Nach monatelanger Wartezeit hat Washington seine Zentralasienstrategie für die Jahre 2019-2025 veröffentlicht. Der Text, der sechs Prioritäten aufführt, wurde von Zentralasien-ExpertInnen schnell wegen seiner Ähnlichkeit mit der vorhergehenden Strategie aus dem Jahr 2015 kritisiert. Zwar ist das Dokument immer noch vom Rückzug aus dem Nachbarland Afghanistan geprägt, der Grund für Amerikas ursprüngliches Interesse an der Region. Dennoch kann man ein neues Interesse an Zentralasien zwischen den Zeilen erkennen. Weil sich das Verhältnis Amerikas zu China und Russland stetig verschlechtert, liegt Amerikas Interesse nun darin, den Einfluss Chinas und Russlands im eurasischen Kontinent einzudämmen.
Unsere KollegInnen von Novastan France haben in ihrer kostenpflichtigen Rubrik décryptage (dt.: Entschlüsselung) eine Analyse vorgenommen, die wir mit freundlicher Genehmigung übersetzen.
Der Text war lange erwartet worden. Am 5. Februar haben die Vereinigten Staaten ihr diplomatisches Programm für Zentralasien in den Jahren 2019-2025 vorgestellt. Das Dokument mit dem Titel „Advancing Sovereignity and Economic Prosperity“ (dt.: Förderung von Souveränität und wirtschaftlichem Wachstum) nennt die Prioritäten der US-Regierung in der Region. Die sechs aufgeführten Prioritäten umfassen unter anderem die Unterstützung der Unabhängigkeit und Souveränität der Staaten der Region, die Achtung der Menschenrechte, den Kampf gegen den Terrorismus und Investitionen der Vereinigten Staaten in die zentralasiatischen Volkswirtschaften.
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Schnell wurde der Text von allen Seiten wegen seiner mangelnden Originalität kritisiert. Bereits im Jahr 2015 bekundeten die Vereinigten Staaten ihren Willen, Souveränität und Unabhängigkeit in einem „sicheren und stabilen“ Zentralasien zu fördern. Aufgrund der geringen Veränderungen erscheint die neue Zentralasienstrategie dem chinesischen Staatsmedium CGTN wie „Essig in einer alten Flasche“ und dem usbekischen Nachrichtenportal Podrobno als eine „Broschüre“. Aus der Sicht des amerikanischen Medienportals Eurasianet lässt sie sich als „ausweichend“ charakterisieren.
Scharfe Kritik aus Russland
Auch Russland kritisierte die amerikanische Strategie scharf. „Unsere amerikanischen Kollegen glauben leider, dass sie alles tun können, was sie wollen, und gleichzeitig ihre Gesprächspartner dazu bringen, sich von Russland und wahrscheinlich auch von China abzuwenden“, sagte Außenminister Sergej Lawrow in einem Interview mit der russischen Agentur TASS, das von Podrobno ausschnittsweise wiedergegeben wurde. “Mit solchen Methoden erlangt man keine Autorität. Autorität erlangt man durch ein gutes Beispiel, durch Überzeugung und nicht durch grobe Erpressung und Sanktionen“, fuhr Lawrow fort.
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Auch die russischen Medien haben sich mit diesem Thema beschäftigt. „Mike Pompeos Gespräche haben gezeigt: Nach der Ukraine versuchen die Vereinigten Staaten, jene ehemaligen Sowjetrepubliken von Russland zu lösen, mit denen es Integrationsbestrebungen gibt und die zur Zone seiner strategischen Interessen gehören. Instrumente für die Umsetzung des neuen Kurses sollten eine wesentliche Belebung der politischen und geschäftlichen Zusammenarbeit mit den GUS-Staaten, der Zustrom von US-Investitionen in die Region und die Schaffung alternativer Sicherheitsstrukturen in der Nähe der russischen Grenzen sein“, schreibt die russische Tageszeitung Kommersant.
