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Löst sich Zentralasien von Russland?

Während der Krieg in der Ukraine weitergeht und Russland weiterhin unter strengen internationalen Sanktionen steht, heben seine politischen Verbündeten, Wirtschaftspartner und geografischen und kulturellen Nachbarn in Zentralasien ihr diplomatisches Spiel auf ein neues Niveau. Das wachsende internationale Interesse bietet eine neue Zukunftsaussicht für diese Staaten - möglicherweise mit weitaus geringerer Abhängigkeit von Russland. Doch löst sich Zentralasien tatsächlich von ihrer ehemaligen Metropole? Und wie sehen die Perspektiven für die zentralasiatischen Staaten aus? Dr. Johan Engvall vom Schwedischen Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) versucht, auf diese Fragen zu antworten.

Zentralasien 5+1
Gipfeltreffen Zentralasien 5+1 mit US-Präsident Joe Biden im September 2023 in New York, Photo: Wikimedia Commons.

Während der Krieg in der Ukraine weitergeht und Russland weiterhin unter strengen internationalen Sanktionen steht, heben seine politischen Verbündeten, Wirtschaftspartner und geografischen und kulturellen Nachbarn in Zentralasien ihr diplomatisches Spiel auf ein neues Niveau. Das wachsende internationale Interesse bietet eine neue Zukunftsaussicht für diese Staaten – möglicherweise mit weitaus geringerer Abhängigkeit von Russland. Doch löst sich Zentralasien tatsächlich von ihrer ehemaligen Metropole? Und wie sehen die Perspektiven für die zentralasiatischen Staaten aus? Dr. Johan Engvall vom Schwedischen Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) versucht, auf diese Fragen zu antworten.

Der Ukraine-Krieg hat einiges in Eurasien verändert. Für Zentralasien stellt er eine ernsthafte Herausforderung in Hinsicht auf Sicherheit, Wirtschaft, Verkehr, Handel, Arbeitsmigration und natürlich Geopolitik dar. Wie verändern sich unter diesem Blickwinkel die Beziehungen dieser Staaten zu Russland und in welchen Bereichen? Sind diese Veränderungen vorübergehend oder langfristig?

Die zentralasiatischen Staaten bewegen sich auf einem schmalen Grat, wenn sie sich von Russlands Handeln distanzieren wollen. Sie alle stehen unter starkem Druck aus Moskau und die Beziehungen zwischen Russland und Zentralasien sind sehr eng. Die militärischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen haben sich über einen langen Zeitraum entwickelt und werden nicht über Nacht verschwinden.

Auch Zentralasien wird für Russland immer wichtiger – nicht zuletzt in wirtschaftlicher Hinsicht, da gewisse Handelswege neu ausgerichtet wurden. Putin, der sich seit 2022 in zunehmender politischer Isolation befindet, hat die Hoffnung nicht aufgegeben, die Region in seinem Bann zu halten. Deswegen hält er zahlreiche Treffen mit nationalen Führern ab, um die Länder offensichtlich enger an Russland zu binden. Die führenden Politiker der Region versuchen ihrerseits, aus der politischen und wirtschaftlichen Isolation Russlands und der neu gewonnenen internationalen Aufmerksamkeit für die Region Kapital zu schlagen.

Gleichzeitig hat Russland definitiv an Attraktivität in der Region verloren: Die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) wird unter den Mitgliedsländern immer unbeliebter und für potenzielle Mitglieder wie Usbekistan und Tadschikistan zunehmend unattraktiv. Putins privilegierte Stellung in Zentralasien wird nun von anderen Staaten in Frage gestellt, vor allem von China und der Türkei.

Die Debatten um Kolonialismus und Identität begannen in Zentralasien lange vor dem Krieg – vielleicht waren sie einer der Gründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion. So eröffnete Kasachstans Präsident Qasym-Jomart Toqaev vor kurzem eine gemeinsame Konferenz mit Putin in kasachischer Sprache. Gleichzeitig verpflichtete sich Toqaev, die russische Sprache in Zentralasien zu unterstützen. Wie wirken Entkolonialisierungsprozesse und die „russische Welt“ in Zentralasien zusammen? Können sie koexistieren?

Es gibt mehrere komplementäre Prozesse, die zur allmählichen Aufhebung des kolonialen Jochs in Zentralasien beitragen. Erstens haben diese Staaten in den mehr als 30 Jahren Unabhängigkeit eine eigene nationale Identität entwickelt und verteidigen ihre Souveränität.

