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Soziologie begrenzen: Warum es in Kasachstan keine unabhängigen Meinungsumfragen gibt

Am 19. März werden in Kasachstan Parlamentswahlen abgehalten, die vierten Wahlen auf nationaler Ebene in vier Jahren. Zu diesem Anlass kommen auch wieder soziologische Organisationen mit Wähler:innenumfragen ins Spiel. Solche Umfragen waren aber bisher alles andere als unabhängig, wie Vlast.kz im Dezember in einem Artikel beschrieb, den wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion übersetzen. 

Vlast 

Übersetzt von: Florian Coppenrath

Originalartikel

Wahlen in Kasachstan, Informationsplakate zu Kandidaten für Wählerinnen und Wähler

Am 19. März werden in Kasachstan Parlamentswahlen abgehalten, die vierten Wahlen auf nationaler Ebene in vier Jahren. Zu diesem Anlass kommen auch wieder soziologische Organisationen mit Wähler:innenumfragen ins Spiel. Solche Umfragen waren aber bisher alles andere als unabhängig, wie Vlast.kz im Dezember in einem Artikel beschrieb, den wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion übersetzen. 

Im Jahr 2018, ein Jahr vor der ersten Präsidentschaftswahl nach dem Rücktritt von Nursultan Nazarbaev, änderte Kasachstan seine Gesetzgebung rund um Wahlumfragen. Demnach können Meinungsbilder von Wähler:innen nur noch von Organisationen erhoben werden, die mindestens fünf Jahre Erfahrung in dem Bereich vorweisen können. Auch müssen sie die Zentrale Wahlkommission im Voraus schriftlich informieren, und dabei angeben, welche Fachleute die Umfragen durchführen, in welchen Regionen, und mit welchen Analysemethoden.

Von sieben soziologischen Forschungsinstituten, die sich zur Präsidentschaftswahl 2022 angemeldet hatten, veröffentlichten nur drei die Ergebnisse ihrer Exit-Polls: das Institut für öffentliche Politik der Regierungspartei „Amanat“, das Institut für integrierte Sozialforschung – Astana OF ICSI SOCIS-A – und das Internationale Institut für regionale Studien „Offene Gesellschaft“. Alle drei lagen mit ihren Prognosen (jeweils 85,52, 82,2 und 82,45 Prozent der Stimmen für den amtierenden Präsidenten) nur wenige Prozentpunkte über dem offiziellen Ergebnis, demnach Qasym-Jomart Toqaev mit 81,31 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde. Kein Wunder, denn die Exit-Polls wurden unter voller Kontrolle der Behörden durchgeführt.

Zahme Umfrageinstitute

Das Institut für öffentliche Politik „Amanat“ wurde von der gleichnamigen Partei, welche bis 2022 Nur Otan hieß, gegründet. Bis 2021 leitete Julia Kutschinskaja diese Organisation, die bei manchen früheren Wahlen als Vertreterin einer anderen Organisation, des „Instituts für Demokratie“, zugegen war. Die aktuelle Direktorin, Madina Nýrgalieva, leitete zuvor als stellvertretende Direktorin die Abteilung für soziologische Forschung am Kasachstanischen Institut für Strategische Studien unter dem Präsidenten (KISI).

SOCIS-A führt seit 2017 jährlich verschiedene Meinungsumfragen im Auftrag von Regierungsbehörden durch. Ihre häufigsten Auftraggeber sind die Entwicklungsabteilungen der Stadtverwaltungen von Almaty und Astana. Im Jahr 2021 veröffentlichte die Organisation die Ergebnisse einer Exit-Poll-Umfrage, die während der Parlamentswahlen in Almaty durchgeführt wurde. Demnach lag Nur Otan mit 58,90 Prozent der Stimmen vorn (offizielles Ergebnis: 55,54 Prozent, Anm. d. Ü.).

Serik Munarbekov, der Leiter von SOCIS-A, war von 2006-2011 und von Juni 2021 bis Mai 2022 Kodirektor des Instituts für regionale Studien „Offene Gesellschaft“. Dieses realisierte bei der Präsidentschaftswahl Exit Polls in Astana, die Nursultan Nazarbaev mit 95,88 Prozent der Stimmen weit vorne zeigten (offizielles Ergebnis: 94,82, Anm. d. Ü.).

