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Was Chorasan für den „Islamischen Staat“ bedeutet

Seit dem Anschlag auf die Crocus City Hall stellen einige Medien Zentralasien im Allgemeinen und vor allem Tadschikistan als Brutstätte für Terrorismus dar. Dabei offenbart ein Blick auf die Geschichte und die Lebensbedingungen im Land, dass es insbesondere dem „Islamischen Staat“ gelingt seinen politischen Diskurs in einer Weise anzupassen, dass er den Zielgruppen legitim erscheint.

Das befestigte Dorf Lasgirt in Chorasan in Oberpersien. Gemälde von Jules Laurens.

Seit dem Anschlag auf die Crocus City Hall stellen einige Medien Zentralasien im Allgemeinen und vor allem Tadschikistan als Brutstätte für Terrorismus dar. Dabei offenbart ein Blick auf die Geschichte und die Lebensbedingungen im Land, dass es insbesondere dem „Islamischen Staat“ gelingt seinen politischen Diskurs in einer Weise anzupassen, dass er den Zielgruppen legitim erscheint.

Der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) besteht fort. Zu dem Terroranschlag auf die Crocus City Hall bei Moskau am 22. März, bei dem 145 Menschen ums Leben kamen, bekannte sich der Islamische Staat – Khorasan (IS-K). Vier Männer mit tadschikischer Staatsbürgerschaft wurden verhaftet, gefoltert und vor Gericht gestellt. Seit Ende März kam es zu mindestens acht weiteren Festnahmen. Die meisten Betroffenen sind ebenfalls Tadschiken.

Auch nach 2017, als die Befreiung von Mossul und Raqqa das Ende des Kalifats einzuläuten schienen, bestand der IS fort. Während die Organisation im Westen vor allem wegen ihrer Präsenz im Nahen Osten bekannt ist, war sie bald auch in Afghanistan und dessen unmittelbarer Umgebung aktiv. Der IS nutzte Allianzen mit anderen islamistischen Gruppen und abtrünnigen Taliban und gründete im Januar 2015 seine „Provinz Chorasan“ – den IS-K.

Während Menschen aus Zentralasien seit dem Anschlag in Russland Diskriminierung und Gewalt zum Opfer fallen, müssen einige Nuancen berücksichtigt werden. Insbesondere Zentralasien kann nicht als „neuer Brückenkopf“ (Le Monde) oder „Brutstätte“ (France 24) des IS bezeichnet werden: Im Gegenteil, die Staatsmacht kämpft in den Ländern der Region seit ihrer Unabhängigkeit gegen religiösen Eifer.

Anspruch auf Einzigartigkeit

Wie alle Extremisten profitiert auch der IS von Ungerechtigkeiten und Frustrationsgefühlen, die die Machthaber in der Bevölkerung hinterlassen. Es handelt sich um ein politisches Projekt, das darauf abzielt, Massen von Gläubigen anzuziehen – Mitglieder, die bereit sein müssen, für ihre Sache zu sterben. Dabei führt die Betrachtung der Herkunftsregionen der Terroristen dazu, die Frage aus einem falschen Blickwinkel zu analysieren, da dies impliziert, dass die Bewohner solcher „Brutstätten“ von Natur aus sensibel für die Ideologie des Islamischen Staates wären.

Zentralasien ist nicht die einzige Region der ehemaligen Sowjetunion, in der der IS versucht, sich zu etablieren oder zu überleben. Der radikale Islam des (immer noch zu Russland gehörenden) Nordkaukasus weist nicht die gleichen Merkmale auf wie der des unabhängigen Zentralasiens. Daher ist es wichtig zu verstehen, dass der Islamische Staat als Organisation eine Ideologie vertritt, die den Anspruch erhebt, einzigartig zu sein.

Die Ideologie des IS: Vielfältige Ziele

Um es mit den Worten der Forscherinnen Sara Harmouch und Amira Jadoon auszudrücken: Die Ideologie des IS-K ist der „Marke“ des Islamischen Staates treu. Sein Ziel ist die Etablierung des islamischen Rechts, der Scharia, in ihrer strengsten Auslegung. Daher gelten „säkulare Regierungen sowie nicht-muslimische Zivilbevölkerungen, aber auch muslimische Gruppen und Einzelpersonen, die ihre Vision vom Islam nicht teilen“, als legitime Ziele, präzisieren die beiden Wissenschaftlerinnen gegenüber The Conversation France. Die Vielfalt der Rekruten spiegelt die Vielfalt der Ziele wider.

Genauer gesagt zielt der IS darauf ab, die Gemeinschaft der Gläubigen zu dominieren. Er beansprucht dabei die Autorität über die Interpretation islamischer Texte. Die Organisation ist sunnitisch geprägt und bekennt sich zu einem extremen Anti-Schiismus. Obwohl Tadschikistan im Gegensatz zum übrigen türkischen Zentralasien mit der persischen Welt verbunden ist, ist der Islam dort, wie auch in den Nachbarländern, überwiegend sunnitisch.

