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Unruhen in Kirgistan: Was hat das mit uns zu tun?

Kirgistan steckt die ganze Woche bereits in politischen Unruhen, teils ist von einer dritten Revolution die Rede. In Analysen werden die Ereignisse oft auf lokale Eigenheiten zurückgeführt. Aber es lassen sich auch viele globale Verbindungen ziehen, so dass auch wir etwas von der Lage in Kirgistan lernen können, kommentiert Novastans Redaktionsleiter Florian Coppenrath.

Florian Coppenrath 

Bischkek Demonstration Weisses Haus
Demonstrierende vor dem Weissen Haus in Bischkek am 6. Oktober

Kirgistan steckt die ganze Woche bereits in politischen Unruhen, teils ist von einer dritten Revolution die Rede. In Analysen werden die Ereignisse oft auf lokale Eigenheiten zurückgeführt. Aber es lassen sich auch viele globale Verbindungen ziehen, so dass auch wir etwas von der Lage in Kirgistan lernen können, kommentiert Novastans Redaktionsleiter Florian Coppenrath.

Wer sich besonders für Kirgistan interessiert, kommt derzeit nicht weg von den Live-Nachrichtenfäden lokaler Medien wie Kloop.kg und dem kirgisischen Segment von Twitter. Nach einer besonders aktiven Wahlkampagne wählten die KirgistanerInnen am Sonntag, dem 4. Oktober, ein neues Parlament. Drei vermeintlich regierungstreue Parteien gewannen haushoch, Wahlbeobachter dokumentierten in zahlreichen Wahlbüros Unregelmäßigkeiten, meist in Verbindung mit Stimmenkauf.   

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Am Montag riefen mehrere Oppositionsparteien zu einer Demonstration auf. Mehrere Tausend Personen versammelten sich auf dem Ala-Too-Platz im Zentrum der Hauptstadt Bischkek mit der Forderung, die Wahlergebnisse zu annullieren. Am späten Abend eskalierte die Situation schließlich, als Ordnungskräfte versuchten die Demonstration aufzulösen. Es gab vereinzelt Straßenkämpfe. In der Nacht auf Dienstag gelangten Protestierende in das „Weiße Haus“, den Sitz von Parlament und Präsidentenverwaltung. Sie stießen dabei auf keinerlei Widerstand. Auch danach war von Ordnungskräften erst einmal kaum eine Spur.

Lest auch bei Novastan: Parlamentswahl annulliert – Anscheine einer dritten Revolution in Kirgistan 

Seitdem überschlagen sich die Ereignisse im Stundentakt: zwischen der Befreiung hochrangiger Politiker aus dem Gefängnis, der Besetzung weiterer Verwaltungen und der Neubesetzung politischer Posten durch sehr unklare Prozeduren. Zurzeit hat Kirgistan mindestens drei Kandidaten auf den Posten des Regierungschefs und kaum einen Plan, wie es weitergehen wird. Es ist ein revolutionärer Moment, wobei jegliche Entwicklung zum Greifen nah scheint: von der Usurpation des Staats durch organisierte Kriminalität bis hin zu einem politischen Konsens, der Bildung einer gutgewillten Regierung und faireren Neuwahlen.

Klischees in der Berichterstattung

Nichts neues unter der Sonne, wäre man verleitet zu sagen. Schließlich gilt Kirgistan als demokratisches Vorzeigebeispiel in Zentralasien, hat bereits 2005 und 2010 durch „Revolutionen“ das Staatsoberhaupt gewechselt und der Mythos von furcht- und obrigkeitslosen nomadischen Vorfahren ist selbst Bestandteil des nationalen Selbstverständnisses einiger KirgisInnen.

So insinuieren auch einige deutschsprachige Medien, politische Unruhen lägen sozusagen in der lokalen Ordnung der Dinge. So erinnert zum Beispiel die Tagesschau: „In dem verarmten Staat […] gibt es immer wieder Ausbrüche von Gewalt.“ In einer ansonsten sehr detaillierten Analyse sieht auch die FAZ nichts Ungewöhnliches an der Wahlfälschung, die den Ereignissen voranging: „Derlei ist üblich im bitterarmen Kirgistan.“

Weitere Berichte zeigen eine kaum verdeckte Enttäuschung darüber, dass das Land seinem demokratischen Ruf doch nicht ganz gerecht wird. So erklärt die taz in dem Kommentar „Brüchige Demokratie“: „Kirgistan klammert sich unbeholfen an die Zuschreibung, eine Insel der Demokratie inmitten von autoritären Staaten in Zentralasien zu sein.“ Wie ein kleines Kind, das sich auf der Kletterburg übernommen hat. Und der Russland-Korrespondent des SRF erklärt in einem Interview: „Kirgistan […] ist das einzige Land in Zentralasien, das halbwegs demokratisch ist. Aber Probleme solcher Art gab es in der Vergangenheit bei Wahlen eigentlich immer.