Warum unabhängige Organisationen keine Exit Polls durchführen

Die Soziologin Janar Jandosova, Leiterin des „Sanj“-Forschungszentrums, ist der Meinung, dass Exit-Polls in Kasachstan ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben. „Die Wahlergebnisse werden nicht sofort ausgezählt, sondern ein, zwei Tage nach der Wahl. Exit Polls sind gut, wenn ihre Ergebnisse am Morgen, Mittag oder Abend desselben Tags gemeldet werden. Dann kann man aus ihnen ein Gesamtbild ableiten“, so die Expertin. „Solcherlei Exit Polls haben aber ihren Wert verloren und dienen nur noch der Legitimation [der Wahlen], weil sie die offiziellen Ergebnisse vollständig wiederholen oder sogar vorwegnehmen – sie zeigen im Voraus, welche Zahlen angestrebt werden sollten.“

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Laut Jandosova sind unabhängige soziologische Forschungsinstitute in Kasachstan von den Wahlen ausgeschlossen: „Man braucht eine Akkreditierung, man braucht Geld, und bekannterweise kommt das Geld hier bei uns vom Staat. Kleine gemeinnützige oder internationale Organisationen können da unmöglich konkurrieren“, meint Djandosova und erklärt, dass die Organisation von Exit Polls große personelle Ressourcen erfordert, die unabhängige Organisationen nicht aufbringen können. Auch seien kleine Organisationen noch nicht in der Lage, sich für Unabhängige Exit-Polls zusammenzutun.

Ich habe unseren Partnerorganisationen, zum Beispiel Mitgliedern von KAPIOR (Kazakhstan Association of Professional Public Opinion and Market Researchers – Anm. d. Red.), schon oft vorgeschlagen, unsere Kräfte zu bündeln. Bei sechs oder sieben Organisationen könnte jede einen bestimmten Querschnitt, eine bestimmte Tageszeit oder ein bestimmtes geografisches Gebiet abdecken, dann wäre das machbar,“ so Jandosova. „Ich weiß nicht warum, aber es ist mir nie gelungen, unabhängige Soziologen zur Teilnahme zu bewegen, vor allem solche nicht, die an kommerzielleren Projekten beteiligt sind. Eine Art selbstständiger soziologischer Dienst ist hier also schwer zu erwarten.“

„Die Quoten sind nie zu hoch“

Elena Koneva, Geschäftsführerin und Gründerin des russischen Forschungsunternehmens KOMKON, erzählt, wie sie in den 2000er Jahren in Kasachstan das Forschungsunternehmen KOMKON-Eurasia gründete. Obwohl das Unternehmen nicht in der politischen Forschung tätig war, geriet es bald ins Visier der Politik. In Russland bewertete KOMKON die Einschaltquoten von Fernsehsendern mit Hilfe eines TV-Panels. Dieses musste eingestellt werden, als sich der damals größte TV-Werbeanbieter in die Arbeit einmischte.

Daraufhin gründete Koneva ein Unternehmen in Kasachstan, das Marktforschung betrieb und ein ähnliches TV-Panel einsetzte. „Wenn ich mit dieser Art von Forschung beginne, muss ich in der Regel lange Zeit investieren, das ist sehr schwierig“, erinnert sich Koneva. „Das Wichtigste für mich war, dass unsere kasachstanischen Kollegen sich entwickeln und dass [das Produkt] funktioniert, das wir sowohl in Bezug auf die Datenverarbeitung als auch auf die Berichtsformate und die Kundeninteraktion sehr gut ausgearbeitet hatten. Ich wollte einfach, dass es funktioniert, und habe daher auf Kasachstan gesetzt.“ Dennoch gab es schon bald Versuche, auf die Ergebnisse der Organisation Einfluss zu nehmen.