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Damit ist Russland für den IS-K nur ein Ziel unter vielen: Bei einem Anschlag im Januar 2024 tötete die Organisation im schiitischen Iran fast 100 Menschen. Wie Le Monde berichtete, wurde im Juli 2023 in Deutschland und den Niederlanden eine Zelle aufgelöst, deren Mitglieder aus drei zentralasiatischen Ländern kamen.

Nach Angaben der Denkfabrik SpecialEurasia wurden kurz nach dem Anschlag bei Moskau auch in Deutschland und der Schweiz Zellen aufgedeckt. Einige Mitglieder sollen Teenager sein und alle sind Angehörige europäischer Nationalitäten. Bevor sich das politische Projekt an solch unterschiedliche Bevölkerungsgruppen anpassen kann, muss es in seiner Einzigartigkeit bekräftigt werden. Ein Beispiel dafür ist die Wahl des Namens Chorasan.

Der Bezug auf Chorasan

Sich auf Chorasan zu beziehen bedeutet, über die Geschichte einer Region zu sprechen, die im Laufe der Jahrhunderte Schauplatz zahlreicher Eroberungen war, deren Name aber auch einige Afghanen heute als die alte Bezeichnung ihres eigenen Landes betrachten. Das Gebiet entspricht einem Teil des alten persischen Sassanidenreiches, das den heutigen Ost-Iran, ganz Afghanistan und das südliche Zentralasien umfasste.

Chorasan verweist auf eine reiche islamische Vergangenheit und ist daher auch kulturell ein Begriff, der die Afghanen anspricht. Es bietet auch einen interessanten territorialen Aspekt: ​​Der Iran – eingekeilt zwischen dem IS im Nahen Osten und in Chorasan – steht der territorialen Kontinuität des „Islamischen Staates“ im Weg. Somit trägt die Chorasan implizit die Forderung nach einer geografischen Expansion sowie nach einem Sieg über den Iran in sich.

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Für den IS stellt Chorasan eine Möglichkeit dar, den Namen des Landes abzulehnen, um das die Russen, Briten und Amerikaner gekämpft haben. Es ist auch eine Möglichkeit, sich von den Taliban abzugrenzen: Letztere, hauptsächlich Paschtunen, behalten den Namen Afghanistan bei und sind geografisch auf dessen Territorium beschränkt. Auch der IS will territoriale Kohärenz, allerdings mit einem globalen Ziel. Die Bezugnahme auf eine Provinz innerhalb eines größeren Islamischen Staates ist eine Möglichkeit, eine alternative Identität zu behaupten und mehr Legitimität zu beanspruchen.

An Territorien gebundene politische Forderungen

Über rein geografische Überlegungen hinaus sind diese Prinzipien mit den politischen Zielen des Islamischen Staates verknüpft. Schon die Wahl des Begriffs „Staat“ ist aufschlussreich. Der IS will ein Kalifat errichten, dessen Provinz Chorasan sein soll. Im Kaukasus hingegen gab es eine eigene „Provinz“: Berichten zufolge habe Moskau am 3. März eine Zelle in der Republik Inguschetien zerschlagen.

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Die Taliban haben de facto einen – ebenfalls islam(ist)ischen – Staat gegründet. Diesen bezeichnen sie als Emirat, wobei ein Emir einem Gouverneur entspricht. Dieser Begriff unterstreicht den Unterschied zwischen den beiden islamistischen Bewegungen, zwischen einem vom IS angestrebten potenziell globalen Kalifat und einem auf Afghanistan beschränkten Emirat der Taliban.

Das Territorium unterliegt somit politischen Überlegungen, die als solche auf den Aufbau von Legitimität abzielen. Dies basiert auf Diskursen, die geografische und historische Elemente, insbesondere in Bezug auf Staatsform und Regierungsführung, einbeziehen.

Kalif oder Emir?

Diese Unterscheidung in den Begriffen führt somit zu einem politischen Unterschied. In der muslimischen Tradition und Geschichte sind in Bezug auf den Begriff Emir ganz unterschiedliche Realitäten entstanden, insbesondere im Hinblick auf die effektive Macht. Der Begriff ist vager als der eines Kalifen, welcher eine größere Nähe zum Göttlichen und Spirituellen beansprucht.

Kalif zu sein, stellt im Islam einen größeren spirituellen und religiösen Anspruch dar, der die Legitimität einer (weltlichen) Macht schwächen kann. Im Fall des IS, dessen Ziel die Eroberung eines riesigen Territoriums ist, bedeutet dies die Vorherrschaft über verschiedene Bevölkerungsgruppen, aber auch eine fragilere Legitimität, die schwieriger aufzubauen und aufrechtzuerhalten ist.

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Im Fall der zentralasiatischen Staatsangehörigen passt der Islamische Staat seinen Diskurs an Bevölkerungsgruppen an, die von großer Armut und unterschiedlichem Grad an Autoritarismus betroffen sind. Dies stellt ein wesentliches Mittel für seinen Selbsterhalt dar. Der IS selbst betrachtet Zentralasien nicht als fruchtbaren Boden für den Terrorismus: So wie er die Gebiete zur Unterstützung seiner Ansprüche nutzt, sieht er die zentralasiatische Bevölkerung nur als eine Variable, um seinem größten Projekt zu dienen.

Jean Monéger-Leclerc für Novastan

Aus dem Französischen von Robin Roth

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