Es folgen Erläuterungen zur Situation in Kategorien wie „Chaos“, „Clan-Denken“, „Machtkämpfe“ und Versuche aufzuklären, welche politischen Eliten wie einflussreich sind. Interessante Hintergrunddynamiken bleiben gern unerwähnt.  Zum Beispiel die außerordentliche Mobilisierung der Jugend, die die letzten Nächte mit Tausenden Freiwilligen die Stadt vor Plünderungen schützte. Ein Teil der Jugend setzt sich als wohl eigenständige politische Kraft für eine Erneuerung der politischen Klasse ein. Schließlich wurde im Rahmen der vergangenen Parlamentswahl auch trotz personengebundener Parteien mehr als sonst über Inhalte und ideologische Ausrichtungen geredet.         

Wohlfühlberichterstattung

Dass die überwiegende Mehrheit der europäischen Zentralasienberichterstattung aus Moskau geführt wird, befördert weiter den Rückgriff auf Klischees und Essentialisierungen. Auch russische Analysen, wie die des Carnegie Centers in Moskau, erklären die Unruhen in erster Linie durch lokale Besonderheiten: „Der Oktoberumsturz hat zum wiederholten Mal gezeigt, wie Kirgistan im Kern strukturiert ist.“

Nicht, dass lokale Faktoren keine Rolle spielen: Das vom Carnegie Center erwogene Erklärmuster von einer regionalen Trennung politischer Eliten in Nord und Süd wird auch vor Ort oft erwähnt. Außerdem verfügt Kirgistan tatsächlich über ein offeneres und turbulenteres politisches Leben als alle seine Nachbarn. Doch ein zu starker Fokus auf vermeintliche Besonderheiten verdeckt genauso viel, wie er verrät. Und vor allem suggeriert er, dass Politik in Kirgistan wesentlich anders funktioniert als bei uns: als korrupte Clanstrukturen unter russischem Einfluss und in einem postsowjetischen Raum, der die Demokratie sowieso noch erlernen müsse.

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In der Redaktion von Novastan sprechen wir manchmal von „Wohlfühlberichterstattung“, wenn die Besonderheiten zentralasiatischer Länder so hervorgehoben werden, dass LeserInnen ein Überlegenheitsgefühl vermittelt wird. Die vielen Sensationsschlagzeilen zu Turkmenistan sind ein Extrembeispiel, aber auch Berichte zu Kirgistan sind von solchen orientalistischen Motiven durchsetzt. Indem das Land pauschal mit Kategorien wie „postsowjetisch“, „korrupt“ oder gar „halbwegs demokratisch“ versehen wird, scheint es, als seien dortige Geschehnisse uns im Wesentlichen fremd.

Ein Fallbeispiel – relevant jenseits von Kirgistan

Dabei lassen sich viele Parallelen und Verbindungen zu unserer Realität finden. Nationalismus gewinnt in den letzten zehn Jahren in Kirgistan deutlich an politischer Anziehungskraft, wie auch in den meisten europäischen Ländern. Vor dem Hintergrund ist es kein Zufall, dass die vier Siegerparteien der Wahl am Sonntag „Einheit“, „Mein Heimatland Kirgistan“, „Kirgistan“ und „Einiges Kirgistan“ heißen. Der Nationalpopulismus könnte auch in Kirgistan gestärkt aus den Ereignissen hinaustreten, mit Figuren wie dem frisch aus dem Gefängnis befreiten Möchtegern-Premierminister Sadyr Dschaparow.    

Auch die unvorhersehbaren politischen Prozesse der letzten Tage könnten ein Lehrbeispiel jenseits des Landes werden. Bis in die Vereinigten Staaten: „Gratuliere, wenn ihr Kirgistans interne Trennlinien, selbsternannte Premierminister und gewalttätige Showdowns zwischen Lagern verfolgt! Ihr seid nun besser darauf vorbereitet, mit dem anstehenden Morast am 3. November umzugehen“, twitterte die in Washington DC ansässige Kirgistan-Expertin Erica Marat sarkastisch in Anspielung auf anstehende US-Präsidentschaftswahl.  

