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Russlands Einfluss in Kasachstan: Die Illusion der Schwächung

Eldaniz Gusseinov, Spezialist für europäische und internationale Studien, analysiert, warum es vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine noch zu früh ist, von einer Schwächung des russischen Einflusses in Kasachstan zu sprechen, und welche Vorteile Kasachstan aus der aktuellen Situation ziehen kann.

Kasachstans Präsident Toqaev und sein russischer Amtskollege Putin bei einem Treffen im Juli 2014, Photo: akorda.kz

Eldaniz Gusseinov, Spezialist für europäische und internationale Studien, analysiert, warum es vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine noch zu früh ist, von einer Schwächung des russischen Einflusses in Kasachstan zu sprechen, und welche Vorteile Kasachstan aus der aktuellen Situation ziehen kann.

In Expertenkreisen besteht die weit verbreitete Meinung, dass der russische Einfluss in Kasachstan durch den vollständigen Einmarsch Russlands in die Ukraine geschwächt wurde. Die Hauptargumente sind das Verhalten Kasachstans auf internationalen Plattformen – die Weigerung, die sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk anzuerkennen – sowie der Wunsch des Landes, das Sanktionsregime gegen Russland einzuhalten.

Gleichzeitig betont Präsident Qasym-Jomart Toqaev immer wieder, dass Russland der wichtigste strategische Partner und Verbündete Kasachstans sei. Betrachtet man die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit zwischen Kasachstan und Russland, so hat sich der Einfluss Russlands nicht wesentlich verändert. Gleichzeitig ist die Abhängigkeit Russlands von Kasachstan gestiegen.

Generell könnte die eindeutige Interpretation der kasachstanischen Außenpolitik als „multivektoral“ falsch sein. Unter den Bedingungen erhöhter Aufmerksamkeit versucht der Aqorda [der Präsidentenpalast, Anm. d. Red.], die Interessen der wichtigsten Akteure zu berücksichtigen: Russland, Europäische Union, Türkei und China.

Russland und die EU: der Kampf um Einfluss in Kasachstan

Nach dem bekanntesten Index zur Messung des Einflusses eines Landes auf ein anderes, der Foreign Bilateral Influence Capacity, steht Russland vor Kasachstan. Dieser Vorsprung ist jedoch nicht konstant – zu verschiedenen Zeitpunkten wurde Russland von der Europäischen Union überholt. Die Daten sind nur bis 2020 verfügbar, können aber für eine Extrapolation bis 2025 verwendet werden, um zu sehen, wie der Einfluss Russlands, Chinas, der Türkei und der Europäischen Union heute aussehen würde.

Der Index zeigt deutlich, dass Russland und die Europäische Union die größten Konkurrenten um Einfluss in Kasachstan sind. Es ist dabei wichtig hinzuzufügen, dass beide Akteure ihre eigene Nische besetzen, in der sie zweifellos eine führende Rolle einnehmen. Für Russland ist dies der politische und militärische Bereich, für die EU der wirtschaftliche Bereich und die Bereitstellung von Entwicklungshilfe. Aber selbst im wirtschaftlichen Bereich ist die EU nicht unangefochten an der Spitze, da die weitere wirtschaftliche Integration Kasachstans mit Russland seit 2010 zu einer Zunahme des russischen Einflusses geführt hat. Gleichzeitig liegen China, die Türkei und die USA bei diesem Indikator deutlich hinter Russland und der EU.

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Die Prognose bis 2025 zeigt, dass Russland zwar seine führende Position behalten wird, aber auch die Präsenz Chinas durch verstärkten Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit deutlich zunimmt. Der Einfluss der Europäischen Union schwankt,  was auf die Art der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen Kasachstans mit der EU zurückzuführen ist. Es ist bekannt, dass die EU aufgrund des Exports von Energieressourcen eine dominierende Position unter den Handelspartnern Kasachstans einnimmt. Aufgrund der regelmäßigen Veränderungen der Energiepreise ändert sich auch die Position der EU im Einflussindex.

Im Allgemeinen ist die Prognose bis 2025 auf der Grundlage der Daten von 1994 bis 2020 sehr realistisch, selbst wenn man den Beginn der russischen Invasion in der Ukraine berücksichtigt. Dieses Ereignis hat die Positionen der Hauptakteure in Kasachstan nicht so sehr verändert, sondern nur die Art der Beziehungen zwischen ihnen. Um diese These weiter zu untermauern, betrachten wir zwei Hauptrichtungen der kasachstanischen Außenpolitik: die wirtschaftliche und die militärische.

Wirtschaftliche Auswirkungen

Der Wandel in den Beziehungen zwischen wichtigen externen Akteuren und Kasachstan spiegelt sich deutlich in den Investitionsprojekten wider. Die Zahl der Investitionsprojekte ausländischer Investoren in Kasachstan hat deutlich zugenommen. Dies ist insofern von Bedeutung, als dieses Wachstum mit der Auflösung vieler ausländischer Unternehmen in Russland und der Notwendigkeit für russische Unternehmen zusammenhängt, Geschäfte mit einem Teil der Welt über Kasachstan abzuwickeln. Dies verstärkt den Interdependenzeffekt.