Eine Ansage an China und Russland?
Die Tatsache, dass Russland so heftig auf einen Text reagiert, der wenig konkret ist, sollte zum Nachdenken bringen. Wie viele BeobachterInnen feststellen, liegt der deutlichste Punkt des amerikanischen Programms in der Souveränität und Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten. Russland und China werden von Washington nicht namentlich genannt, aber ihr Schatten liegt auf dem Dokument. Seit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Länder im Jahre 1991 haben Moskau und Peking ihren Einfluss in der Region ständig verstärkt. Während dies in Bezug auf Russland vor allem Sicherheit und Kohlenwasserstoffe betrifft, sind es in Bezug auf China vor allem die Wirtschaft und die Neue Seidenstraße.
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Während der Präsentation der neuen Zentralasienstrategie wurde Lisa Curtis, im nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten für Süd- und Zentralasien verantwortlich, ziemlich deutlich. „Russland hatte in dieser Region schon immer einen enormen Einfluss. Wir erwarten nicht, dass sich das ändert, und wollen uns nicht mit ihm messen. […] Wir wollen jedoch in dieser Region vertreten sein, eine alternative zu diesen Ländern anbieten“, sagte Curtis.
Aber wie Eurasianet feststellt, ist dieser Wettbewerb in erster Linie Fassade. Washington habe „ehrgeizige Ziele, aber begrenzte Mittel“. Im Text gehen die Vereinigten Staaten sogar so weit, die 50 Milliarden US-Dollar, die von der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in der Region seit der Unabhängigkeit an Darlehen vergeben wurden, sich selbst zuzuschreiben.
Einige Neuerungen
Wie Podrobno feststellt, ist das Dokument zwar „nicht revolutionär, hat aber wichtige Nuancen“. Dazu gehört Afghanistan, das in drei der sechs Prioritäten der Vereinigten Staaten genannt wird. Tatsächlich verweisen neben dem „Kampf gegen den Terror“ die zwei Prioritäten „Stabilität in Afghanistan“ und „Konnektivität zwischen Zentralasien und Afghanistan“ sogar direkt auf den südlichen Nachbarn. Das Land, das in der Einleitung des Dokuments nicht einmal erwähnt wird, nimmt in der amerikanischen Strategie tatsächlich einen wichtigen Platz ein.
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Wie The Diplomat feststellte, ist das Einordnen Afghanistans als zentralasiatisches Land für die USA neu. Zuvor tendierten die amerikanischen GesetzgeberInnen eher dazu, Afghanistan von Zentralasien zu trennen, insbesondere weil der usbekische Präsident Islom Karimov (1989-2016) „überhaupt nicht bereit war, sich mit Afghanistan zu engagieren“, wie Alice Wells, die stellvertretende Referatsleiterin für Süd- und Zentralasien, es formulierte.
Trotzdem bleibt Afghanistan ein Sonderfall für die Vereinigten Staaten. „Afghanistan wird zwar immer ein Faktor sein, solange der Konflikt anhält, aber es ist nicht der einzige, der unsere strategischen Interessen in Zentralasien bestimmt“, sagte der US-Botschafter Daniel Rosenblum in Usbekistan laut dem usbekischen Nachrichtenportal Gazeta.uz.
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Die Vereinigten Staaten betrachten Zentralasien nun als eine wichtige Region, eine weitere Nuance des Dokuments im Vergleich zu 2015. Dennoch müssen den Worten Taten folgen. Ebenso wie die Europäische Union, die Ihre Zentralasienstrategie „erneuert“ hat, indem sie fast genau die gleichen Vorschläge unterbreitet hat wie zuvor, müssen sich die Vereinigten Staaten energischer zeigen, wenn der Westen wirklich mit Moskau und Peking konkurrieren will. Die Frage ist nur, ob er das wirklich will.
Etienne Combier, Chefredakteur von Novastan France
Aus dem Französischen von Robin Roth
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