlägen beteiligt waren, eine maßgebliche Rolle. Die Anschläge in der Crokus-City-Hall in Moskau, in der iranischen Stadt Kerman sowie in Kabul ereigneten sich in nicht weniger als den ersten drei Monaten des vergangenen Jahres und forderten zahlreiche Opfer“, so der Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörde.

Er ergänzte, dass die Reaktion der Türkei und der Vereinigten Arabischen Emirate auf diese Terroranschläge ebenfalls Auswirkungen hatten. Beide Länder führten eine Visaregelung für Tadschikistaner ein und verschärften die Anforderungen für ihren Aufenthalt.

„Europa empfängt unsere Flüchtlinge nun nicht mehr mit offenen Armen. Viele von ihnen hofften auf die Gunst der Stunde und versuchten ihr Glück mit einem Asylantrag. Unter den dreitausend tadschikischen Flüchtlingen im Westen sind allerhöchstens 100-150 wahrhaftige Oppositionelle. Die übrigen nehmen unter dem Druck der Opposition abwechselnd an vereinzelten Protesten teil und gehen dann wieder ihrer Arbeit nach. Den Geheimdiensten der Ankunftsländer entgeht dies nicht. Wenn Duschanbe dann einen Suchantrag stellt, nehmen sie den Gesuchten fest und übergeben ihn den tadschikischen Behörden.“

Die politischen Zusammenhänge

Alischer Ilchamow, Direktor von Central Asia Due Diligence, einer in London ansässigen Denkfabrik, ist ebenfalls der Meinung, dass die jüngsten Verwickelungen von Zentralasiaten in terroristische Aktivitäten zu mehr Abschiebungen führen.

„Natürlich handelt es sich um Einzelfälle, nichtsdestotrotz beeinflussen sie die Entscheidungen der europäischen Länder und ihrer Staatsorgane.“

Ilchamow bringt jedoch einen weiteren Faktor auf den Plan: die allgemeine Zunahme einer migrationsfeindlichen Stimmung. Diese sei nicht nur in Russland, sondern auch in westlichen Ländern zu beobachten.

Lest auch auf Novastan: Duschanbe plant Bau einer U-Bahn

„Während sich [diese Stimmung] in Russland in direktem, massenhaftem Druck auf Migranten seitens der Polizei äußert und in Versuchen, Zentralasiaten für den Krieg in der Ukraine zu rekrutieren, kommt sie im Westen in der Popularität rechtsextremer Parteien zum Ausdruck. Liberalere Parteien, die ihre Macht behalten wollen, stehen deshalb unweigerlich unter Zugzwang. Das führt in der Konsequenz zu mehr individuellen Abschiebungen. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Justizbehörden in ihrem Handeln von der Exekutive abhängen“, meint der Experte.

Ilchamow glaubt dahinter auch einen politischen Zusammenhang zu erkennen: Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und den wachsenden politischen Spannungen flirtet der Westen in gewisser Weise mit den zentralasiatischen Ländern.

„Die westlichen Länder versuchen zu verhindern, dass die Länder unserer Region zu sehr von Russland und China abhängig werden. In der Konsequenz machen sie so manche Zugeständnisse in Menschenrechtsfragen und verlassen sich dabei allzu sehr auf die Gerichtsentscheidungen besagter Länder.“

Die Entwicklung der Beziehungen

Temur Umarow, Forscher am Carnegie-Zentrum für Russland- und Eurasien-Studien in Berlin, stellt gleichermaßen fest, dass sich die Dynamik in den zentralasiatisch-europäischen Beziehungen in den letzten Jahren verändert hat.