Zweitens haben die Aggressionen Russlands und seine Weigerung, das Recht der Ukraine auf Unabhängigkeit anzuerkennen, auch eine Neubewertung des kolonialen Erbes in Zentralasien ausgelöst. In Kasachstan und Kirgistan blickt eine breitere Öffentlichkeit kritischer auf die Vergangenheit – in diesen Ländern wurde die Unabhängigkeit nie auf einer antikolonialen Grundlage durchgesetzt. Und Usbekistans Präsident Shavkat Mirziyoyev zeigt sich zunehmend selbstbewusster gegenüber dem Unrecht, das während der Sowjetära von Moskau aus gegen die Usbekische SSR verübt wurde.

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Drittens: Der rote Faden, der sich durch diese Transformationsprozesse zieht, ist die Kluft zwischen den Generationen. Zentralasien durchläuft einen raschen sozialen und demografischen Wandel, der sich auf die Identitätsbildung auswirkt. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung in der Region sind unter 40 Jahre alt. Diese postsowjetische Generation, die keine persönliche Erfahrung mit dem Leben in der Sowjetunion hat, tritt nun in den Vordergrund und verändert die Länder der Region sowohl politisch als auch kulturell. Für diese Generation ist die Anziehungskraft Russlands nicht so sehr ideologischer und sentimentaler Natur, sondern hängt mit dem Status Russlands als Quelle von Arbeitsplätzen und materiellen Möglichkeiten zusammen.

Russland reagiert überempfindlich auf diese Entwicklungen und versucht unermüdlich, sie umzukehren. Die russische Propaganda stellt die zentralasiatischen Länder als brüderliche Staaten zu Russland dar, als Erweiterungen der „russischen Welt“, in denen die Bevölkerung die russischen Werte und Normen teilt. Da die anhaltende Rolle der russischen Sprache den Einfluss Russlands in der Region stärkt, wird jeder Versuch, das Russische herabzusetzen, als feindlicher Akt empfunden. Moskau lehnt auch fieberhaft jeden Versuch ab, nationale Traumata zu erforschen und Aspekte der sowjetischen Kolonialherrschaft kritisch zu untersuchen.

Dementsprechend ergibt sich ein zunehmend unruhiges Bild: auf der einen Seite Befreiung und die Rückkehr der Vergangenheit, auf der anderen Seite fortgesetzte Unterwerfung und das Gefühl einer unauflösbaren historischen Verbindung. Auf einen Schritt in die eine Richtung folgt meist ein korrigierender Schritt in die andere. Langfristig besteht jedoch kein Zweifel daran, dass der Einfluss Russlands auf Zentralasien abnimmt. Dieser Prozess ist zudem kaum umkehrbar; stattdessen ist Moskau gezwungen, verstärkt auf Angstmacherei zu setzen.

In Zentralasien ist das Gerede vom „Great Game“ überhaupt nicht gerne gesehen. Aber es wird unweigerlich wiederholt, vor allem im aktuellen Kontext, in dem Zentralasien als Energieressource und Transitraum in der Welt wieder an Bedeutung gewinnt. In diesem Jahr besuchten mehrere europäische Staats- und Regierungschefs Zentralasien. Wie ist die geopolitische Bedeutung Zentralasiens und der außenpolitische Handlungsspielraum der Länder einzuschätzen? Konnten die zentralasiatischen Staaten die Außenpolitik der letzten drei Jahrzehnte zur Stärkung ihrer Unabhängigkeit nutzen?

Alle zentralasiatischen Staaten sind sich der Risiken bewusst, die entstehen, wenn sie das Schicksal ihrer Wirtschaft, nationalen Sicherheit und Souveränität in die Hände eines unzuverlässigen und revisionistischen Russlands legen. Diese Länder versuchen, verschiedene Initiativen in den Bereichen Handel und Verkehr zu schaffen oder wiederzubeleben, und sind auf der Suche nach alternativen Sicherheitspartnerschaften. Daher waren die europäischen Staats- und Regierungschefs in der Region wahrscheinlich noch nie so willkommen wie in diesem Jahr.

Die Länder Zentralasiens bauen ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu China weiter aus, gleichzeitig macht sich die wachsende Abhängigkeit Russlands von China bemerkbar. Unterdessen stärkt die Türkei im Rahmen der Organisation der Turkstaaten (OTS) die Zusammenarbeit mit Zentralasien, welches sich auch um Investitionen aus den Golfstaaten bemüht. Um schließlich die Sicherheit und Stabilität von innen heraus zu verbessern, bemühen sich Kasachstan und Usbekistan um eine weitere Stärkung der regionalen Zusammenarbeit.