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Irgendwann, bei meinem nächsten Besuch, stellte sich heraus, dass sich Dariģa Nazarbaeva sehr für das KOMKOM-Eurasia TV-Panel interessierte. Zu dem Zeitpunkt war sie schon zur Medienmagnatin avanciert und die Einschaltquoten ihrer eigenen Kanäle waren ihr sehr wichtig“, so Koneva. „Die Quoten sind nie zu hoch, wie man sagt. Unsere Daten stellten sie in gewisser Weise nicht zufrieden, und sie schlug radikal vor, dem Unternehmen beizutreten. Wir waren nicht begeistert, aber sie bestand darauf. Mir wurde klar, dass wir in dieselbe Falle liefen.“ Koneva verließ daraufhin das Unternehmen und trat als Mitgründerin zurück.

Ich habe immer den Grundsatz respektiert, dass es der Markt meines Partners ist. Ich kann eine Kollegin sein, Co-Investorin, ich kann mein Wissen einbringen, aber ich sollte definitiv keine Entscheidungen treffen, denn andere mussten in diesem Markt leben und arbeiten“, erklärt sie ihre damalige Entscheidung. „Also erklärte ich meinen Rücktritt aus dem Kreis der Stifter und beendete jede aktive Beziehung zu ihnen, wenn auch mit großem Bedauern. Ich weiß, dass das TV-Panel noch eine Weile weiterlief. Und ich denke, dass das bedeutet, dass der Einfluss des Staates – ob durch offizielle Strukturen oder Frau Nazarbaeva – in eine Phase eingetreten war, wo von unabhängigen Daten einfach nicht mehr die Rede sein konnte.“

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Koneva sagt auch, sie hätte das Unternehmen nicht verlassen, wenn sie in Kasachstan gelebt hätte. In diesem Fall wäre aber externer Druck in Form von Steuerprüfungen oder Ratschläge an die Kunden, sich vom Unternehmen abzuwenden, absehbar gewesen. Mit solchen Taktiken war sie bereits aus Russland vertraut, als sie versuchte, Wählerumfragen durchzuführen. „Wer etwas misst – ob Einschaltquoten im Fernsehen, politische Meinungsbilder – muss unabhängig sein. Das ist eine radikale Bedingung“, meint Koneva.

Es braucht einen Markt freier und unabhängiger Einrichtungen und Organisationen mit echten Feldkapazitäten, die [Forschung] betreiben können“, ist sie ebenfalls überzeugt. „In der Tat läuft die effektivste Regulierung über den Haushalt. Wenn der Staat der Hauptauftraggeber für eine bestimmte Art von Forschung ist und diese ausschreibt und ein gewisses Budget zur Verfügung stellt, kann man immer sagen: ‚Niemand verbietet euch, unabhängige Forschung zu betreiben, oder?‘ Keiner verbietet es, aber es gibt keine Mittel.

„Die Menschen werden immer desillusionierter“

Janar Jandosova ist der Meinung, dass die Praxis der Einmischung in soziologische Erhebungen und Wahlprozesse in Kasachstan seit der Sowjetära nicht aufgehört hat. „Ich weiß noch, als mein Vater 1992 für das Parlament kandidierte, bekam er Anrufe mit der Frage, ob man ihm helfen könne. Er sagte ‚Nein, das ist inakzeptabel!‘ Das gab es damals schon, und diese administrativen Ressourcen stammen aus jenen Tagen, und sie sind einfach nahtlos in unser unabhängiges Kasachstan übergegangen“, so Jandosova.

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Das Ergebnis solcher Eingriffe, zusammen mit den jüngsten Einschränkungen für unabhängige Beobachter, könnte ein zunehmender Rückgang des zivilen Engagements sein, so die Expertin. „Die Parlamentswahlen 2016 haben zum Beispiel gezeigt, dass ein recht großer Prozentsatz der Menschen eine Chance sah, etwas zu verändern – es waren 33-35 Prozent der Befragten. Im Jahr 2016 gab es eine recht große Zahl von Menschen, die für das nationale Parlament oder Regionalvertretungen kandidieren wollten, ich glaube, es war etwa ein Prozent der Bevölkerung. Bei den anderen Wahlen war die Zahl sehr gering. Die Menschen sind immer mehr enttäuscht, bezweifeln dass man etwas ändern und diese Ereignisse irgendwie beeinflussen kann“, schließt Jandosova.

Olga Loginova für Vlast

Aus dem Russischen von Florian Coppenrath

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