Darüber hinaus lädt Kasachstan selbst aktiv Vertreter von Unternehmen ein, die ihre Geschäftstätigkeit in Russland einstellen wollen. So erklärte der stellvertretende Außenminister Almas Aidarov, dass 401 Unternehmen, an deren Verlagerung Kasachstan interessiert sei, Einladungen erhalten hätten. Anfang März 2024 wurde bekannt, dass 41 Unternehmen mit einem Wert von mehr als 1,5 Milliarden US-Dollar von Russland nach Kasachstan umziehen werden, sagte der stellvertretende Wirtschaftsminister Bauyrjan Qūudaıbergenov. Weitere 37 Unternehmen mit einer Bilanzsumme von rund 1 Milliarde US-Dollar, darunter Honeywell, InDriver, Fortescue, Skoda, GE Healthcare und Philips, sind dabei, Russland zu verlassen. Es ist bekannt, dass Volkswagen die Eröffnung eines Automobilwerks im Gebiet Qostanaı plant, und es ist wahrscheinlich, dass das Werk speziell auf russische Kunden ausgerichtet sein wird.

Nach Angaben der nationalen Gesellschaft Kazakh Invest plante Russland vor dem Krieg in der Ukraine nur 5 Investitionsprojekte in Kasachstan mit einem Gesamtinvestitionsvolumen von ca. 590.000 US-Dollar, 2022 stieg diese Zahl auf fast 3,8 Millionen US-Dollar beziehungsweise 17 Projekte und 2023 bereits auf fast 11 Millionen US-Dollar beziehungsweise 10 Projekte. Im Vergleich dazu startete China vor dem Krieg 10 Investitionsprojekte, 2022 und 2023 bereits 11 beziehungsweise 7. Die Türkei mit 11 Projekten bis 2022 startete nur 5 Projekte pro Jahr. Und die Länder der Europäischen Union haben nur 13 Projekte gestartet.

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Gleichzeitig ist anzumerken, dass Russland der Ansiedlung von Unternehmen der Schwerindustrie in Kasachstan große Bedeutung beimisst, wie zum Beispiel dem Bau eines Werkes zur Herstellung von dünnwandigen Leichtmetallstrukturen oder der Produktion von innovativen energiesparenden Materialien unter der Marke “TSMCERAMIC”. Diese Produkte können sowohl für Verbraucher in Russland als auch für Verbraucher außerhalb Kasachstans und Russlands hergestellt werden. Russland interessiert sich auch für den Logistiksektor Kasachstans, der aufgrund der Sanktionen den Empfang verschiedener Waren ermöglicht.

Inzwischen ist der Bau des größten Logistikkomplexes des E-Commerce-Unternehmens Ozon in Kasachstan bekannt. Im Jahr 2023 begann das Unternehmen seine Aktivitäten aktiv auf andere zentralasiatische Länder wie Usbekistan und Kirgistan auszuweiten. Das Projekt soll 4.000 Arbeitsplätze schaffen. Zum Vergleich: Chinas größtes Projekt, Great Wall Motor, wird nur 2.200 Arbeitsplätze schaffen.

In den vergangenen zwei Jahren hat die Eurasische Entwicklungsbank Projekte wie den Bau der Saryarka-Gaspipeline, die Modernisierung der Flughäfen von Almaty und Tūrkistan sowie den Bau der großen Ringstraße von Almaty auf den Weg gebracht. Gleichzeitig wird das genehmigte Kapital der Eurasischen Entwicklungsbank bis Ende Juni 2023 zu 66 Prozent von Russland und zu 33 Prozent von Kasachstan gehalten.

Damit könnte Russland zu einem neuen Akteur bei der Unterstützung von Infrastruktur- und Logistikprojekten in Kasachstan werden. Bisher war China in diesem Bereich klar der wichtigste Akteur, gefolgt von der Europäischen Union.

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Im Jahr 2022 war ein deutlicher Anstieg der Exporte von Technologieprodukten aus Kasachstan nach Russland zu verzeichnen. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2023 fort. Von Januar bis Juli 2023 wurden die höchsten Exportzuwächse bei Öfen und Herden mit 319,7 Prozent, bei Kraftfahrzeugen und Ersatzteilen mit 294,4 Prozent und bei Waschmaschinen mit 246,8 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum 2022 verzeichnet.