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Es gibt also eine Reihe von Maßnahmen, die auf ein Gleichgewicht in den Außenbeziehungen hindeuten. Die zentralasiatischen Staaten versuchen, aus Russlands Schwäche Kapital zu schlagen, indem sie ihre Bemühungen um den Aufbau alternativer diplomatischer Allianzen verstärken. Dies hat in Zentralasien einen gewissen Handlungsspielraum in einer sehr komplexen geopolitischen Situation geschaffen und wäre nicht möglich gewesen, wären sie russische Satelliten gewesen, wie sie in den westlichen Medien oft fälschlicherweise dargestellt werden.

Die Religion ist ein weiteres Identitätsmerkmal, dessen Bedeutung in der Region stetig zunimmt. Was wird passieren, wenn eine neue Generation an die Macht kommt: Wird sie die Trennung zwischen Politik und Religion aufrechterhalten?

Zentralasien ist eine Ausnahme in der muslimischen Welt und widersetzt sich dem Trend, Religion und Politik zu vermischen. Das Wiedererstarken der Religion seit der Unabhängigkeit stellt jedoch eine Herausforderung für ihre säkularen Regierungssysteme dar. Indem die Gesellschaften religiöser werden, nimmt die Rolle des Islam – als Faktor politischer Legitimation und als Mittel zur Mobilisierung und Gewinnung von Wählenden – zu. In Kirgistan werden etwa Moscheen nicht mehr durch ausländisches Sponsoring gebaut, sondern von lokalen Geschäftsleuten, die in die Politik involviert sind. Ein weiterer Trend ist die Vertiefung der Beziehungen zwischen Politik und Geistlichen, wobei die Politik die Unterstützung der Geistlichen nutzen, um ihre lokale Wählerbasis zu stärken. Säkulare Staatlichkeit sollte daher nicht als selbstverständlich angesehen werden.

Die Zukunft des Säkularismus in Zentralasien wird wahrscheinlich von mehreren Faktoren abhängen. Einer davon ist die Entwicklung religiöser Ideen in der übrigen muslimischen Welt. Aus regionaler Sicht wird sie aber auch von der Politik abhängen, die die Regierungen der Länder in den kommenden Jahren verfolgen werden. In Zukunft wird es entscheidend sein, stärkere Bindungen zwischen Staat und Gesellschaft aufzubauen. Korrupte Regierungen, die als ungerecht empfunden werden und die Erwartungen der Gesellschaft nicht erfüllen, werden wahrscheinlich das Risiko erhöhen, dass religiöse Bewegungen aus der Frustration der Menschen Kapital schlagen und eine ganz andere Art von sozialer und politischer Ordnung fordern.

Wie lautet Ihre Prognose für Zentralasien im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine? Wird eine der Folgen dieses Krieges – die Umsiedlung von Russinnen und Russen, die Verringerung der Arbeitsmigration aus Zentralasien oder andere soziale Veränderungen, die derzeit stattfinden – dauerhafte Auswirkungen haben?

Das Einzige, dessen wir uns sicher sein können, ist, dass es unvorhergesehene Veränderungen geben wird. Als etwa der Krieg ausbrach und westliche Sanktionen gegen die russische Wirtschaft verhängt wurden, wurde vorausgesagt, dass viele Arbeitsmigrierte aus Zentralasien in ihre Heimat zurückkehren müssten. Dies würde die Gefahr steigender Arbeitslosigkeit, geringerer Geldüberweisungen und einer allgemeinen Destabilisierung der Gesellschaft mit sich bringen. Doch trotz der wachsenden Probleme kommen weiterhin Arbeitsmigrierende aus Zentralasien nach Russland, um die dort herrschende Lücke an russischen Arbeitskräften zu schließen.

Der russische Angriffskrieg stellt einen Wendepunkt dar, der wahrscheinlich eine neue geopolitische Landschaft schaffen wird. Während die regionalen politischen Veränderungen in Form von neuen und erneuerten Initiativen sichtbar sind, bleibt die volle Tragweite dieser Ereignisse abzuwarten. Letztlich hängt viel vom Ausgang des Krieges ab. Verliert Russland in der Ukraine, könnte dies auch in Zentralasien eine seismische Verschiebung auslösen. Doch die Politikerinnen und Politiker der Region halten sich zurück. Tatsächlich können sich viele in der Region nicht vorstellen, dass Russland verlieren könnte; deshalb müssen sie so gut wie möglich auf einen russischen Sieg vorbereitet sein. Unabhängig davon wird es keine Rückkehr zum Vor-Kriegs-Zustand geben.

Central Asian Analytical Network

Aus dem Russischen von Michèle Häfliger

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