„[Die westlichen Länder] kokettieren mit der Förderung demokratischer und liberaler Werte, arbeiten aber nach wie vor Schulter an Schulter mit den bestehenden politischen Regimen. Sie versuchen, diese nicht unter Druck zu setzen, ihnen nichts zur Last zu legen, einen Konfrontationskurs zu vermeiden. Stattdessen versprechen sie, in die Zivilgesellschaft, in die Bildung und andere humanitäre Bereiche zu investieren. Vergleicht man die Situation mit den 1990er Jahren, so hat sich der Ton in den Beziehungen zwischen den westlichen Ländern und den zentralasiatischen Staaten verändert, sie erscheinen nun eher wie Verbündete.“

Umarow fügte hinzu, dass die zentralasiatischen Regime zudem Profit aus der terroristischen Bedrohung ziehen, was die europäischen Länder schmerzhaft zu spüren bekommen.

„Die Angst vor Terroranschlägen in der EU ist real. Darum nehmen sie dort jede offizielle Information ernst, die diesen oder jenen Asylbewerber als potenziellen Terroristen charakterisiert. Andere Informationsquellen vernachlässigen sie häufig. Das Problem erwächst im Grunde aus einer unzureichenden Sensibilisierung und eines mangelnden Verständnisses für die Situation in Tadschikistan, sodass das Anti-Terror-Argument Vorrang hat.“

Das ungenügende Hintergrundwissen der EU

Der Experte bezeichnet die im Ausland lebende tadschikische Opposition als „zersplittert„. Das hindere sie daran, die Interessen ihrer von Abschiebung bedrohten Gleichgesinnten zu vertreten und die europäischen Verantwortlichen Punkt für Punkt über die tatsächliche Lage in Tadschikistan zu unterrichten.

„Es gibt einige Aktivisten, die diese Arbeit auf sich nehmen, doch ihr Vorgehen ist nicht systematisch. Gleichzeigt wissen die Leute, die über Abschiebungen entscheiden, nicht über deren Lage Bescheid. Sie begreifen nicht, wer da vor ihnen steht – ein politischer Flüchtling oder eine Person, die schlicht die Migrationspolitik ausnutzt, um den Flüchtlingsstatus zu erlangen und in einem europäischen Land Fuß zu fassen.“

Viele oppositionell gesinnte Tadschikistaner, die mit dem politischen Kurs des Rahmon-Regimes und der Einschränkung der Meinungs- und Religionsfreiheit nicht einverstanden waren, sahen sich nach 2014-2015 gezwungen, nach Europa auszuwandern. Diese Tendenz verstärkte sich maßgeblich, als der Oberste Gerichtshof Tadschikistans in einem ersten Schritt die Gruppe 24 als „extremistische Organisation“ anerkannte und daraufhin die Islamische Wiedergeburtspartei zu einer „terroristischen Organisation“ erklärte. Die Aktivitäten beider Gruppierungen sind seitdem untersagt.

Lest auch auf Novastan: Trotz drohender Gefängnisstrafe: Deutschland schiebt tadschikischen Oppositionellen ab

Die investigative russisch- und englischsprachige Internetzeitung The Insider und die polnische Wochenzeitung Polityka kamen nach einer Untersuchung der Ausweisungen tadschikischer Staatsangehöriger zu dem Schluss, dass „[der tadschikische Präsident] Emomali Rahmon die Angst vor ISIS [in Europa] nutzt, um ganze Familien von Emigranten zu verfolgen […], und die europäischen Behörden die Akten nicht wirklich verstehen und Bürger an Rahmon ausliefern, deren Anschuldigungen gegen sie wissentlich gefälscht sind.“

Die tadschikischen Behörden haben sich nicht öffentlich zu den Vorwürfen geäußert, dass sie Profit aus den Auslieferungsvereinbarungen mit europäischen Ländern schlagen, um Regimegegner zu verfolgen.

Radio Ozodi

Aus dem Russischen von Arthur Siavash Klischat

Noch mehr Zentralasien findet ihr auf unseren Social Media Kanälen: Schaut mal vorbei bei Twitter, Facebook, Telegram, Linkedin oder Instagram. Für Zentralasien direkt in eurer Mailbox könnt ihr euch auch zu unserem wöchentlichen Newsletter anmelden.

Kommentare

Your comment will be revised by the site if needed.