Bemerkenswert ist, dass fast jedes zweite Unternehmen mit ausländischer Beteiligung in Kasachstan aus Russland stammt. Im Jahr 2022 betrug die Zahl der russischen Unternehmen 15.600 – doppelt so viel wie im Jahr 2021. Ende 2023 betrug die Zahl dieser Unternehmen 19.000. Der Anteil russischer Unternehmen an der Gesamtzahl ausländischer Unternehmen in Kasachstan beträgt 44,9 Prozent. Die meisten neuen Unternehmen gehören zu den Kleinunternehmen und sind in den Bereichen Handel, Information und Kommunikation sowie Dienstleistungen registriert. Vor diesem Hintergrund wird nicht nur die wachsende Präsenz Russlands in Kasachstan deutlich, sondern auch die zunehmende Abhängigkeit Russlands von Kasachstan.

Militärischer Einfluss: Diversifizierungsversuche

Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine gibt es zahlreiche Nachrichten über die Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit Kasachstans mit der Türkei. Die bekanntesten Beispiele sind die Vereinbarung über den Bau einer Fabrik zur Herstellung türkischer Drohnen in Kasachstan und die Unterzeichnung eines Militärabkommens, des „Protokolls über die Zusammenarbeit im Bereich der militärischen Aufklärung“ vom 10. Mai 2022. Das Dokument legt Verfahren und Verpflichtungen für den Austausch von Informationen des militärischen Nachrichtendienstes, die Überwachung der militärischen und politischen Lage und den Austausch von Informationen über internationale terroristische Organisationen fest.

Gleichzeitig bleibt Kasachstan bei seinen Rüstungskäufen stark von Russland abhängig. Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts stammten zwischen 1992 und 2002 85,5 Prozent der kasachstanischen Waffenimporte aus Russland, während die NATO-Staaten (darunter die USA, die Türkei und einige europäische Länder) nur 7 Prozent beisteuerten. Diese Abhängigkeit erklärt sich zum Teil aus der Notwendigkeit der Kompatibilität mit sowjetisch-russischem Militärgerät, da Kasachstan Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ist. Aber auch hier versucht Astana eine Diversifikation.

Neben den Abkommen mit der Türkei hat Kasachstan beispielsweise versucht, Rüstungsgüter aus China zu beziehen, darunter Panzerabwehrraketen und Wing-Loong-Drohnen, obwohl diese nur ein Prozent der Gesamtimporte ausmachen. Von NATO-Mitgliedern hat Kasachstan vor allem Militärflugzeuge und Hubschrauber gekauft, von denen einige gespendet wurden, weil sie bei Militäroperationen in Afghanistan eingesetzt wurden. Insbesondere hat Kasachstan spanische Militärtransportflugzeuge vom Typ C-295 erworben und statt französischer Rafale-Kampfflugzeuge russische Flugzeuge vom Typ SU-30SM, Hubschrauber vom Typ Mi-35 und Mi-171Sh sowie Boden-Luft-Raketensysteme vom Typ TOR-M2K bevorzugt.

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Die im Oktober 2022 aktualisierte kasachstanische Militärdoktrin bekräftigt die Verpflichtung Kasachstans zum Aufbau eines einheitlichen regionalen Luftverteidigungssystems mit der Russischen Föderation und spiegelt die anhaltende strategische Partnerschaft und militärische Abhängigkeit zwischen den beiden Ländern wider. Die in der Doktrin dargelegte militärische Sicherheitsstrategie sieht die Modernisierung der Streitkräfte vor, wobei der Schwerpunkt auf der Beschaffung ausländischer Rüstungsgüter liegt. Es wird erwartet, dass etwa die Hälfte der kasachstanischen Waffen im Ausland gekauft wird, während der Anteil der Militärausgaben am BIP des Landes unter 1 Prozent liegt. Kasachstans militärische Infrastruktur und Rüstungsgüter sind größtenteils sowjetischen Ursprungs und müssen daher durch Einkäufe in Russland instandgehalten werden.

Im Zuge der aktuellen Sanktionen wurden jedoch die Lieferungen einiger Komponenten und Ersatzteile aus Russland stark eingeschränkt. Das kasachstanische Verteidigungsministerium sucht aktiv nach Alternativen, entweder durch einheimische Produktion oder durch Einkäufe in osteuropäischen Ländern wie Serbien, der Tschechischen Republik und der Slowakei, wo die Produktion und Modernisierung von Waffen nach Warschauer-Pakt-Standards fortgesetzt wird.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der direkte Einfluss Russlands auf Kasachstan zwar nach wie vor stark und in mancher Hinsicht vielleicht sogar unverändert ist, dass aber der sich wandelnde internationale Kontext und die strategischen Entscheidungen Kasachstans ein Szenario begünstigen, in dem die Abhängigkeit Russlands von Kasachstan stärker ausgeprägt ist. Diese Dynamik deutet auf einen nuancierten Übergang zu einer stärkeren gegenseitigen Abhängigkeit hin, in der Kasachstan nicht nur als Adressat von Einflüssen, sondern auch als wichtiger Partner, auf den Russland zunehmend angewiesen ist, eine immer wichtigere Rolle spielt.

Factcheck.kz

Aus dem Russischen von Amina Akhrorkulova

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