Jedes Jahr gibt es in Kirgistan 20 bis 30 Opfer von Femiziden, doch der Staat erkennt deren Existenz auf gesetzlicher Ebene nicht an. Von 2010 bis 2023 wurden 1.109 Frauen ermordet, ein Drittel davon waren Femizide.
Am 15. Februar 2024 reichten die Angehörigen der 19-jährigen Asel Zhanarbek eine Erklärung bei der Bezirkspolizeibehörde Issyk-Ata ein. An diesem Tag hatte sie ihr Haus in Kant verlassen und war verschwunden. Zuvor hatte sie ihrer Mutter eine Audionachricht geschickt, in der sie ihr mitteilte, dass sie sich umbringen würde und dass ihr Mann dafür verantwortlich sei. Ihre Leiche wurde am 18. März im Großer Tschui-Kanal (GTK) gefunden. Zuvor hatten sich Angehörige über die Untätigkeit der Polizei beschwert. Das Mädchen hatte zwei Monate zuvor geheiratet. Ihr Vater erzählte gegenüber 24.KG, dass seine Tochter in den Selbstmord getrieben worden sein könnte. Die Publikation berichtet auch, dass Asels Onkel an 15 Stellen in der Nähe des GTK Blutspuren gefunden und diese fotografiert habe. Die Ermittler:innen hätten jedoch keine Proben zur Untersuchung entnommen.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Das Jahr 2024 begann auch mit dem Tod der 23-jährigen Aikyz Kalmurza. Sie war taubstumm und hatte eine Behinderung der Gruppe 1. Das Paar geriet in Streit und der Mann erwürgte seine Frau vor den Augen ihrer dreijährigen Tochter. Nach Angaben der Strafverfolgungsbehörden ereignete sich der Mord am 2. Januar im Dorf Masaliev im Bezirk Kadamzhai in der Region Batken. Der örtliche Polizeibeamte Akylbek Amiraev sagte, dass ein Strafverfahren gemäß Artikel „Mord“ im Strafgesetzbuch der Kirgisischen Republik eröffnet worden sei. Angehörige der Verstorbenen berichteten Reporter:innen, dass sie bereits zuvor geschlagen worden und im Krankenhaus gelandet sei. Doch ihre Appelle an die Polizei waren wirkungslos geblieben – es waren keine Maßnahmen ergriffen worden.
Die Regionalpolizei Batken berichtete, dass seit Jahresbeginn im Dorf Andarak sieben Frauen versuchten, Selbstmord zu begehen. Fünf von ihnen starben.
Femizide in Kirgistan
Unter Femizid versteht man die Tötung einer Frau durch einen Mann aus Hass auf Frauen, Geschlechterdiskriminierung und/oder staatlich sanktionierter geschlechtsspezifischer Gewalt. Die überwiegende Mehrheit der Morde an Frauen in Kirgistan wurde von Männern begangen – durchschnittlich acht von zehn Morden.
In drei von vier Fällen kannte die ermordete Frau ihren Mörder (Partner, Verwandten oder Freund), und die Hauptgründe waren: „sie störte das Fernsehen“, „kochte Essen langsam“, Eifersucht, Familienbudget, Heiratsverweigerung, Verweigerung des Geschlechtsverkehrs. Die Opfer von Femiziden wurden mit besonderer Grausamkeit, Brutalität und Aggression getötet. Bei 2/3 der Femizide handelte es sich um Mehrfachverletzungen, mehrere Stichwunden und Strangulation. In 70 von 100 Fällen von Frauenmorden entsorgte der Mörder die Leiche, um das Verbrechen durch Verbrennen oder Zerstückeln zu vertuschen.
2017 wurden Leitlinien für Richter:innen entwickelt, die über Fälle von Tötung und schwerer Gesundheitsschädigung mit Todesfolge entscheiden. In diesem Dokument werden Femizide nicht thematisiert. Im Jahr 2019 erschien Artikel 135 des Strafgesetzbuches der Kirgisischen Republik „Todesursache durch Fahrlässigkeit“, wonach Fälle registriert werden, in denen es sich bei der Verstorbenen um eine Frau handelt.
Kirgistan muss die Existenz von Femiziden auf gesetzlicher Ebene anerkennen
Ende September 2023 wurde die 36-jährige Asel Nogoibaeva Opfer von Gewalt. Sie entkam zwar dem Tod durch ihren Ex-Mann,doch sie wurde grausam verstümmelt – ihr Mann hatte ihr Nase und Ohren abgeschnitten. Der jüngste Sohn, der der einzige Zeuge der brutalen Misshandlung seiner Mutter wurde, kann nicht sprechen. Asels Berufung wurde erst stattgegeben, nachdem der Fall in den Medien bekannt wurde. Am 26. Januar verurteilte das Bezirksgericht Sokuluk Azamat Estebesov dann zu 20 Jahren Gefängnis. Der Gerichtsentscheidung zufolge muss der Angeklagte seiner Ex-Frau Asel 2 Millionen Soms (22,34 Tausend US-Dollar) zahlen. Asels Anwält:innen und Angehörige fordern eine Bestrafung des Richters, der den Verbrecher zuvor unter Bewährung freigelassen hatte. Sie fordern außerdem, dass die Generalstaatsanwaltschaft unverzüglich eine Untersuchung wegen Fahrlässigkeit seitens der Strafverfolgungsbehörden einleitet. Wie sich herausstellte, hatte Asel allein im letzten Jahr fünf Schutzanordnungen gegen ihren Ex-Mann erlassen. Aber keine davon war umgesetzt worden: Der Mann war weiterhin zu ihr nach Hause gekommen, hatte sie geschlagen und vergewaltigt. Die Polizei hatte nicht auf ihre Beschwerden reagiert.