Die Ereignisse in Kirgistan stellen weiter interessante Grundsatzfragen zur Natur politischer Legitimität, die auch Rückschlüsse auf andere Länder erlauben. Die Rechtsanthropologin Judith Beyer erklärte am Donnerstagmorgen zum Beispiel auf Twitter:Nie wollte ich mich mehr mit Aktivismus in Kirgistan befassen als jetzt. Wahrscheinlich das einzige Land in der Welt mit aktuell drei Premierministern, und keiner weiß, welcher ‚legal‘ ist. Dieses Land zeigt uns, dass ‚schwach‘, ‚stark‘, ‚formell‘, ‚informell‘… nichts als Label sind.

Von Kirgistan kann man viel lernen, wenn man über sein vermeintliches Anderssein hinwegschaut. Selbst die oft angeprangerte Schwäche des kirgisischen Staats lässt sich zum Teil aus der neoliberalen „Schocktherapie“ der 1990er heraus erklären und der „Optimierung“ staatlicher Dienstleistungen. Die seither verfolgte politische Linie hat zwar einerseits die Entstehung einer oft gelobten Zivilgesellschaft mitermöglicht, aber auch zu der katastrophalen Reduzierung öffentlicher Sektoren wie der Bildung und dem Gesundheitswesen geführt.

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Zeitweise leistete der Staat diese Woche noch nicht einmal die Funktion der Sicherheit, eine Lücke, die wieder von einfachen BürgerInnen gefüllt wurde. „Das Land der Freiwilligen und des Nachbarschaftsschutz. Alles selbst. Hungernden während der Pandemie helfen: wir selbst. Kranke retten: wir selbst. Gesetze durchsetzen: wir selbst […]“, beklagt die Journalistin Aidai Irgebajewa auf Facebook. Auch mit der Verlagerung öffentlicher Dienste in private Hände – ob nun Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen – liegt Kirgistan ganz vorn im weltweiten Trend.    

Was hat das mit uns zu tun?  

Schließlich sollten wir nicht übersehen, dass selbst vermeintlich „lokale“ Probleme wie die Veruntreuung öffentlicher Gelder und Korruption sich in globalen Maßstäben abspielen. In dem Sinne schrieben die Forscher John Heathershaw und Alexander Cooley in ihrem Buch „Diktatoren ohne Grenzen“ von „globalem Autoritarismus“. Die Gelder, die in Kirgistan veruntreut werden, landen nicht selten auf westlichen Konten. Im Februar figurierte Kirgistan zum Beispiel in einem Bericht der Weltbank, der zeigte, wie Geldflüsse zu Steuerparadiesen nach der Auszahlung von Hilfsgeldern plötzlich ansteigen.

Lest auch bei Novastan: Korruption, Geldwäsche und ein Mord: schwerfällige Ermittlungen zu Skandal in Kirgistan

Die Protestbewegung, die auf die Wahl am Sonntag folgte, hängt mit einer Welle von Antikorruptionsprotesten zusammen. Ende 2019 erschien eine internationale journalistische Recherche dazu, wie in Kirgistan über ein Schmuggelnetzwerk mindestens 700 Million US-Dollar außer Landes geschafft wurden. Die daraus entstandene Protestbewegung trug auch zu einer Strukturierung der politischen Opposition bei. Mindestens zwei Parteien – „Reforma“ und „Tschong Kasat“ – sind als unmittelbare Reaktionen gegen die organisierte Korruption entstanden. Eine der Hauptfiguren des Korruptionsskandals, der ehemalige Zollbeamte Raimbek Matraimow, war seinerseits mit der Partei „Mekenim Kyrgyzstan“ an der Wahl beteiligt.  

Im Laufe des Jahres zeigten Folgerecherchen des Journalistenverbundes, dass ein Teil des Schmiergeldes, das ins Ausland geschafft wurde, auch in Deutschland gelandet ist. So stecken Gelder, die eigentlich der kirgisischen Öffentlichkeit gehören sollten, mitunter in einem verlassenen Haus in Augsburg und in einem Firmensitz in München.

Florian Coppenrath
Novastan.org

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