Ein weiterer Fall ereignete sich im Winter 2023 als eine Mutter und ihre beiden Kinder brutal ermordet wurden. Die Frau wurde geschlagen und aus dem Fenster geworfen, die Kinder wurden erstochen und erdrosselt. Der Mörder arbeitete zuvor im Staatssicherheitsdienst des Staatskomitees für nationale Sicherheit und nahm an Parlamentswahlen teil.
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Einer der schlimmsten Mordfälle ereignete sich im Jahr 2018. Die 19-jährige Burulai wurde von dem Mann, der sie geraubt hatte und der sie heiraten wollte, erstochen. Nach der Entführung kontaktierten Burulais Eltern die Polizei, der Täter wurde festgenommen und zur Polizei gebracht. Der Entführer und Burulai wurden in eine Abteilung des Innenministeriums gebracht und aus irgendeinem Grund dort allein gelassen. Das Mädchen wurde von ihrem Entführer direkt auf der Polizeistation getötet. Das Gericht verurteilte den Entführer Burulais zu 20 Jahren Haft in einem Hochsicherheitstrakt und beschlagnahmte sein Eigentum. Auch die Abteilungsleitung des Innenministeriums, in der Burulai ermordet wurde, wurde entlassen.
Im Jahr 2021 wurde die 27-jährige Aizada Kanatbekova ein ebenfalls Opfer der Tradition des Brautdiebstahls. Anfang April, am frühen Morgen, zeichnete eine Überwachungskamera der Hauptstadt Bischkek auf, wie das Mädchen in ein Auto gezwungen und weggebracht wurde. Die Polizei, an die sich Aizadas Verwandte sofort wandten, weigerte sich, die Aussage aufzunehmen. Einer der Mitarbeiter:innen soll sogar unpassend gescherzt haben: „Warum machen Sie Lärm? Bereiten Sie sich auf die Hochzeit vor“. Zwei Tage später wurde das Mädchen in der Nähe der Hauptstadt gefunden. Der Entführer hatte sie vergewaltigt, anschließend mit einem T-Shirt gewürgt und mehrmals auf sie eingestochen. Danach beging er Selbstmord. Nach dem Vorfall forderten die Bürger:innen, dass alle an diesem Verbrechen Beteiligten sowie diejenigen, deren Untätigkeit zum Tod von Kanatbekova führte, vor Gericht gestellt werden. In Bischkek und Osch fanden Proteste „Против насилия“ (Gegen Gewalt, Anm. der Redaktion) statt, bei denen der Rücktritt des Innenministers und Reformen in den Strafverfolgungsbehörden gefordert wurden. Die Ermittlungen zum Mordfall wurden aufgrund des Todes des Entführers eingestellt. Die entlassenen Polizist:innen kehrten nach einiger Zeit wieder in den Dienst zurück und wurden keine Reformen durchgeführt.
Die Tradition der Ehe und Stereotypen
Diese Frauen gehören zu den tausenden Mädchen in Kirgistan, die jedes Jahr entführt werden, um sie zur Heirat (Ala-Katschuu) zu zwingen. Die Menschenrechtsorganisation Freedom House schätzt die Zahl solcher Entführungen jährlich auf 8.000 bis 12.000. Jede fünfte Familie in Kirgistan ist das Ergebnis von Ala-Katschuu. Ein gestohlenes Mädchen aus dem Haus des Bräutigams zu holen, gilt als Schande, weshalb viele Eltern ihre Töchter bei Männern zurücklassen, die ihnen unbekannt sind. Für solche Verbrechen gibt es im Land strafrechtliche Sanktionen. In den letzten Jahren häuften sich nach Angaben von Menschenrechtsaktivist:innen die Anrufe bei der Polizei.
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Einmal verheiratet, ertragen Frauen Gewalt und Demütigung durch ihre Ehemänner, weil die Gesellschaft geschiedene Frauen verurteilt. Nach Angaben des Nationalen Statistikausschusses hat sich in Kirgistan die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in den letzten sechs Jahren fast verdreifacht, 96 % davon sind Frauen. In den ersten acht Monaten des Jahres 2023 wurden 8.512 Fälle von Gewalt in der Familie registriert. Nur 2 % gehen vor Gericht. Dies zeigt auch, wie sehr das Justizsystem und die Gesetzgebung des Landes dazu beitragen, dass Femizide stattfinden, und dass die Untätigkeit der Polizei die Situation nur verschlimmert.
„Das Problem liegt in den Traditionen, die sich in den Strafverfolgungsbehörden in Bezug auf Fälle wie Ala-Katschuu, Gewalt und Mord an Frauen entwickelt haben,“ so Nurbek Toktakunov, Menschenrechtsaktivist und Anwalt der Familie der ermordeten Aizada Kanatbekova. „Es ist notwendig, bestimmte Traditionen ins Strafverfolgungssystem zu integrieren und Fahrlässigkeit zur Rechenschaft zu ziehen. Diejenigen, die nach den Morden an Burulai und Aizada entlassen wurden, wurden schnell wieder eingestellt […] Korruption als Möglichkeit, Strafen zu vermeiden, das Fehlen von Mechanismen zur Verhinderung häuslicher Gewalt, das Vorhandensein von Geschlechterstereotypen und diskriminierenden Einstellungen gegenüber Frauen – all dies macht ein sofortiges Eingreifen der staatlichen Behörden und der Strafverfolgungsbehörden erforderlich.“
Aigerim Turgunbaeva für Cabar
Aus dem Russischen von Irina Radu
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